# taz.de -- Geflüchtete in der Türkei: Europa jein, Geld nein | |
> Wie hoch ist der Migrationsdruck auf Europa? Eine Umfrage unter | |
> Geflüchteten zeigt: Die EU ist zwar beliebt, aber viele fassen in der | |
> Türkei Fuß. | |
Bild: Rund 500.000 sind bereits auf türkischem Boden geboren: syrische Kinder … | |
BERLIN taz | Längst nicht alle wollen es, kaum jemand kann es: Das ist das | |
Ergebnis einer Umfrage unter Geflüchteten in der Türkei und die Antwort auf | |
die Frage, ob Hunderttausende weitere Syrer*innen in die EU und nach | |
Deutschland drängen. Vieles deutet darauf hin, dass ein erheblicher Teil | |
der Syrer*innen, die in der Türkei Schutz gefunden haben, dort mittlerweile | |
Fuß gefasst hat. | |
„Etwa die Hälfte der Menschen konnte sich vorstellen, in der Türkei zu | |
bleiben“, heißt es in der bislang unveröffentlichten Studie des Deutschen | |
Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (Dezim), die der taz | |
vorliegt. Nur knapp ein Viertel der Befragten (22 Prozent) gab an, in ein | |
europäisches Land umsiedeln zu wollen. Deutschland rangiert dabei weiter | |
als Wunschdestination Nummer eins. | |
Auffällig jedoch ist, dass Wunsch und Realität weit auseinanderklaffen. So | |
hielt kaum jemand eine Weiterreise in die EU für möglich. Weniger als zwei | |
Prozent der Befragten gaben an, genug Geld zu haben, um dies finanzieren zu | |
können – etwa um Schlepper sowie Bahn-, Schiffs- oder Flugtickets zu | |
bezahlen. Die Kosten bewegten sich nach taz-Informationen zuletzt im | |
mittleren vierstelligen Bereich für Eltern mit Kindern. | |
Die Türkei hat im weltweiten Vergleich die meisten Flüchtlinge aus ihrem | |
Nachbarstaat aufgenommen. Allerdings ist unklar, wie viele geflüchtete | |
Syrer*innen tatsächlich in dem Land leben: Offiziellen türkischen | |
Angaben zufolge sind es 3,6 Millionen, darunter knapp eine halbe Millionen | |
Kleinkinder, die bereits in der Türkei geboren sind. Experten gehen jedoch | |
von [1][bis zu einer Million weniger] aus. | |
## Bargeld aus Europa | |
Die EU unterstützt die Syrer*innen in der Türkei großzügig, damit sie | |
nicht nach Europa weiterziehen. So hat Brüssel im Rahmen des | |
[2][Flüchtlingspakts mit der Türkei] von März 2016 rund 6 Milliarden Euro | |
zugesagt, wovon ein Großteil auch bereits ausgezahlt worden ist. Im | |
vergangenen Sommer stockte die EU den Betrag um weitere rund 500 Millionen | |
Euro auf. Die EU spricht vom größten humanitären Programm in ihrer | |
Geschichte. | |
Mit dem EU-Geld werden etwa Kliniken oder Schulen in der Türkei errichtet, | |
meist durch internationale Hilfsorganisationen. Auch gibt es ein | |
[3][Bargeldprogramm], durch das rund 1,7 Millionen Geflüchtete monatlich | |
einen geringen Betrag auf eine elektronische Debitkarte überwiesen | |
bekommen, um Nahrung und Unterkunft finanzieren zu können. | |
Präsident Recep Tayyip Erdoğan fordert jedoch mehr Unterstützung und hat | |
die Geflüchteten wiederholt instrumentalisiert, um Druck auf die EU | |
auszuüben. Die europäischen Staats- und Regierungschefs erklärten im | |
Dezember, sie seien „bereit, syrischen Flüchtlingen weiterhin finanzielle | |
Unterstützung zu gewähren“. Ein konkretes Paket ist bislang aber nicht | |
geschnürt worden. | |
## Zurück nach Syrien? | |
In ihr Heimatland zurückgehen will den Studienergebnissen zufolge indes | |
kaum jemand der Befragten, jedenfalls nicht unter den gegebenen | |
Bedingungen. „Für kaum eine*n von ihnen kam es zum Zeitpunkt der Befragung | |
in Betracht, nach Syrien zurückzukehren“, schreiben die Autor*innen. Nur | |
drei Prozent sahen eine Rückkehr als realistische Option. | |
Befragt wurden knapp 1.900 Syrer*innen in unterschiedlichen Landesteilen | |
der Türkei. Allerdings liegen die Interviews bereits rund zwei Jahre | |
zurück. Seither hat sich die [4][wirtschaftliche Lage in der Türkei] | |
verschlechtert und hat die Landeswährung massiv an Wert verloren, was den | |
Wunsch weiterzuziehen verstärkt haben könnte. Auch wurden in | |
[5][Nordwestsyrien] seitdem viele weitere [6][Menschen in die Flucht | |
geschlagen], wobei allerdings nur wenige in die Türkei flüchten konnten, da | |
die Grenze weitgehend dicht ist. | |
„In der Zwischenzeit haben zwar die Pandemie und vor allem die politischen | |
und wirtschaftlichen Antworten darauf die Lebenssituation von syrischen | |
Flüchtlingen in der Türkei dramatisch verschlechtert“, sagt Franck Düvell, | |
Migrationsforscher an der Universität Osnabrück und Co-Autor der Studie. | |
Doch gleichzeitig stünden den Menschen auch immer weniger Mittel zu | |
Verfügung, um weitermigrieren zu können. „Insofern sind die Ergebnisse nach | |
wie vor gültig.“ | |
Die Autor*innen schlussfolgern: „Das Potenzial künftiger | |
Migrationsbewegungen von Syrer*innen aus der Türkei nach Europa ist | |
geringer, als oft im öffentlichen Diskurs angenommen.“ Der Löwenanteil sei | |
schon 2015/16 gekommen. Nun müsse Europa vor allem die Integration | |
syrischer Geflüchteter in die türkische Gesellschaft unterstützen sowie | |
legale Wege anbieten, um Familienzusammenführungen zu ermöglichen. Denn | |
auch das ist ein Ergebnis der Studie: Vor allem diejenigen wollen | |
weitermigrieren, die bereits Angehörige haben in Europa. | |
20 Apr 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.dezim-institut.de/fileadmin/Publikationen/Briefing_Notes/DeZIM_… | |
[2] /5-Jahre-EU-Tuerkei-Abkommen/!5754907 | |
[3] https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/IP_20_2487 | |
[4] /Gasstreit-Griechenlands-und-der-Tuerkei/!5766590 | |
[5] /10-Jahre-Buergerkrieg-in-Syrien/!5755021 | |
[6] /Folgen-von-US-Abzug/!5628604 | |
## AUTOREN | |
Jannis Hagmann | |
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