# taz.de -- Flüchtlingsdeal zwischen EU und Türkei: Perspektiven statt Grenzen | |
> Die EU setzt auf den Migrationsdeal mit der Türkei und die Verlagerung | |
> des Grenzschutzes. Sinnvoller wäre, Flüchtenden eine Zukunft zu | |
> ermöglichen. | |
Bild: Migranten warten vor Sizilien darauf, an Land zu dürfen. Italien hat den… | |
Mit der Ankunft von Millionen Flüchtlingen, die vorwiegend in kleinen | |
Booten über die Ägäis einreisten, brach [1][2015] das Asylsystem in Europa | |
zusammen. Nur durch zivilgesellschaftliches Engagement gelang die Aufnahme | |
und Integration der Schutzsuchenden. Zugleich ächzten staatliche | |
Institutionen über Jahre unter ihren Aufgaben. Vielfach sollten | |
administrative Tricks und neue Gesetze helfen, den Zugang zu Verfahren und | |
Rechten zu verringern, um so die Belastungen für Verwaltungen zu mindern. | |
Echte Reformen des europäischen Asylsystems, die den Anforderungen eines | |
demokratischen Kontinents der Zuflucht entsprechen würden, blieben | |
weitgehend aus. Stattdessen ging die EU im Frühjahr 2016 einen | |
[2][Flüchtlingsdeal mit der Türkei] ein, bei dem es offiziell um ein | |
Rückführungs- und Aufnahmeprogramm ging. Es funktionierte nie. | |
Zentral für die Umsetzung war die Bekämpfung von irregulärer Migration, die | |
zunächst in der Verantwortung türkischer Sicherheitsbehörden lag. Wie weit | |
der Rückgang von Ankunftszahlen in Griechenland ab 2016 überhaupt dem | |
Übereinkommen geschuldet ist, bleibt umstritten. Politisch gilt es dennoch | |
als Erfolg und als Vorbild für Migrationsabkommen mit anderen | |
Nachbarstaaten der EU. Doch die EU hat die falschen Schlüsse aus der | |
Zusammenarbeit mit der Türkei gezogen und verrennt sich in eine | |
migrationspolitische Sackgasse. | |
Die bemerkenswerteste, in Europa aber kaum wahrgenommene Leistung ist die | |
Aufnahme und Versorgung von über 3,5 Millionen syrischen Flüchtlingen in | |
der Türkei. Möglich war dies nur durch ein differenziertes und innovatives | |
humanitäres Programm mit hoher finanzieller Unterstützung durch die EU. | |
Trotz vieler Schwierigkeiten in der Umsetzung hat es Syrer*innen | |
Lebensperspektiven in ihrer Herkunftsregion und oft eine neue Heimat | |
gegeben. | |
## Abschotten um jeden Preis | |
Schutz und Zukunftsperspektiven sind die wichtigsten Faktoren, damit | |
Vertriebene ihre Flucht nicht fortsetzen. Die Migrationsabkommen mit | |
Staaten auf Fluchtrouten nach Europa fördern jedoch kaum das eine noch das | |
andere. Im Gegenteil setzen sie auf Grenzschließungen und die | |
[3][gewaltsame Vermeidung von irregulärer Migration]. Die Erfahrungen | |
zeigen, dass das keine gute Idee ist. | |
Die türkische Regierung hat ihre Kontrolle über die gemeinsame Grenze | |
wiederholt als [4][diplomatisches Druckmittel gegen die EU] genutzt: Es | |
wäre doch schade, würde irreguläre Migration nach Europa wieder einsetzen, | |
raunte man kaum verhohlen in Richtung EU, wenn ganz andere politische | |
Fragen im Raum standen. Andere Staaten haben längst begonnen, diese | |
migrationspolitische Instrumentalisierung zu kopieren. | |
Zudem hat sich gezeigt, dass irreguläre Migration durch die Verlagerung des | |
Grenzschutzes in die Türkei nicht langfristig gestoppt wurde. Vielmehr | |
wurde eine [5][brutale und teils illegale Abwehr von Schutzsuchenden] | |
betrieben: Flüchtende gerieten unter Beschuss, Boote wurden ins Meer | |
zurückgedrängt, menschenrechtlich bedenkliche Lager errichtet. Die | |
vermeintliche Externalisierung eines gewaltsamen Grenzschutzes ist keine | |
Lösung der Grenzfragen und fällt über kurz oder lang auf die EU zurück. | |
## Asyl für 200.000 pro Jahr ist gut machbar | |
Die alternativ oft geforderte Gewährleistung von sicheren und regulären | |
Wegen für Flüchtlinge ist aber ebenfalls Illusion. Zum einen sind die | |
Kapazitäten solcher dauerhaften Programme relativ gering und zum anderen | |
sehr selektiv. Sie erreichen nur bedingt jene, die sich in die Boote setzen | |
müssen. Keine Frage, Visa für humanitäre, aber auch Arbeits- und | |
Studienzwecke sind eine wichtige Ergänzung zum Asyl, indes beeinflussen sie | |
die irreguläre Migrationsbewegung kaum. | |
Eine wichtige Ausnahme sind sehr umfangreiche, internationale | |
Aufnahmeprogramme. Europa könnte über ein gut organisiertes Programm | |
relativ einfach etwa 200.000 Flüchtlinge pro Jahr aufnehmen. Auf fünf Jahre | |
angelegt, wäre dies eine Entlastung für die Türkei und auch ein wichtiges | |
Signal der geteilten Verantwortung. Die Kombination aus Neuansiedlungen und | |
lokaler Integration ist eine Möglichkeit für den überfälligen Wandel der | |
europäischen Flüchtlingspolitik. | |
Die Zahl irregulärer Ankünfte in Griechenland würde so zunächst stark | |
sinken. Allerdings würde die irreguläre Migration nicht aufhören. Und das | |
ist in Ordnung. Irreguläre Migration ist rechtlich und normativ | |
gerechtfertigt, wenn sie genutzt wird, um Asyl zu beantragen. Dazu muss der | |
Zugang zum Asylverfahren gewährleistet werden. Grenzschutz und | |
Flüchtlingsschutz sind nicht gegensätzlich, sondern sie gehen Hand in Hand. | |
Grenzschutz in der EU sieht zurzeit nur die Bekämpfung von irregulärer | |
Migration vor, anstatt das [6][Recht auf Asyl] im Schengener Grenzkodex und | |
im Mandat von Frontex festzuschreiben. Es braucht klare Verfahren, sodass | |
Asylbewerber*innen in funktionierende Asylverfahren kommen, auch wenn | |
sie irregulär einreisen. Was radikal klingen mag, ist tatsächlich nur | |
realistisch. | |
Die wichtigsten flüchtlingspolitischen Lehren der letzten Jahre lauten: Der | |
Schutz von Flüchtlingen ist keine Schwäche, sondern eine Stärke | |
demokratischer Migrationspolitik. Mit der Förderung von Rechtssicherheit | |
und Lebensperspektiven in Herkunftsregionen werden weniger Vertriebene auf | |
irregulärem Weg Asyl in Europa suchen. Und: Irreguläre Migration wird es | |
immer geben. Europa kann Asylsuchenden Schutz bieten, selbst wiederholt und | |
in größerem Umfang. | |
Die EU muss von dem aussichtslosen Vorhaben abkommen, sich mit Gewalt gegen | |
irreguläre Migration abzuschotten, wie sie es im Deal mit der Türkei | |
versucht hat. Denn der Preis dieser Abwehr sind unsere menschenrechtlichen | |
Normen und unsere Rechtsstaatlichkeit. Wir müssen das Flüchtlingsrecht | |
schützen. Ein Neuanfang in der flüchtlingspolitischen Kooperation mit der | |
Türkei kann ein erster Schritt in die Richtung eines demokratischen | |
Flüchtlingsschutzes in Europa sein. | |
17 Apr 2023 | |
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## AUTOREN | |
J. Olaf Kleist | |
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