# taz.de -- Zukunft der Kirchen: Was Kirchen sein könnten | |
> Die Zahl der Kirchenaustritte steigt. Wenn sich die Apparate nicht | |
> bewegen, werden Kirchen bedeutungslos. Das würde Löcher ins soziale Netz | |
> reißen. | |
Bild: Leere Kirchenbänke: 2022 dachte jedes vierte Kirchenmitglied über einen… | |
Es ist ein fester Termin im Leben von rund 50 Kindern zwischen 4 und 11 | |
Jahren. Jede Woche kommen sie zum Singen in einem Raum in einem Berliner | |
Hinterhof zusammen. Das Chorprojekt im Kiez ist ein Angebot der | |
evangelischen Kirche, offen für alle Kinder, ob getauft, evangelisch oder | |
konfessionslos. Das Mitmachen ist kostenlos, nach Auftritten gibt es ein | |
Mittagessen, Kuchen, Getränke, Geschenke zu besonderen Anlässen. | |
In dem Viertel wird die Schere zwischen Arm und Reich, zwischen Gewinner- | |
und Verliererfamilien immer sichtbarer. Für viele Kinder ist der Chor eine | |
Nachmittagsbeschäftigung, wenn die Eltern bei der Arbeit sind und sie sich | |
sonst selbst überlassen würden. | |
„Na hoffentlich wird da auch nur gesungen!“ Diesen Satz hören die | |
Gemeindemitarbeiter:innen und auch die Autorin dieses Textes, deren | |
Kind mitsingt, immer wieder. Was folgt, sind Erklärungen, Rechtfertigungen, | |
gepaart mit Verständnis für diese Aussage. Denn: Die kleine Bemerkung zeigt | |
exemplarisch, wie groß das Misstrauen gegenüber den christlichen Kirchen | |
ist. | |
Die im Laufe der vergangenen Jahre aufgedeckten Taten sexualisierter Gewalt | |
an Kindern und Jugendlichen, begangen von Pfarrern und Kirchenmitarbeitern, | |
schwingen in dem Satz mit. Vor allem aber das Schweigen, Vertuschen und | |
Leugnen seitens der Führungsriege der Kirchen. | |
Weder die katholische noch die evangelische Kirche [1][haben für völlige | |
Aufklärung, geschweige denn für Konsequenzen für die Täter gesorgt.] Trotz | |
etlicher Treffen mit Betroffenen, trotz Kommissionen oder Studien, die in | |
großem Umfang in Auftrag gegeben wurden. Hinzu kommen völlig verknöcherte | |
Strukturen, insbesondere in der katholischen Kirche. Reformbemühungen für | |
die Ordination von Frauen beispielsweise, für die bedingungslose Akzeptanz | |
von queeren Menschen oder für die Abschaffung des christlichen | |
Arbeitsrechts sind gescheitert. | |
Die Enttäuschung schlägt sich auch in Zahlen nieder. Laut aktuellem | |
Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung hat [2][jedes vierte | |
Kirchenmitglied im vergangenen Jahr über einen Austritt aus der Kirche | |
nachgedacht]. Bei den Austrittswilligen sind Katholik:innen mit zwei | |
Dritteln deutlich stärker vertreten. Wer Mitglied in einer christlichen | |
Kirche ist, gehört derzeit und auch künftig zu einer Minderheit. | |
Werden die Kirchen nicht mehr gebraucht? Welche Funktion haben sie in einer | |
sich zunehmend säkularisierenden Gesellschaft? Hinterlassen sie eine | |
Leerstelle oder driften sie in die Irrelevanz ab? | |
Im Kleinen gedacht, würde es ohne den Einsatz der evangelischen | |
Kiezgemeinde den Kinderchor nicht geben, denn eine kostenlose Alternative | |
fehlt. Ziemlich sicher würde auch der ein oder andere Senior:innentreff | |
in manchen Kleinstädten verschwinden oder das Freizeitangebot für | |
Geflüchtete. Bei etlichen sozialen Projekten leisten die Kirchen, was | |
andere Wohlfahrtsorganisationen oder private Initiativen nicht stemmen | |
könnten. | |
[3][Größer gedacht, haben die Kirchen die Funktion, den Raum für Diskurse | |
zu öffnen.] Der Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann sieht eine | |
erschöpfte Gesellschaft, die durch Corona, Klima, Krieg aus dem Tritt | |
geraten ist. Kann Kirche helfen, die „kollektiven posttraumatischen | |
Belastungsstörungen“ zu heilen? | |
Es ist ihr Auftrag, im Dienste des Menschen zu stehen, und zwar in dem | |
Sinne, dass die Würde des Menschen an erster Stelle rangiert. Gerade in | |
Zeiten wie diesen, in denen eine Krise die nächste jagt, die Folgen des | |
russischen Angriffskriegs auf die Ukraine auf Jahre sichtbar sein werden – | |
sei es durch Menschen, die Zuflucht vor der Gewalt Russlands suchen, oder | |
durch gestiegene Preise für Energie oder Lebensmittel – und | |
antidemokratische Strömungen fest entschlossen sind, mittelfristig | |
salonfähig zu werden. | |
Die Kirchen können Räume dafür schaffen, die eigene Hilflosigkeit zu | |
formulieren, etwa wenn es um das Für und Wider für Lieferungen schweren | |
Kriegsgeräts an die Ukraine geht. Die Hoffnung auf baldige friedliche | |
Verhandlungen hat sich längst zerschlagen. Politikentscheider:innen | |
sind zu besonnenem Abwägen oft nicht mehr in der Lage. Der Eine-Welt-Kreis, | |
die Gemeinde, selbst die Synode aber schon. | |
Und mutig konkret stellen sich kirchliche Initiativen – auch in den | |
Ostbundesländern – an die Seite von Demonstrant:innen gegen | |
Faschist:innen, Anti-Demokrat:innen und die AfD. Im Schutze der Kirchen als | |
Institutionen können ihre Vertreter:innen ins Gespräch mit Menschen | |
kommen, die leicht anfällig sind für gefährliche Propaganda und | |
Desinformation. | |
Insbesondere im ländlichen Raum, wo der Pfarrer oder die Pfarrerin | |
respektierte Instanz an der Kaffeetafel beim 70. Geburtstag ist, bei der | |
Beerdigung des Dorfältesten – gerade dort, wo gerne über vermeintlich | |
unsinnige Entscheidungen von „denen da oben“ geschimpft oder gegen | |
Migrant:innen gehetzt wird. | |
Kirchliche Vertreter:innen an der Basis sind nicht zu unterschätzen. | |
Aber sie können ihre Funktion nur erhalten, wenn sie in die Kooperation | |
gehen mit denen, die mit Kirche eigentlich nichts am Hut haben. Zum | |
Beispiel mit der queerfeministischen Initiative, für die das Recht auf | |
selbstbestimmte Abtreibung gesetzt ist, mit Klimagerechtigkeits- oder | |
Antifa-Gruppen, die hierarchische Strukturen ablehnen. Die Kirchen müssen | |
politisch Haltung beziehen, im Sinne der Würde des Menschen. | |
Stattdessen stecken sie im Glaubwürdigkeitsdilemma. Die Führungsriege übt | |
sich im Abwiegeln und lehnt es ab, sich dem „Zeitgeist“ anzupassen. Der | |
Weltjugendtag in Lissabon stand unter dem Leitwort: „Maria stand auf und | |
machte sich eilig auf den Weg“. Wenn dem Leitwort keine Taten Richtung | |
Aufarbeitung und Toleranzinitiative folgen, rutschen die Kirchen weiter in | |
die Bedeutungslosigkeit ab. | |
8 Aug 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.aufarbeitungskommission.de/themen-erkenntnisse/kirchen/ | |
[2] https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2022/dezem… | |
[3] https://www.deutschlandfunk.de/kirchenaustritt-kommentar-katholische-kirche… | |
## AUTOREN | |
Tanja Tricarico | |
## TAGS | |
Katholische Kirche | |
Evangelische Kirche | |
Kirche | |
GNS | |
Evangelische Kirche | |
wochentaz | |
Kolumne Starke Gefühle | |
taz.gazete | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Evangelische Kirche in Deutschland: Immer weniger Protestanten | |
2023 hat die evangelische Kirche Deutschlands rund 600.000 Mitglieder | |
verloren. Viele starben. Auch gab es viele Austritte bei wenigen | |
Neueintritten. | |
Soziologe über Niedergang der Kirchen: „Vielleicht gibt es Gott ja doch“ | |
Detlef Pollack ist Religionssoziologe. Den Niedergang der Kirchen | |
betrachtet er mit Wehmut. Dabei ist er selbst nicht gläubig. | |
Detlef Pollack im taz Talk: Leere Kirchen | |
Warum sind selbst an Feiertagen die Kirchen kaum besucht? Ein taz Talk mit | |
dem Religionssoziologen und Theologen Prof. Dr. Detlef Pollack. | |
Zum Kirchentag in Nürnberg: Die Kirche hat zu viele Privilegien | |
Über die Evangelische Kirche ist viel Gutes zu sagen. Doch bei Lichte | |
betrachtet gibt es für ihre Alltagsmacht keine Begründung mehr. | |
Die These: Die Gesellschaft braucht Kirchen | |
Den Kirchen laufen die Mitglieder davon – und das geschieht ihnen recht. | |
Die Gesellschaft verliert damit aber wichtige Diskursräume. |