# taz.de -- Türkischer Einfluss im Nachbarland: Erdoğans großes Syrienprojekt | |
> Viele Millionen Syrer leben mittlerweile im Machtbereich der Türkei. | |
> Nordsyrien ist de facto zur türkischen Provinz geworden. | |
Bild: „Araber und Türken sind Brüder“: Bemalte Wand im syrischen Al-Bab | |
ISTANBUL taz | Diesen Monat jährt sich in Syrien der Beginn des Aufstands | |
gegen das Regime von Baschar al-Assad. [1][Zehn Jahre Krieg] haben ein Land | |
in Trümmern, Angst und Armut hinterlassen, das – vereinfacht gesagt – | |
dreigeteilt ist: Während die syrische Regierung den Westen und Süden | |
einschließlich der großen Städte Damaskus, Aleppo, Hama und Homs | |
kontrolliert, dominieren im Osten die Kurden mit Unterstützung der USA, | |
einschließlich der Ölfelder des Landes. Ein großer Teil von Nordsyrien | |
wiederum untersteht dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. | |
Und es sieht nicht so aus, als würde sich dies in absehbarer Zeit ändern. | |
Im Gegenteil: Die von der Regierung in Ankara Schutzzonen genannten Gebiete | |
wirken mehr und mehr wie eine türkische Provinz. Sie erstrecken sich von | |
den Städten Afrin und Azaz im Westen über al-Bab und Dscharabulus bis hin | |
zu dem rund 100 Kilometer langen und rund 30 Kilometer tiefen Streifen im | |
Nordosten, den die türkische Armee im Herbst 2019 besetzte, nachdem sich | |
die US-Armee dort auf Anweisung von Präsident Trump zurückgezogen hatte. | |
Außerdem sorgte die Türkei im letzten Jahr dafür, dass Assads Truppen ihren | |
[2][Angriff auf die Region Idlib] einstellen mussten. Seitdem ist die | |
Türkei auch in diesem letzten Rebellengebiet de facto die Schutzmacht. | |
In den von der Türkei besetzten Gebieten sind zwar lokale Verwaltungen | |
türkeitreuer syrischer Milizen eingesetzt worden, doch diese unterstehen | |
letztlich der zivilen wie militärischen Kontrolle Ankaras. Für unabhängige | |
Beobachter sind die Gebiete kaum zugänglich, aber gelegentlich organisiert | |
die türkische Regierung eng beaufsichtigte Reisen ausländischer | |
Journalisten in die Region. | |
Zuletzt durfte die Istanbuler Korrespondenten der New York Times, Carlotta | |
Gall, Mitte Februar die Region Afrin besuchen. [3][Gall zeichnete] ein | |
widersprüchliches Bild der Region, in der die meisten Menschen nach wie | |
vor im Elend leben, aber die Sicherheit begrüßen, die die türkischen | |
Truppen vor Verfolgung durch das Assad-Regime gewährleisteten. | |
Tatsächlich waren Galls Gesprächspartner überwiegend ehemalige | |
Anti-Assad-Kämpfer, die in das Gebiet geflüchtet waren. So versicherte ein | |
Händler auf dem Markt in Afrin der Reporterin, die Schergen Assads hätten | |
ihn wohl längst ermordet ohne den Schutz durch die Türkei. Ein anderer, ein | |
einst reicher Großgrundbesitzer südlich von Damaskus bekräftigte, er könne | |
nicht in sein Dorf zurückgehen, solange Assad regiere. „Ohne die Türken | |
können wir nicht überleben.“ | |
## Türkei hat viel investiert | |
Für viele Kurden, die bei dem türkischen Einmarsch im Februar vor drei | |
Jahren aus Afrin vertrieben wurden, klingt das wie Hohn. Gall wurde in den | |
sozialen Medien scharf kritisiert, sie würde die türkische Besatzung | |
„weißwaschen“. Denn Gall bestätigt in ihrer Reportage, worüber Erdoğan | |
nahestehende Medien schon seit Längerem berichten: Die Türkei hat für die | |
Verbesserung der Lebensverhältnisse in der Region rund um Afrin viel | |
investiert. | |
Es gibt funktionierende Krankenhäuser, viele Schulen wurden wiedereröffnet | |
und das gesamte Gebiet wurde an das türkische Stromnetz angeschlossen, | |
sodass die Menschen nach Jahren mit permanenten Stromausfällen jetzt | |
erstmals wieder regelmäßig Energie aus der Steckdose beziehen. Bezahlt wird | |
in türkischer Lira, und auch die türkische Post ist vor Ort. | |
In die Häuser der vertriebenen kurdischen Familien sind syrische | |
Milizionäre eingezogen, die zu Gruppen gehören, die mit der Türkei eng | |
verbunden sind und von Erdoğan gelegentlich als [4][Söldner in Libyen] oder | |
Bergkarabach engagiert werden. Für weitere Flüchtlinge, auch aus der | |
angrenzenden Provinz Idlib, hat die türkische staatliche | |
Wohnungsbaugesellschaft Toki angefangen feste Unterkünfte zu bauen. Während | |
die Kurden beklagen, dass auch die letzten in Afrin verbliebenen Familien | |
massivem Vertreibungsdruck ausgesetzt seien, richten sich die Anhänger | |
Erdoğans in Afrin und den anderen türkischen „Schutzzonen“ auf Dauer ein. | |
Systematischer Bevölkerungsaustausch | |
Der türkische Präsident hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er in den | |
eroberten Gebieten eine möglichst große Zahl der 3,6 Millionen syrischen | |
Flüchtlinge, die jetzt in der Türkei leben, dauerhaft ansiedeln will. | |
Vereinfacht gesagt bedeute das türkische Konzept für die besetzten Gebiete | |
„Kurden raus, sunnitische Islamisten rein“, sagt ein türkischer Journalist | |
gegenüber der taz, der namentlich nicht genannt werden will. | |
Dieser Bevölkerungsaustausch ist auf Dauer angelegt und soll dafür sorgen, | |
dass entlang der türkisch-syrischen Grenze eine stabile Pufferzone | |
entsteht, die aus Sicht der Regierung die Türkei vor kurdischen Angriffen | |
schützen und möglichst auch die Entstehung einer semistaatlichen kurdischen | |
Autonomiezone verhindern soll. | |
Regierungsnahe türkische Organisationen wie die Stiftung für Wirtschafts- | |
und Politikforschung Tepav sind längst dabei, Konzepte zu entwickeln, wie | |
die Lebensbedingungen in den besetzten Gebieten verbessert und eine weitere | |
Integration in die Türkei aussehen kann. | |
Fast 10 Millionen Syrer | |
Tepav-Mitarbeiter Güven Sak hat jüngst in einem Beitrag in der Zeitung | |
Hürriyet eine bemerkenswerte Rechnung aufgestellt: Zählt man die Menschen | |
in den besetzten Gebieten – rund 2 Millionen – mit den knapp 4 Millionen | |
Menschen in Idlib und den 3,6 Millionen syrischen Flüchtlingen in der | |
Türkei zusammen, leben fast 10 Millionen Syrer unter dem Schutz und der | |
Kontrolle der Türkei. | |
„Das sind mehr Menschen, als in der von Assad kontrollierten Region leben“, | |
schrieb Sak. Rund 500 syrische Firmen aus den besetzten Gebieten hätten | |
mittlerweile die Erlaubnis, grenzüberschreitend zu operieren, und viele | |
syrische Kinder würden fleißig Türkisch lernen, um später in der Türkei zu | |
studieren und zu arbeiten. | |
Die EU wie auch Deutschland unterstützen die Menschen in Idlib und in den | |
von der Türkei besetzten Gebieten humanitär. In Idlib hat die | |
Bundesregierung durch eine Sonderzahlung von 25 Millionen Euro bei der | |
Unterbringung der Flüchtlinge mit stabilen winterfesten Zelten geholfen, | |
und auch in den besetzten Gebieten sind deutsche Organisationen humanitär | |
engagiert. | |
## Deutsche Diplomaten dankbar | |
Inoffiziell sagen deutsche Diplomaten in der Türkei, sie seien froh, dass | |
die Türkei mit ihrem Engagement dazu beitrage, dass sich die Bedingungen | |
vor Ort verbessern und eine neue Flüchtlingswelle nach Europa verhindert | |
wird. Erdoğan soll deshalb bei den Verhandlungen mit der EU über ein neues | |
Hilfspaket für die syrischen Flüchtlinge in der Türkei darauf gedrungen | |
haben, dass solche Hilfsgelder auch in der Region um Afrin sowie in | |
Nordostsyrien eingesetzt werden können. | |
Die größte Gefahr für Erdoğans Syrienprojekt kommt derzeit nicht vom | |
Assad-Regime oder von Russland, sondern aus den USA. Während die syrische | |
Regierung seit ihrer militärischen Niederlage gegen die Türkei in Idlib vor | |
einem Jahr keine Anzeichen erkennen lässt, einen neuen Vorstoß zu | |
unternehmen, und die russische Armee am Rand der türkischen | |
Besatzungsgebiete mit türkischen Truppen gemeinsam Patrouillen fährt, | |
stellt nur noch die neue US-Administration unter Joe Biden den Status quo | |
in Frage. | |
Wie an vielen anderen Stellen hat Biden Trumps Entscheidung, aus Syrien | |
auszusteigen, revidiert. Das Pentagon ist dabei, die US-Präsenz in den | |
kurdisch kontrollierten Gebieten wieder auszubauen. Nach übereinstimmenden | |
Berichten türkischer und arabischer Medien baut das Pentagon zudem bei | |
Hasaka einen neuen US-Militärstützpunkt. | |
Hoffnung für Kurden | |
Auch ist der im Streit mit Trump zurückgetretene US-Sonderbeauftragte für | |
Syrien, Brett McGurk, zum Ärger der Türkei wieder zurück, gilt er doch als | |
Architekt der Zusammenarbeit der US-Armee mit den kurdischen YPG-Milizen. | |
Für die Kurden bedeutet das Hoffnung auf US-Unterstützung für ein | |
langfristiges eigenes Autonomiegebiet, was Erdoğan unbedingt verhindern | |
will. Da aus Sicht der türkischen Regierung die syrisch-kurdische YPG-Miliz | |
nichts als ein direkter Ableger der türkisch-kurdischen PKK ist, wirft er | |
der neuen US-Regierung bereits vor, die „PKK-Terroristen“ zu alimentieren. | |
Doch in demokratischen Kreisen in den USA dürfte das auf Unverständnis | |
stoßen. Hier gelten die syrischen Kurden als Helden im Kampf gegen den | |
„Islamischen Staat“ (IS), die Trump verraten habe. Ex-Außenministerin | |
Hillary Clinton produziert derzeit sogar einen Film über die „Töchter von | |
Kobane“, die Frauenbrigaden der YPG. | |
5 Mar 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Arabischer-Fruehling-in-Syrien/!5734007 | |
[2] /Folgen-von-US-Abzug/!5628604 | |
[3] https://www.nytimes.com/2021/02/16/world/middleeast/syria-turkey-Erdo%3C0x0… | |
[4] /Ankaras-Solidaritaet-mit-Baku/!5716930 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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– und auch an deutsche Innenminister, die nach Syrien ausliefern wollen. |