| # taz.de -- Kurdisch verwaltete Region in Syrien: Das Experiment | |
| > Vieles läuft im kurdisch verwalteten Nordosten Syriens besser als im | |
| > restlichen Land. Nur: International gibt es kaum Unterstützung. | |
| Bild: Straßenszene in Qamishli, der größten Stadt in Nordostsyrien | |
| Qamishli taz | Roni Khalaf hängt noch schnell die weiße Wäsche ab. „Sonst | |
| wird sie grau“, sagt die 29-Jährige. Vor den Lehmmauern des traditionellen | |
| Hofhauses wirkt die junge Frau in dem langen gemusterten Kleid im ersten | |
| Moment fehl am Platz – Jacke und Kopftuch sind farblich aufeinander | |
| abgestimmt, die eckige Metallbrille verleiht ihr etwas Intellektuelles. Sie | |
| deutet auf ihr Gemüsebeet, den rankenden Wein, einen Olivenbaum. | |
| „Eigentlich könnte es hier so schön sein“, seufzt Khalaf, wäre da nicht … | |
| giftige Rauch, der von den primitiven Raffinerien der Umgebung | |
| herüberzieht. | |
| Khalaf ist Rechtsanwältin und lebt mit ihrem Mann und ihrem zweijährigen | |
| Sohn in Grebre, einem Dorf im Nordosten Syriens. Unbefestigte Straßen | |
| führen zu ihrem flachen Lehmhaus, daneben pickende Hühner und streunende | |
| Katzen. Vergangenes Jahr hat sich Khalaf in der nahegelegenen Kleinstadt | |
| Terbespieh als Anwältin selbstständig gemacht, aber noch verdienen sie und | |
| ihr Mann nicht genug, um dort eine Wohnung zu mieten. So sitzt die Juristin | |
| in Grebre fest, einer ländlichen Idylle, in der die umliegenden | |
| Erdölverbrennungsöfen die Gesundheit ihrer Bewohner gefährden. Gemeinsam | |
| mit Aktivisten und Betroffenen kämpft Khalaf für mehr Umweltschutz – als | |
| Akademikerin hat ihr Wort Gewicht, erst recht auf dem Land. Jeder in Grebre | |
| kennt „Rechtsanwältin Roni“. | |
| 35 Kilometer weiter westlich kommt Jomart gerade aus der Stadt – ein paar | |
| Erledigungen, nichts weiter. Trotzdem hat der Aktivist das Gefühl, kaum | |
| atmen zu können. In seiner Heimat Qamishli, der mit 200.000 Einwohnern | |
| größten kurdisch geprägten Stadt in Syrien, stehen an jeder Ecke lärmende | |
| und stinkende Generatoren, in den Straßen staut sich der Verkehr. Die Autos | |
| fahren mit schmutzigem Diesel und stoßen schwarze Abgaswolken in die Luft. | |
| „Der Alltag ist extrem anstrengend“, sagt Jomart, der seinen echten Namen | |
| nicht nennen möchte. Er ist 40 Jahre alt, hat dunkle glatte Haare, weiche | |
| Gesichtszüge und eine ruhige Stimme – er ist niemand, der gerne | |
| dramatisiert. Statt sich aufzuregen, kommentiert Jomart die Probleme der | |
| Region lieber ironisch. Das schont die Nerven und hilft ihm, positiv zu | |
| denken. | |
| Optimismus kann Jomart gut gebrauchen. Denn er hat beschlossen, in Qamishli | |
| zu bleiben, obwohl seine Eltern und Geschwister inzwischen alle in Europa | |
| leben. Als Mitarbeiter einer Nichtregierungsorganisation (NGO) will Jomart | |
| dazu beitragen, dass die Region sich entwickelt. Das verbindet ihn mit Roni | |
| Khalaf, der Anwältin in Grebre, die ebenfalls an die Zukunft Nordostsyriens | |
| glaubt – oder es zumindest versucht. Ihre Familie ist noch komplett in | |
| Syrien, als älteste von fünf Geschwistern könne sie nicht einfach flüchten, | |
| sagt Khalaf. „Sollen wir nur uns selbst retten?“, fragt sie ohne Vorwurf in | |
| der Stimme. Wenn ihre Familie hier und sie allein in Europa sei, habe sie | |
| nichts gewonnen, meint die Anwältin. „Denn meine Gedanken und Sorgen | |
| bleiben hier.“ | |
| Was Roni Khalaf und Jomart eint, ist die Absicht, zu bleiben. Und das | |
| unterscheidet sie von den meisten Gleichaltrigen in Syrien, denn die denken | |
| vor allem ans Weggehen. Die Anwältin und der Aktivist fühlen sich | |
| verpflichtet, etwas für ihre Heimat zu tun, ohne sich mit dieser überhaupt | |
| identifizieren zu können. Denn sie leben in Nordostsyrien zwischen den | |
| Überresten eines verhassten Regimes und einem kurdischen Autonomieprojekt, | |
| das von der PKK inspiriert ist – in einer Region, die zwar angesichts der | |
| Not, Unterdrückung und Zerstörung im übrigen Syrien Hoffnung auf Stabilität | |
| weckt, von der aber keiner weiß, wie es mit ihr weitergehen wird. | |
| ## Die Wiege der Menschheit liegt heute zwischen allen Fronten | |
| Nach zehn Jahren Krieg ist Syrien in vier Machtbereiche zerfallen. | |
| [1][Präsident Baschar al-Assad] hat den größten Teil des Landes mithilfe | |
| Russlands und Irans zurückerobert; im Nordwesten steht die Provinz Idlib | |
| unter Kontrolle radikaler Islamisten. Die Türkei hat entlang der Grenze | |
| drei Protektorate errichtet, und im Nordosten – wo Roni Khalaf und Jomart | |
| leben – regiert die Autonome Verwaltung Nordostsyrien. | |
| Der sicherste Weg dorthin führt über den Tigris. Man könnte auch über den | |
| Euphrat kommen, aber dann müsste man an Assads Geheimdiensten vorbei. | |
| Zwischen Euphrat und Tigris, den Lebensadern des historischen | |
| Zweistromlandes, befindet sich die Wiege der Menschheit heute zwischen | |
| allen Fronten. In Nordostsyrien läuft ein politisches und | |
| gesellschaftliches Experiment, das von Gegnern umzingelt ist. Im Norden die | |
| Türkei, im Osten der Nordirak mit seiner Autonomen Region Kurdistan und im | |
| Süden und Westen Assads Regime. Alle drei wollen die Autonome Verwaltung | |
| Nordostsyrien zum Scheitern bringen, die das Gebiet seit Jahren nicht nur | |
| verwaltet, sondern faktisch regiert – inklusive seiner fünf Millionen | |
| Einwohner und einer Million Binnenvertriebener. | |
| Die Region ist von strategischem Interesse. Sie macht fast ein Drittel des | |
| syrischen Staatsgebietes aus und enthält das Erdöl, das Syrien für den | |
| Eigenbedarf braucht. An den fruchtbaren Ufern des Euphrat wird | |
| normalerweise der Weizen für die landesweite Brotversorgung angebaut. Die | |
| Gegend galt deshalb als „Kornkammer Syriens“, bevor jahrelange Dürren | |
| infolge des Klimawandels eintraten, der Krieg kam und weitere Staudämme in | |
| der Türkei den Euphrat zu einem schmalen Fluss machten und einen Großteil | |
| der Ernten vernichteten. | |
| Am Tigris, der natürlichen Grenze zwischen Nordirak und Nordostsyrien, | |
| sieht es nicht besser aus. Der ehemals breite Strom führt nur noch wenig | |
| Wasser, die Fahrt im Kleinbus über eine schwimmende Brücke ist | |
| ungewöhnlich, aber nicht mehr spektakulär. Auf der syrischen Seite des | |
| Flusses sind ausländische Besucher willkommen – die Autonome Verwaltung | |
| braucht dringend Aufmerksamkeit. „Assads Syrien“ scheint hier weit weg, | |
| statt finsterer Geheimdienstmitarbeiter kontrollieren freundliche Asayesh | |
| die Einreisepapiere – die Polizeikräfte der Region können allerdings auch | |
| unfreundlich auftreten, etwa bei der Verfolgung von Oppositionellen. | |
| ## Theoretisch hat Öcalan die Kurdenfrage längst gelöst | |
| Das Autonomieprojekt, das 2012 mit dem Rückzug des Assad-Regimes aus dem | |
| Nordosten begann, wird von der kurdischen Partei der Demokratischen Union | |
| (PYD) vorangetrieben, der syrischen Schwester der Arbeiterpartei Kurdistans | |
| (PKK). An Landstraßen, Kreisverkehren und auf öffentlichen Plätzen hängen | |
| immer wieder Plakate von [2][PKK-Gründer Abdullah Öcalan]. | |
| Jomart, der Aktivist in Qamishli, hält das für unklug. Die PKK ist nicht | |
| nur in der Türkei, sondern auch in Europa und den USA als | |
| Terrororganisation gelistet. „Wer Öcalan und die PKK toll findet, kann sie | |
| bei sich zu Hause verehren“, meint Jomart. „Warum müssen sie Öcalan-Fotos | |
| in Behörden und an Ortseingängen aufhängen?“ Für viele potenzielle | |
| Verbündete der Kurden sei diese offen zur Schau gestellte Nähe zur PKK eine | |
| Provokation, sagt Jomart, und die Region brauche dringend ausländische | |
| Unterstützung. | |
| Im Außenamt der Autonomen Verwaltung in Qamishli hängen keine Öcalan-Fotos, | |
| formal obsiegt hier die Diplomatie. Hausherr Abdelkarim Omar, der | |
| Beauftragte für äußere Angelegenheiten, empfängt Besucher in seinem | |
| geräumigen Büro. Omar, ein kleiner Mann mit Grübchen am Kinn, zeigt sich | |
| dennoch als überzeugter Anhänger des seit 22 Jahren in der Türkei | |
| inhaftierten Kurdenführers. „Wir haben keine direkten organisatorischen | |
| Verbindungen zur PKK“, betont er, aber Öcalan sei Symbol und Vorbild für | |
| alle Kurden. Die Autonome Verwaltung fühle sich seinen Ideen verpflichtet, | |
| und wenn eines Tages die Kurdenfrage im Nahen Osten gelöst sei, werde | |
| Öcalan sicher im Weißen Haus empfangen wie einst Nelson Mandela. „Der wurde | |
| vom Westen auch erst als Terrorist bezeichnet und später als Symbol des | |
| Befreiungskampfes in Südafrika gefeiert“, sagt Omar. | |
| Theoretisch hat Öcalan die Kurdenfrage längst gelöst. Im Gefängnis entwarf | |
| er das Konzept des „demokratischen Konföderalismus“, das nicht länger ein… | |
| eigenen kurdischen Nationalstaat anstrebt, sondern auf basisdemokratische | |
| Selbstverwaltung aller Bewohner einer Region setzt. Gleichberechtigte | |
| Mitsprache von unten statt Regieren von oben. Autonome kurdische Gebiete in | |
| der Türkei, in Syrien, Irak und Iran könnten sich dann zu einer | |
| Konföderation zusammenschließen, ohne bestehende Staatsgrenzen infrage zu | |
| stellen. | |
| ## Die Logik eines Einparteienregimes | |
| Die Idee passt gut zur Situation in Nordostsyrien und dient der Autonomen | |
| Verwaltung als Blaupause. Denn das Gebiet umfasst nicht nur die kurdischen | |
| Siedlungsgebiete in Afrin, Kobanê und Cizîr, die als Rojava – zu Deutsch | |
| Westkurdistan – bezeichnet werden, sondern auch überwiegend arabische | |
| Städte wie Manbidsch, Tabqa, Raqqa und Deir al-Sor. Außerdem leben hier | |
| noch andere ethnische und konfessionelle Gruppen – Assyrer, Chaldäer, | |
| Armenier, Tscherkessen, Tschetschenen und Jesiden. Sie alle sind in der | |
| Autonomen Verwaltung vertreten, auch in verantwortlichen Positionen. Mit | |
| Kurdisch, Arabisch und Syro-Aramäisch gibt es offiziell drei Amtssprachen, | |
| Führungsposten sind stets mit einer Frau und einem Mann besetzt. | |
| In der Praxis stößt die linke Utopie jedoch an ihre Grenzen. Der | |
| [3][Einfluss der PYD] lähmt den Verwaltungsapparat, weil dieser auf allen | |
| Ebenen mit der Logik eines Einparteienregimes kämpft. Dadurch arbeitet er | |
| bürokratisch und ineffektiv, handelt oft autoritär und korrupt. | |
| Das bekommen Aktivisten wie Jomart immer wieder zu spüren, auch wenn die | |
| Lage im Vergleich zu früher viel besser geworden sei, sagt er. Jomart | |
| arbeitet für die zivilgesellschaftliche Organisation PÊL – Civil Waves, | |
| deren Räume im Souterrain eines Wohnhauses in einer Seitenstraße von | |
| Qamishli liegen, das braun-grüne Schild über dem Eingang ist verblichen. | |
| PÊL zählt mit 40 Angestellten zu den größeren NGOs in Nordostsyrien, sie | |
| bekommt Entwicklungsgelder aus Europa, auch von der Bundesregierung. Neben | |
| humanitärer Arbeit in Krisenzeiten setzt sich PÊL für mehr politische | |
| Mitsprache der Jugend, eine Stärkung von Frauen und gesellschaftliche | |
| Aussöhnung ein. Diese Themen seien eigentlich im Sinne der Verwaltung, die | |
| selbst Geschlechtergerechtigkeit und den Dialog zwischen verschiedenen | |
| Ethnien und Konfessionen fördere, lobt Jomart. Das Problem sei jedoch das | |
| nach 50 Jahren Diktatur tief verwurzelte Misstrauen gegenüber nicht | |
| staatlichen Akteuren und mündigen Bürgern. „Auch konstruktive Kritik wird | |
| als Feindseligkeit oder Verrat wahrgenommen“, sagt er. Dabei gehe es nur | |
| darum, die Arbeit der Verwaltung zu verbessern und nicht, sie grundsätzlich | |
| infrage zu stellen. | |
| Für jede Aktivität braucht PÊL eine Genehmigung, erscheint ein Thema zu | |
| heikel, wird diese nicht erteilt. Zwar könne man mit den zuständigen | |
| Behördenvertretern inzwischen reden und sie auch umstimmen, erzählt der | |
| Aktivist, aber die Arbeit als NGO bleibt mühsam. Immerhin riskiert Jomart | |
| mit dem, was er tut, nicht sein Leben. In den von Damaskus beherrschten | |
| Gebieten ist jedes unabhängige politische Engagement bis heute tabu. | |
| „Sollte das Regime zurückkehren, wäre das für die zivilgesellschaftliche | |
| Arbeit das Ende“, warnt er. Etwa 200 registrierte NGOs gebe es im | |
| Nordosten, ihre Mitarbeiter könnten dann nur noch Dokumente vernichten und | |
| fliehen, sagt Jomart. | |
| Um die Checkpoints von Machthaber Assad macht der Aktivist einen Bogen. Das | |
| syrische Regime hat den Nordosten nie ganz verlassen, es kontrolliert bis | |
| heute einzelne Stadtviertel und Dörfer sowie den Flughafen von Qamishli. | |
| Davon profitiert die Autonome Verwaltung, denn sie wird von niemandem | |
| offiziell anerkannt und könnte folglich keinen Flughafen betreiben. | |
| Über die Jahre haben sich daraus skurrile Parallelstrukturen entwickelt. | |
| Die Autos fahren mit verschiedenen Nummernschildern, einzelne Krankenhäuser | |
| und Schulen unterstehen dem Regime, die meisten der Autonomiebehörde. Um | |
| seinen Ausweis zu verlängern, muss man zu Assads Passamt, einen | |
| Führerschein bekommt man auch bei der Selbstverwaltung. Und | |
| Rechtsanwältinnen wie Roni Khalaf haben zwei Zulassungen – eine für die | |
| Gerichte des syrischen Regimes und eine für die der Autonomen Verwaltung. | |
| Zum Glück seien die Gesetze fast identisch, sagt Khalaf in ihrem Hofhaus in | |
| Grebre und serviert Kaffee und Gebäck auf einem kleinen Plastiktisch. „Die | |
| Selbstverwaltung hat lediglich die Namen ausgetauscht.“ Wo beim Regime | |
| „Syrische Arabische Republik“ stehe, heiße es bei der Autonomen Verwaltung | |
| „Nordostsyrien“, erzählt Khalaf. Es gebe ein inoffizielles Abkommen | |
| zwischen den beiden, betont die Anwältin, ohne Absprachen würde das | |
| Nebeneinander nicht funktionieren. | |
| ## Assad hat keinen Grund, Kompromisse zu machen | |
| Die Verhandlungen zwischen dem Regime in Damaskus und der Autonomen | |
| Verwaltung Nordostsyrien beschränken sich allerdings seit Jahren auf | |
| praktische Fragen und Sicherheitsaspekte, eine grundlegende Einigung ist | |
| nicht in Sicht. Umso weniger, je gefestigter Assads Position erscheint. Der | |
| syrische Präsident hat keinen Grund, Kompromisse zu machen, da Russland und | |
| Iran ihn an der Macht halten und seine früheren Kritiker in der Region – | |
| darunter Saudi-Arabien, Katar, Irak, Ägypten und Jordanien – wieder den | |
| Kontakt nach Damaskus suchen. | |
| „Russland ist leider nicht bereit, Druck auf das Regime auszuüben, um es zu | |
| einem ernsthaften Dialog über Dezentralisierung und Autonomie zu bewegen“, | |
| sagt Außenamtschef Abdelkarim Omar. Für Assad sei der Nordosten deshalb | |
| kein politisches Thema, sondern ein Sicherheitsproblem, um das sich seine | |
| Geheimdienste kümmern, kritisiert der Diplomat. Ohne eine Einigung mit | |
| Damaskus könne die Autonome Verwaltung aber nicht nach internationalem | |
| Recht anerkannt werden, erklärt Omar – und ohne Anerkennung keine direkte | |
| Unterstützung. | |
| Die Region bräuchte dringend Investitionen in die Infrastruktur – und in | |
| die Erdölverarbeitung, die Haupteinnahmequelle der Verwaltung. Dann könnten | |
| die primitiven Verbrennungsöfen, die im Umland von Grebre die Luft | |
| verseuchen, durch moderne Anlagen ersetzt werden, hofft Rechtsanwältin | |
| Khalaf. Denn obwohl das Erdöl im Nordosten liegt, gibt es dort keine | |
| industriellen Raffinerien. | |
| Das syrische Regime transportierte den Rohstoff früher in Pipelines nach | |
| Homs und Baniyas, wo es weiterverarbeitet wurde. Jahrzehnte profitierten | |
| vom Erdölgeschäft Assads Günstlinge, die von der Küste in den Nordosten | |
| geschickt wurden. Dort bekamen sie lukrative Posten und staatliche | |
| Zuwendungen, während die örtliche, meist kurdische Bevölkerung, wenn | |
| überhaupt, als Hilfsarbeiter Anstellung fand. | |
| Ab 2011 brach dieses System schrittweise zusammen. Das Regime überließ den | |
| Nordosten der PYD, um den Aufstand im Rest des Landes niederzuschlagen. | |
| Damals habe es an allem gefehlt, erinnert sich Roni Khalaf. „Wir mussten | |
| mit Flüssiggas kochen wie meine Großmutter, die Leute fällten Bäume zum | |
| Heizen, weil es keinen Diesel gab.“ Wer Geld hatte, investierte in große | |
| Metallfässer, die bis heute als Verbrennungsöfen dienen – darin wird das | |
| Rohöl erhitzt, um Gas, Benzin und Diesel zu gewinnen. „Aber der Gestank, | |
| die ungefilterten Giftstoffe und die Schäden für die Menschen hier haben | |
| niemanden interessiert“, sagt Khalaf. | |
| ## Viele Atemwegserkrankungen | |
| Ihr Sohn leide seit seiner Geburt an einem Rasselgeräusch beim Atmen, | |
| erzählt die junge Mutter, sie selbst habe Allergien bekommen, seitdem sie | |
| vor vier Jahren zu ihrem Mann nach Grebre zog. Laut Khalaf sind vor allem | |
| die älteren Dorfbewohner betroffen, die zunehmend an Atemwegserkrankungen, | |
| Sauerstoffmangel oder Krebs sterben. „Der Oma meines Mannes haben wir noch | |
| ein elektrisches Inhalationsgerät besorgt, aber es hat am Ende nichts | |
| genützt“, berichtet Khalaf. | |
| Neben der Sorge um die Gesundheit ihrer Familie hat Roni Khalaf | |
| Zukunftsängste. Mit Schrecken erinnert sich die junge Frau an den Tag vor | |
| mehr als zwei Jahren, als gleichzeitig die Angriffe der Türkei und ihre | |
| Geburtswehen begannen. „Wir mussten ins Krankenhaus nach Qamishli, weil es | |
| hier kein Krankenhaus gibt. Aber wegen der Raketeneinschläge wurden die | |
| Straßen abgeriegelt und wir saßen fest“, erzählt Khalaf. | |
| Im Oktober 2019 intervenierte die türkische Regierung zum dritten Mal im | |
| Norden Syriens – 2016 hatte sie bereits das Gebiet nördlich von Aleppo | |
| erobert, 2018 folgte Afrin. Präsident Erdoğan möchte eine kurdische | |
| Autonomie unter Führung der PYD verhindern, denn aus Sicht Ankaras sind PYD | |
| und PKK dieselbe Terrororganisation und eine Bedrohung für den türkischen | |
| Staat. Erdoğan möchte das Grenzgebiet mithilfe islamistischer | |
| Söldnertruppen – der Syrischen Nationalen Armee (SNA) – unter türkische | |
| Kontrolle stellen, auch um syrische Geflüchtete aus der Türkei dorthin | |
| zurückzuführen. Ein Umsiedlungsprojekt, das den Norden Syriens schon jetzt | |
| demografisch verändert – Kurden werden vertrieben, Araber angesiedelt. | |
| ## Menschen verlieren ihre Existenzgrundlage | |
| Viele Leute hätten durch die türkischen Militäroffensiven Land, Besitz und | |
| Ersparnisse verloren, sagt Anwältin Khalaf. Sie selbst schaffte es 2019 | |
| dank einer Waffenruhe noch rechtzeitig zur Geburt ins Krankenhaus. Aber die | |
| anhaltenden Drohungen der Türkei betrachtet sie als größte Gefahr für die | |
| Region. Dabei hätte die Kurdin genug Gründe, sich mehr vor dem IS zu | |
| fürchten. Ihre Familie lebte in Raqqa, als der IS die syrische | |
| Provinzhauptstadt 2014 zum Zentrum seines Kalifats machte. „Weil die | |
| Situation für junge Frauen gefährlich war, schickten mich meine Eltern zum | |
| Jurastudium nach Hassaka“, erzählt Khalaf. Die Eltern und ihre vier | |
| jüngeren Geschwister flüchteten später nach Qamishli. | |
| Seit 2019 ist der IS geografisch geschlagen, aber nicht besiegt. Im | |
| Untergrund und in den beiden Camps al-Hol und Roj, in denen Zehntausende | |
| IS-Angehörige ausharren, formiert er sich neu. Trotzdem fühlt sich auch | |
| Aktivist Jomart [4][von der Türkei mehr bedroht] als von den Dschihadisten. | |
| „Gegen den IS werden wir immer internationale Hilfe bekommen“, sagt er, | |
| während sich mit der Türkei niemand anlegen wolle, schon gar nicht die | |
| Europäer. „Sie haben Angst, dass Erdoğan ihnen dann mehr Geflüchtete | |
| schickt“, sagt Jomart. | |
| ## Der IS und die Türkei gefährden Nordostsyrien | |
| Beide Gefahren – der IS und die Türkei – hingen miteinander zusammen, | |
| betont Außenamtschef Abdelkarim Omar. Zum einen, weil Erdoğan seit Jahren | |
| radikale Islamisten in Nordsyrien unterstütze und viele ehemalige | |
| IS-Anhänger inzwischen bei der Dschihadistentruppe SNA kämpften, sagt der | |
| Diplomat. Zum anderen, weil die Türkei alles dafür tue, um Nordostsyrien zu | |
| destabilisieren und dadurch den Nährboden für weiteren Terrorismus bereite. | |
| Umso wichtiger wäre eine Entwicklung der Region, doch die scheitere an dem | |
| Gefühl der Ungewissheit, das die Menschen lähme, sagt Anwältin Khalaf. „Wer | |
| etwas Geld gespart hat, zögert, es zu investieren, aus Angst, alles zu | |
| verlieren“, erklärt sie. Statt sich in Nordostsyrien eine Zukunft | |
| aufzubauen, legten die Leute ihre Ersparnisse lieber unter die Matratze, um | |
| damit beim nächsten Angriff in Richtung Europa zu fliehen, sagt die | |
| Juristin. | |
| Nicht so Jomart. Er sucht seit Monaten eine Eigentumswohnung in Qamishli – | |
| zentral, aber weit genug von der Grenze zur Türkei entfernt. Immerhin haben | |
| die Amerikaner 170 Millionen Dollar zur Stabilisierung der Region zugesagt. | |
| Ein gutes Zeichen, meint der Aktivist. Auch Roni Khalaf wird bleiben. Und | |
| lächelt müde. Hat Deutschland jetzt nicht eine grüne Außenministerin, die | |
| von Menschenrechten, Klimagerechtigkeit und Umweltschutz spricht? Das | |
| findet die Anwältin ermutigend. | |
| 23 Jan 2022 | |
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