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# taz.de -- Syrische Geflüchtete in der Türkei: Unter der Oberfläche gärt es
> Ein Viertel der Einwohner von Gaziantep sind syrische Geflüchtete.
> Präsident Erdoğan erhöht den Druck auf sie, zurückzukehren.
Bild: Haben sie mit Erdoğan eine Zukunft in Gaziantep? Syrische Schüler beim …
Gaziantep taz | Um zwei Uhr nachmittags füllt sich eine kleine Straße am
Rande der Altstadt von Gaziantep plötzlich mit Kindern. Auffällig viele
Mädchen mit Kopftuch und arabisch sprechende Jungs verschwinden in die
ärmlich wirkenden Gassen, nach wenigen Minuten ist von ihnen nichts mehr zu
sehen.
„Schulschluss“, meint der Besitzer eines kleinen Kramladens lakonisch, „d…
syrischen Kinder gehen nach Hause.“ Folgt man ihnen in das Gassengewirr,
wird schnell klar, dass die syrischen Flüchtlinge in der Gegend klar die
Mehrheit stellen.
Die Läden werben in arabischer Schrift, Hinweise auf Aleppo gibt es an
jeder Ecke. Reden wollen die Leute hier nicht so gerne, Zurückhaltung
gehört zum Überlebensprinzip. „Ja, es gehe ihnen gut“, ist alles was zwei
Männer vor einem Laden, der arabische Lebensmittel importiert, von sich
geben wollen.
Auf die Frage, ob sie [1][Angst davor haben, zurückgeschickt zu werden],
zucken die beiden nur mit den Schultern. Zurück – aber wohin denn, scheint
diese Geste zu bedeuten.
## Eine negative Atmosphäre hängt über der Stadt
Mehmet Polat, ein Anwalt der sich für Geflüchtete engagiert, erstaunt die
Zurückhaltung nicht. „Es herrscht in der Stadt schon länger eine negative
Atmosphäre gegenüber den Flüchtlingen“, sagt er.
Viele der rund 500.000 syrischen Geflüchteten, die in Gaziantep leben,
haben keinen Job, höchstens mal eine Beschäftigung für ein, zwei Tage. Weil
ihre Wohnungen oft eng und dunkel sind, verbringen sie ihre Tage in den
Parks der Stadt. Das stört die Leute. „Unter der Oberfläche kocht es“, so
Polat.
In Gaziantep hatten es Massenschlägereien zwischen Syrern und Türken
gegeben, in Urfa wurden mehrere syrische Läden abgebrannt und auch in
Istanbul und Ankara hat es in den letzten zwei Jahren Zwischenfälle
gegeben.
## Syrische Geflüchtete werden instrumentalisiert
Viele Politiker versuchen deshalb im derzeitigen Vorwahlkampf zu den
Präsidentschaftswahlen mit Sprüchen gegen die Geflüchteten ihre Popularität
zu steigern. Erst vor wenigen Monaten hat sich eine neue, rechtsradikale
Partei „Zafer“ (Sieg) gegründet. Sie sammelt im Zentrum von Gaziantep im
großen Stil Unterschriften für die Durchsetzung einer Zwangsrückkehr der
Syrer.
Selbst seriöse Oppositionsparteien, wie die nationaldemokratische
IYI-Partei stoßen in dieses Horn. Weil er weiß, dass die Flüchtlingsfrage
eine Schwachstelle von Präsident Tayyip Erdoğan ist, fordert auch der
Vorsitzende der sozialdemokratisch-kemalistischen Partei CHP, Kemal
Kılıçdaroğlu, ein Rückkehrprogramm für die rund vier Millionen Syrer in d…
Türkei. Nach einem möglichen Wahlsieg wolle er dazu Vereinbarungen mit dem
syrischen Diktator Baschar al-Assad treffen.
Erdoğan hat deshalb vor wenigen Wochen angekündigt, er wolle in den von der
Türkei kontrollierten Gebieten in Nordsyrien Häuser für Geflüchtete bauen �…
ein Anstoß zur freiwilligen Rückkehr.
## Die meisten leben seit Jahren hier
„Das ist reine Propaganda und hat mit der Realität nichts zu tun, meint
Kemal Vural, ein Migrationsexperte und Gründer des Gazianteper Vereins
Kırkayak, der Geflüchtete unterstützt. Die meisten von ihnen seien bereits
[2][seit knapp zehn Jahren in der Türkei], sagt er. Sie kämen in der Regel
aus Aleppo, das nah hinter der Grenze liegt.
„Die Leute haben sich hier ein neues Leben aufgebaut. Die Kinder gehen hier
zur Schule, viele von ihnen erinnern sich gar nicht mehr an Aleppo“.
Irgendwie verdienten die meisten etwas Geld und die mittelständische
Industrie der Region brauche sie als billige Arbeitskräfte. „Freiwillig
geht niemand mehr nach Syrien zurück.“
„Deshalb“, so Vural, „versucht die Regierung seit Anfang dieses Jahres den
Druck zu erhöhen“. Polizisten seien landesweit ausgeschwärmt, um die
Meldeadressen syrischer Flüchtlinge abzuklappern.
Die sind eigentlich verpflichtet, an den Orten zu leben, wo sie sich
registriert haben – meist grenznahe Städte wie Gaziantep, Urfa oder Kilis.
Weil es dort aber – auch aufgrund des Zuzugs – keine Arbeit mehr gibt, sind
viele weitergezogen nach Ankara, Istanbul oder Izmir. Dort sind sie aber
nicht registriert. Von geschätzt einer Million syrischer Flüchtlinge in
Istanbul sollen sich etwa 500.000 dort illegal aufhalten.
## Erdoğan drängt Geflüchtete in Pufferzone
Man versuche die Geflüchteten zur Rückkehr an den Ort ihrer Registrierung
zu zwingen, so Vural. Aber: „Die Stadtverwaltung hat für 20 Bezirke eine
Zuzugssperre für Syrer erlassen, angeblich um eine Gettobildung zu
verhindern. In den übrigen, reicheren Stadtteilen von Gaziantep können sie
sich aber keine Wohnung leisten.“
Erdoğan, meint Polat, verfolge ein doppeltes Ziel. „Er will einen Teil der
Syrer zur Rückkehr drängen, die er dann auf der syrischen Seite der Grenze
ansiedeln will, um so eine Pufferzone zur kurdischen Region zu schaffen.“
Eine [3][Deportations- und Umsiedlungspolitik], wie sie immer wieder
betrieben wird – die den Betroffenen immer wieder Leid bereitet.
3 Jun 2022
## LINKS
[1] /Syrische-Gefluechtete-in-der-Tuerkei/!5637740
[2] /Gefluechtete-in-der-Tuerkei/!5766619
[3] /Tuerkei-droht-mit-Gefluechteten-aus-Syrien/!5664083
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
## TAGS
Präsidentschaftswahl in der Türkei
Recep Tayyip Erdoğan
Geflüchtete
Migration
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IS-Terror
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