# taz.de -- Soziologe über Niedergang der Kirchen: „Vielleicht gibt es Gott … | |
> Detlef Pollack ist Religionssoziologe. Den Niedergang der Kirchen | |
> betrachtet er mit Wehmut. Dabei ist er selbst nicht gläubig. | |
Bild: Bei seinen Kindern ist er mit der Glaubenserziehung „total gescheitert�… | |
Er war unser Gast im taz-Kirchentagsstudio im Juni in Nürnberg, wir | |
verabredeten uns damals für ein weiteres Gespräch in der Adventszeit: | |
Detlef Pollack, aufgewachsen in der DDR, ist Religions- und | |
Kultursoziologe, er war Professor in einem [1][Exzellenzcluster an der | |
Universität Münster]. Wir treffen uns in der taz-Kantine in Berlin, er | |
kommt mit dem Fahrrad, wir trinken Tee und Kaffee. | |
wochentaz: Herr Pollack, wir sind in der Adventszeit, bald ist Weihnachten | |
– und Sie diagnostizieren den Niedergang der Religion. Leben wir in einem | |
gottlosen Land? | |
Detlef Pollack: Jeder, der halbwegs in unserem Alter ist, erlebt es, die | |
Zahlen, die wir kennen, bestätigen es: Der Glaube an Gott, den | |
christlichen, ist in den letzten 60, 70 Jahren dramatisch zurückgegangen. | |
An ein höheres Wesen … | |
… glauben mehr Menschen als an einen Gott, wie er in der Bibel verkündet | |
wird. | |
War denn der Glaube früher wirklich stärker? | |
Das Christentum hat über Hunderte von Jahren versucht, den Glauben zu | |
internalisieren – mit Gebetsbüchern, mit Ritualen, mit Kirchengeläut, mit | |
Schuldbekenntnissen, mit Buße und Sühne und so vielem mehr. Die biblischen | |
Geschichten haben die Menschen in ihrem Herzen ergriffen. | |
Kurios: Eine Ergriffenheit unter Zwang? | |
Auch wenn zweifellos Druck mit im Spiel war, wirkten die biblischen | |
Botschaften. Manche Theologen sagen, früher mussten, heute können die | |
Menschen glauben. Ich würde das nicht in so einen krassen Gegensatz packen. | |
In Umfragen geben viele an, sie wähnten eine Kraft über sich, die sie | |
stärkt. Können Sie mit diesem Gedanken etwas anfangen? | |
Sehr viel. Keine Religion lässt sich ohne diese Erwartung verstehen: dass | |
eine höhere Macht dem Menschen eine Kraft gibt, mit deren Hilfe er mit | |
schweren Lebenssituationen fertig wird, über sich hinauswächst, Hoffnung | |
fasst. Religion ist kein philosophisches Lehrgebäude, an dessen Inhalte man | |
glauben muss, sondern hat etwas zu tun mit den Grundfragen unseres Lebens. | |
Mit unserem Streben nach einem erfüllten Leben, nach Glück, auch mit | |
unserer Fehlbarkeit und dass wir unser Leben nicht in der Hand haben. | |
Das klingt wie eine Skizze der Sehnsucht. | |
Ja, so ließe sich das formulieren. Denn jeder Mensch sehnt, jeder Mensch | |
will als jemand gesehen werden, der einzigartig ist, möchte geliebt sein. | |
Religionen liefern diesen Stoff. | |
Nichtreligiöse sagen: Der Sinn des Lebens ist nur das Leben selbst. | |
Viele, sehr viele Menschen hegen trotzdem die Hoffnung, dass der Tod nicht | |
das letzte Wort sein möge. Wir alle können uns, wenn überhaupt, schwer | |
damit abfinden, dass nach dem Sterben das Nichts sein könnte. | |
Glauben Sie an Gott? | |
Nein. | |
Und weshalb studierten Sie, noch Bürger der DDR, Theologie? | |
Das war für mich die Möglichkeit schlechthin, aus den indoktrinierenden | |
Ideen des realen Sozialismus auszusteigen. Der Marxismus hat mich als | |
Geisteshaltung nie überzeugt, schon gar nicht der, der in der DDR gepredigt | |
wurde. Dass ich mit meinem Studium der Theologie die große Tradition des | |
abendländischen Denkens kennenlernen durfte, war ein intellektuelles Glück | |
– mit dem ich kaum gerechnet hatte. | |
Was sprach dagegen, dass auch Sie zum Glauben finden? | |
So vieles. Zum Beispiel: Warum sollte gerade hier, wo ich geboren wurde, | |
die Wahrheit erschienen sein? In Indien hätte ich den christlichen Gott | |
wahrscheinlich gar nicht kennengelernt. Ich würde heute sagen, dass ich | |
keine Erfahrungen machen konnte mit Gott. Ich habe auf sie gewartet, aber | |
sie stellten sich nicht ein. | |
Aber Sie sind doch der christlichen Kultur ziemlich nah, oder? | |
Das ist ja aber was anderes. Wenn ich den Thomanerchor in Leipzig höre, | |
wenn die Knaben die Passionen von Johann Sebastian Bach singen, dann bin | |
ich ergriffen. So war es immer und so ist es noch. Auch wie hoheitsvoll | |
Jesus in den Passionen dargestellt wird, wie er den Spott und Hohn seiner | |
Peiniger wortlos erträgt, oder wenn Pilatus, der ihn verurteilen wird, | |
ruft: Seht, welch ein Mensch! Das hat mich bewegt, aber zum Glauben geführt | |
hat es mich nicht. | |
Ihre Familie … | |
… war auch nicht christlich. Die Musik war wichtig in unserer Familie, aber | |
nicht der Glaube. | |
Sie sind mit einer sehr christlich orientierten Frau verheiratet. Beten Sie | |
bei Tisch? | |
Nie haben wir gebetet, aber wenn die Kinder aus meiner ersten Ehe da sind, | |
dann haben wir so einen Spruch, mit dem wir das Essen beginnen. Die Kinder | |
sind auch nicht gläubig, ich bin mit meiner Glaubenserziehung total | |
gescheitert. Ich habe vieles probiert mit ihnen, habe die Bibel mit ihnen | |
gelesen, ihnen erklärt, was es bedeutet, wenn Jesus Petrus auffordert, | |
übers Wasser zu gehen, ich wollte ihr Einverständnis, sich taufen zu | |
lassen. | |
Und? | |
Eine Zeit lang sah es so aus, als ob sie sich darauf einlassen, aber dann | |
sagten sie: Man weiß es nicht. Darauf haben wir uns dann geeinigt: Man weiß | |
es nicht. Ich wollte so die Tür offen halten für Gott. Man kann es halt | |
nicht wissen. Vielleicht gibt es ihn ja doch. | |
Die Säkularisierung der Gesellschaft ist schnell fortgeschritten, bis in | |
die privaten Lebensverhältnisse hinein. Noch in den sechziger Jahren schien | |
alles für die beiden Amtskirchen in trockenen Tüchern. | |
Damals lagen die Kirchenaustrittsraten auf einem historisch niedrigen | |
Stand. Die Kirchen waren eingebunden in den antitotalitären Grundkonsens | |
der ökonomisch wachsenden und sich demokratisch stabilisierenden | |
Bundesrepublik. Ihr Wort besaß politische Relevanz. In weiten Teilen war | |
das soziale Leben christlich durchtränkt. | |
Und was hat sich geändert? | |
Als Soziologe lautet mein Befund wie auch der vieler Kollegen: Es kam zu | |
einer funktionalen Differenzierung der Lebensbereiche. Es wuchs der | |
Massenwohlstand, die Öffentlichkeit politisierte sich, die staatliche | |
Herrschaft griff nicht mehr auf christliche Formeln zurück, immer mehr Ehen | |
wurden ohne den Segen Gottes geschlossen. Man lernte: Es gibt | |
Lebensbereiche, in denen es nicht auf Religion ankommt. Man kann zwar | |
persönlich am Glauben festhalten, aber die Gesellschaft kommt auch ohne ihn | |
aus. | |
Die Menschen … | |
… lernten, dass sie ihr Leben selbst gestalten können, dass sie nicht mehr | |
von einem Gott abhängig sind, der das letzte Wort spricht. Gott und | |
Individuum gerieten in ein Spannungsverhältnis, das war neu. | |
So begann ja in den späten Sechzigern die Zeit der Selbstverwirklichung. | |
Könnte man so sagen, ja. Man stellte fest: Es bedarf des Glaubens nicht. | |
Mit Freunden zu sprechen, einander Kraft zu geben, ins Theater zu gehen, in | |
ein Konzert, zu einer Lesung: Das alles ist auch ohne Religion möglich, ja, | |
es macht vielleicht sogar mehr Spaß als im Gottesdienst zu sitzen und sich | |
eine Predigt anzuhören. Die vielen Verwirklichungsmöglichkeiten, die unsere | |
Gesellschaft in der Freizeit, aber auch im Beruf bietet, ziehen von der | |
Konzentration auf das Wort Gottes ab. | |
Trotzdem glauben ja immerhin noch viele Menschen. | |
Ja, in Deutschland etwa die Hälfte der Menschen. 30 Prozent bekennen sich | |
zum Glauben an ein höheres Wesen, 20 Prozent zu einem Gott, wie er sich in | |
Jesus Christus zu erkennen gegeben hat. Aber dieser Glaube, selbst wo man | |
sich an ihn hält, durchdringt nicht mehr das ganze Leben, und zwar umso | |
weniger, je weniger konkret man sich Gott vorstellt. So ein höheres Wesen, | |
das man nicht genau beschreiben und mit dem man nicht kommunizieren kann, | |
hat auch nur wenig Einfluss auf die Art, wie man seine Kinder erzieht. Je | |
persönlicher der Gott, an den man glaubt, desto bedeutsamer ist er im | |
eigenen Leben, das zeigen empirische Untersuchungen. Immer mehr Menschen | |
aber fällt es schwer, sich Gott als Person vorzustellen. | |
Sie klingen melancholisch, wenn Sie über die Einbußen an allgemeiner | |
Religiosität sprechen. | |
Über mein Studium bin ich in die traditionsreiche Welt des Christentums | |
hineingelangt. Es ist eine schöne und große Welt. Aktuell spüre ich, wie | |
das Verständnis für diese Welt immer mehr abnimmt, wie stark schon die | |
Fähigkeit zurückgeht, sich sprachlich in dieser Welt zu bewegen. Es ist | |
bedrückend zu sehen, mit welcher Herzlosigkeit man teilweise auf dieses | |
Erbe schaut. | |
Dafür stehen Missbräuche, sexuelle oder die der Macht, im Mittelpunkt der | |
öffentlichen Erörterungen. | |
Darüber ist zu reden, ja, und darüber muss geredet werden. Aber Kirche geht | |
in den Missbrauchsfällen nicht auf. In ihr kann man lernen, auf neue Weise, | |
auf eine nicht alltägliche Weise auf das Leben zu schauen. Sie eröffnet | |
Horizonte, gibt Trost und Hoffnung, vermittelt einen Weg, auch mit den | |
Widrigkeiten des Lebens umgehen zu lernen, oder auch einfach einmal | |
loszulassen. Die Kirchen tragen einen reichen Schatz an Lebensweisheiten | |
und Lebenserfahrungen in sich. Sie sind mehr als Machtmissbrauch und | |
sexualisierte Gewalt, die ich damit nicht kleinreden will. | |
Nicht mal mehr die Hälfte der in Deutschland Lebenden ist Mitglied einer | |
großen Kirche. Ist dieser Prozess umkehrbar? | |
Das sehe ich nicht. Die Kirchen sind zwar, weil die Kirchensteuer an die | |
Einkommen gekoppelt ist, finanziell immer noch gut gepolstert, vieles wird | |
geleistet, in der Caritas, auch in der Bildungsarbeit. Aber wenn der Glaube | |
mehr und mehr zurückgeht und auch das soziale Umfeld schrumpft, in dem er | |
gedeihen kann, dann schreitet der Prozess der Entkirchlichung immer weiter | |
voran. Zwar langsam, aber unaufhaltsam. | |
Wo führt das hin? Wie sieht eine Gesellschaft ohne Kirche aus? | |
Eine Gesellschaft ohne Kirche ist ärmer. Es fehlt die katholische Messe mit | |
dem Einzug des Priesters im Ornat, mit Messdienern, Weihrauch und | |
rauschendem Orgelklang. Die schlichte Anmut eines Kirchenraums der | |
Reformierten. Die aufopferungsvolle Strenge der Diakonissen. Das Gebet im | |
stillen Kämmerlein. Und auch der erbarmungsvolle Blick auf unser armseliges | |
Leben. Das und noch viel mehr. | |
Bücher von Pilgerfahrten, etwa das von TV-Star Hape Kerkeling, sind | |
Bestseller. Spricht das nicht gegen Ihren Befund? | |
Natürlich ist eine Pilgerreise auch eine Geschichte auf den gläubigen | |
Pfaden. Zweifellos, bestimmte Praktiken lassen sich aus den religiösen | |
Kontexten lösen – bis hin zu Yogaübungen. Aber die Bedeutung dieser | |
Praktiken ändert sich dabei. Jetzt geht es um körperliche Kräftigung oder | |
um eine Wanderung der Seele nach innen oder um Abenteuer zu erleben. Die | |
große Tradition der Pilgerfahrten, mit denen man die Nähe zum Heiligen | |
suchte, um für seine Leiden Heilung zu finden, ist nicht mehr präsent. | |
Bald ist Weihnachten. In vielen muslimisch geprägten Familien gibt es auch | |
gewisse Adaptionen dieses Familienfestes, weil die Kinder auch | |
Geschenklisten schreiben. Auch sie feiern Weihnachten. | |
Das ist eine schöne Sache: Kinder zu beschenken. Aber Weihnachten in einem | |
christlichen Sinne meint, dass Gott Mensch geworden ist. Versteht das noch | |
einer? | |
Nicht erst neuerdings wird von Kindern Halloween gefeiert. Findet dieses | |
Ereignis Ihr Wohlwollen? | |
Auch wenn ich nicht gläubig bin, so bin ich doch Kirchenchrist. Und hier | |
bin ich ganz Protestant: Nein! Das ist heidnisch. Das ist bestimmt | |
wunderbar für Kinder, von Tür zu Tür zu gehen und Süßigkeiten zu erhalten. | |
Immerhin ist es konfessionsübergreifend. | |
Klar, es kommt als junge Tradition aus den USA, dort gibt es viele | |
Glaubensrichtungen, die gemeinsam leben. | |
Wie bei uns ja inzwischen auch. | |
Ich plädiere dennoch für die Feier des Reformationsfestes am 31. Oktober | |
oder für das Martinssingen am 11. November. | |
Das sind christliche Daten, die man nichtgläubigen oder nichtchristlich | |
glaubenden Menschen nur schwer vermitteln kann. | |
Es sind Gelegenheiten, sich der Traditionen zu erinnern, die unsere Kultur | |
geprägt haben – wichtig gerade bei Kindern. | |
Wie werden Sie Weihnachten verbringen? | |
Wir gehen immer in den Berliner Dom auf der Museumsinsel in Berlin-Mitte, | |
zusammen mit den ungläubigen Kindern. Die kommen dann einfach mit. Dann | |
singt der Domchor, dann hat man eine wunderbare Predigt, man hört die | |
Weihnachtsgeschichte, die man kennt… | |
… eine Tradition – das Immergleiche zu hören, nicht wahr? | |
Wann, wenn nicht bei diesem Gottesdienst zu Weihnachten? Das ist ein | |
wichtiger Punkt: diese Wiedererkennungseffekte; es beruhigt und | |
vergewissert einen, dass nicht alles aus den Fugen gerät. | |
Als Sie, schon lang nicht mehr jung, Ihre zweite Frau kennenlernten, mit | |
der Sie inzwischen verheiratet sind: War das nicht auch ein Flash, religiös | |
gesprochen – ein Moment der Offenbarung? | |
Da spreche ich nur für mich. Ja, ich hätte nichts dagegen, das so zu | |
bezeichnen. | |
Dass Ihnen das widerfahren ist? | |
Ich bin dankbar, ja. Es war wie ein Wunder. | |
17 Dec 2023 | |
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## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
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