| # taz.de -- Sozialpolitische Zeitenwende: Frontalangriff auf den Wohlfahrtsstaat | |
| > Die Tage der „sozialen Marktwirtschaft“ werden nach der Wahl endgültig | |
| > gezählt sein. Eine modifizierte Schuldenbremse würde das Problem nicht | |
| > lösen. | |
| Bild: Der Wohlfahrtsstaat wird abgebaut, die Verelendung nimmt massiv zu – ab… | |
| Bevor der Neoliberalismus in (West-)Deutschland seinen Siegeszug antrat, | |
| waren die Bürger/innen stolz auf „ihren“ Sozialstaat. Da lag vor keinem | |
| Supermarkt ein Bettler, gab es auch in Großstädten genügend [1][bezahlbare | |
| Wohnungen], musste man nirgends für den Toilettenbesuch zahlen. Und es war | |
| auch überflüssig, ständig die Tarife von Telefonanbietern, | |
| Kfz-Versicherungen und Energiekonzernen miteinander zu vergleichen, um als | |
| Normalverdiener/in über den Monat zu kommen. | |
| Heute lässt sich hierzulande ein sozialer Klimawandel beobachten, der weite | |
| Teile unserer Gesellschaft erfasst hat. An die Stelle von Solidarität tritt | |
| die soziale Ausgrenzung von Unterprivilegierten. Zuerst wurde suggeriert, | |
| dass es den Armen, vor allem Menschen im Bürgergeldbezug und [2][auf der | |
| Flucht, zu gut gehe, weshalb ihnen die Leistungen gekürzt werden müssten]. | |
| Dann, dass es den Reichen immer schlechter gehe, weshalb die Unternehmer | |
| stärker mit Subventionen oder Steuervergünstigungen unterstützt werden | |
| müssten. Zwischen den etablierten Parteien ist kaum mehr strittig, ob dies | |
| geschehen soll, sondern nur noch, wie es am besten zu bewerkstelligen sei. | |
| Dieses Klima dürfte es der künftigen Bundesregierung erleichtern, unsoziale | |
| Maßnahmen durchzusetzen. Zu befürchten ist ein Frontalangriff auf den | |
| Wohlfahrtsstaat, wie ihn zuletzt die rot-grüne Koalition kurz nach dem | |
| Jahrtausendwechsel unternahm. Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz möchte | |
| „mehr Kapitalismus wagen“, der FDP-Vorsitzende Christian Lindner sogar | |
| „[3][ein klein bisschen mehr Milei] oder Musk“. Solche Äußerungen deuten | |
| darauf hin, dass die Tage einer „sozialen Marktwirtschaft“ nach der | |
| Bundestagswahl endgültig gezählt sind. | |
| Dabei wäre das Gegenteil nötig: Durch mehr Druck nach oben müssen die | |
| Finanzstärksten gezwungen werden, mehr Verantwortung zu übernehmen. | |
| Paradoxerweise haben sich während der jüngsten Krisen die | |
| Lebenshaltungskosten gerade der armen Bevölkerungsschichten übermäßig | |
| erhöht. Das liegt nicht allein daran, dass sie einen besonders großen Teil | |
| ihres Einkommens für Grundnahrungsmittel, Heizenergie und Wohnungsmiete | |
| ausgeben (müssen), sondern auch daran, dass vor allem „Bückware“, also zum | |
| Beispiel No-Name-Produkte und Eigenmarken der großen Handelsketten, | |
| fulminante Preissprünge gemacht haben. | |
| ## „Scham muss die Seite wechseln“ | |
| [4][Armut ist mehr, als wenig Geld zu haben]. Sie bedeutet, in fast allen | |
| Lebensbereichen diskriminiert oder systematisch benachteiligt zu werden. | |
| Die damit verbundene soziale Ausgrenzung bedeutet selbst für junge Menschen | |
| ein größeres Risiko der Einsamkeit und der Isolation. So wie die mehrfach | |
| vergewaltigte Französin [5][Gisèle Pelicot] in aller Welt für ihren Satz | |
| „Die Scham muss die Seite wechseln“ gelobt wurde, so müsste es auch im | |
| Hinblick auf das wachsende Tafelelend in unserem wohlhabenden, wenn nicht | |
| reichen Land heißen: „Die Scham muss die Seite wechseln.“ Sehr viele | |
| Menschen, die Anspruch auf Sozialleistungen haben, nehmen ihn nicht wahr, | |
| weil sie sich schämen. | |
| Viel eher schämen müssten sich aber rund 250 Milliardäre und | |
| Multimilliardäre, die es in Deutschland gibt, zahlen sie doch im | |
| Unterschied zu vielen Normalverdienenden einen verschwindend geringen Teil | |
| ihres Einkommens und vor allem ihres Riesenvermögens an Steuern. Die fünf | |
| reichsten Familien unseres Landes besitzen ein Privatvermögen von zusammen | |
| 250 Milliarden Euro, das ist genauso viel wie das der ärmeren Hälfte der | |
| Bevölkerung, also von mehr als 40 Millionen Menschen. Obwohl ihr | |
| wohltätiges Engagement diese Unwucht keineswegs ausgleicht, werden | |
| fälschlicherweise nicht Reiche, sondern Arme als „sozial Schwache“ | |
| bezeichnet. Sprache vernebelt an dieser Stelle die gesellschaftliche | |
| Realität. | |
| ## Schuldenbremse ist Nebenschauplatz | |
| Almosen, Spenden und Stiftungen, die häufig genug ein Steuersparmodell für | |
| Hochvermögende sind, lösen das Problem nicht, sondern kaschieren es nur. | |
| Die wachsende Ungleichheit ist das Kardinalproblem unserer Gesellschaft. | |
| Sie ist Gift für den sozialen Zusammenhalt und eine Gefahr für die | |
| Demokratie, verschärft ökonomische Krisentendenzen und verhindert | |
| ökologische Nachhaltigkeit. Doch statt über die Verteilungsfrage wurde im | |
| Bundestagswahlkampf bisher hauptsächlich über [6][die „Schuldenbremse“] im | |
| Grundgesetz diskutiert. Dabei handelt es sich eher um einen politischen | |
| Nebenschauplatz, der progressive Kräfte von dem eigentlich notwendigen | |
| Kampf für die Um- beziehungsweise Rückverteilung des Reichtums abhält, wenn | |
| nicht um ein bewusstes Ablenkungsmanöver. | |
| Denn eine Lockerung dieser sich vom Staat selbst auferlegten Kreditsperre, | |
| deren Einführung übrigens kein Manager für sein Unternehmen zugelassen | |
| hätte, würde das Problem fehlender Staatsfinanzen nicht lösen, sondern wäre | |
| vermutlich das Einfallstor für weitere Forderungen nach mehr | |
| Rüstungsausgaben, die das soziale Sicherungssystem noch mehr unter Druck | |
| setzen würden. Ärmere Bevölkerungsschichten müssen im Rahmen von Merz’ | |
| „Agenda 2030“, seiner „Neuen Grundsicherung“ oder einer „liberalen | |
| Wachstumsagenda 2030“ der FDP die laufenden Zinsen für Kredite des Bundes | |
| und deren spätere Rückzahlung vermutlich durch Leistungskürzungen im | |
| Sozialbereich finanzieren. Umgekehrt würden Reiche, die dem Staat viel eher | |
| und mehr Geld leihen können, durch Zinszahlungen der öffentlichen Hand an | |
| sie noch wohlhabender. | |
| Soziale Ungleichheit sollte ein zentrales Thema des Bundestagswahlkampfes | |
| sein. Auf die Tagesordnung gehören sowohl eine stärkere Anhebung der | |
| Regelbedarfe, des Bürgergeldes und der Grundleistungen für | |
| Asylbewerber/innen wie auch eine stärkere Besteuerung von Hochvermögenden | |
| und Spitzenverdienern. Kita, Schule, Ganztagsbetreuung, Mittagessen und | |
| Mobilität müssen kostenfrei, Bildung, die soziale Teilhabe und die | |
| kulturellen Angebote selbst für alle Familien bezahlbar werden. | |
| 30 Dec 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Christoph Butterwegge | |
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