# taz.de -- Folgen der Inflation in Ostdeutschland: Es reicht einfach nicht | |
> Die hohen Preise bereiten Millionen Menschen Existenzprobleme. Besonders | |
> hart trifft es Ostdeutschland, wo Löhne und Renten noch immer niedriger | |
> sind. | |
Bild: So viele Menschen wie noch nie kaufen bei den Tafeln ein. Manche führen … | |
LEIPZIG taz | 400 Euro, so „viel“, haben Claudia Backhaus und ihre zehn | |
Jahre alte Tochter Nele abzüglich aller Fixkosten im Monat zum Leben. Davon | |
muss die alleinerziehende Mutter Lebensmittel bezahlen, Hygiene- und | |
Pflegeprodukte, Kleidung, Schulmaterial und alles, was sonst noch anfällt. | |
Schon bevor alltägliche Dinge so teuer geworden sind, war es für Backhaus | |
schwer, mit dem Geld bis zum Monatsende hinzukommen. „Aber es ging noch so | |
gerade“, sagt die 40 Jahre alte Leipzigerin, die ihren echten Nachnamen für | |
sich behalten möchte. „Ich habe immer so gehaushaltet, dass wir uns auch | |
mal etwas gönnen konnten, einen Besuch im Kino oder im Zoo.“ Das sei nun | |
nicht mehr möglich. | |
Die Inflation trifft die kleine Familie hart. Backhaus kann nicht mehr | |
einfach kochen, worauf sie und Nele Lust haben. Was es zum Mittagessen | |
gibt, macht sie nun davon abhängig, welche Lebensmittel gerade im Angebot | |
sind. Butter, oder wie Backhaus sagt, „das kleine Stück Gold“, hat sie | |
längst durch Margarine ersetzt, Eier, Milch und Käse kauft sie nur noch in | |
kleinen Mengen ein. „Ich esse dann weniger davon, damit Nele mehr hat, ihr | |
soll es an nichts fehlen“, sagt die Mutter. Ihr ist es wichtig, dass ihre | |
Tochter nicht ständig spürt, wie knapp das Geld ist. | |
So wie Familie Backhaus stellen die stark gestiegenen Lebensmittel- und | |
Energiepreise Millionen von Menschen in Deutschland vor existenzielle | |
Probleme. Hartz-IV-Empfänger:innen, Rentner:innen, Studierende, | |
Auszubildende, Menschen mit geringem Einkommen – für sie alle ist es nun | |
noch schwieriger, über die Runden zu kommen, als ohnehin schon. Dabei steht | |
die Nebenkostennachzahlung für 2021, als Gas- und Heizöl auch schon teuer | |
waren, noch aus. | |
## Entlastungen reichen nicht | |
Als Reaktion auf die enormen Preiserhöhungen hat die Bundesregierung bisher | |
drei Entlastungspakete verabschiedet. Das jüngste sieht unter anderem | |
finanzielle Hilfen für Rentner:innen und Studierende vor – zwei Gruppen, | |
die in den ersten beiden Paketen nicht berücksichtigt wurden. Die Kritik an | |
der Ampelkoalition reißt trotzdem nicht ab. Verdi-Chef Frank Werneke | |
bemängelte etwa, dass in dem Paket Zahlungen für Menschen mit niedrigem und | |
mittlerem Einkommen fehlten. | |
Ebendiese Menschen, die ein bisschen mehr Geld als | |
Hartz-IV-Empfänger:innen haben, aber längst keine | |
Besserverdiener:innen sind, leiden besonders stark unter den | |
explodierenden Preisen. Das liegt daran, dass sie die Heizkosten inklusive | |
Gasumlage alleine zahlen müssen – im Gegensatz zu Menschen, die Hartz-IV | |
beziehen. Für sie übernimmt das Jobcenter die Heizkosten. | |
Eine weitere soziale Schieflage angesichts der Inflation offenbart sich | |
beim Ost-West-Vergleich. Die hohe Teuerungsrate trifft Ostdeutsche | |
besonders hart – denn auch dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung | |
verdienen Erwerbstätige im Osten nach wie vor deutlich weniger als im | |
Westen: Sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigte in | |
Westdeutschland erhielten 2019 ein mittleres Monatseinkommen von 3.526 Euro | |
brutto, im Osten waren es 2.827 Euro – also 700 Euro weniger, wie die | |
vorige schwarz-rote Bundesregierung auf Anfrage der Linksfraktion | |
mitgeteilt hat. | |
Außerdem verfügen Ostdeutsche über deutlich weniger Vermögen als | |
Westdeutsche und auch die gesetzlichen Renten sind im Osten niedriger: Im | |
Schnitt erhalten Ostdeutsche, die mindestens 40 Jahre in die Rentenkasse | |
eingezahlt haben, 176 Euro pro Monat weniger als westdeutsche | |
Rentner:innen mit den gleichen Voraussetzungen. | |
## Lebenshaltungskosten fast auf dem selben Niveau | |
Beschwichtigen soll oft das Argument, die Lebenshaltungskosten in den neuen | |
Bundesländern seien niedriger, dadurch sei der Unterschied bei der | |
Kaufkraft am Ende gar nicht so groß. Doch die Preise haben sich laut dem | |
Institut der deutschen Wirtschaft (IW) inzwischen „weitgehend angeglichen“. | |
Und selbst wenn die geringen, noch existenten regionalen Preisunterschiede | |
eingerechnet werden, liegt das Einkommen im Osten immer noch 12 Prozent | |
unter dem im Westen, schreibt die Hans-Böckler-Stiftung in einer aktuellen | |
Studie. | |
Iris Wolfram ärgert sich darüber, dass Arbeitnehmer:innen in den | |
ostdeutschen Ländern immer noch weniger verdienen. Die 64-jährige Rentnerin | |
hat ihr Leben lang im thüringischen Jena als Verkäuferin gearbeitet – immer | |
auf Mindestlohnbasis. Nun bekommt sie 1.200 Euro Rente. | |
Um sich etwas dazuzuverdienen, arbeitet Wolfram aber noch 16 Stunden im | |
Monat in einem Bekleidungsgeschäft. „Mir geht es finanziell deutlich | |
besser, seit ich im Ruhestand bin“, erzählt Wolfram. „In den letzten Jahren | |
vor der Rente hatte ich nach Abzug aller Fixkosten nur 200 Euro im Monat | |
zum Leben.“ Über die Runden sei sie in dieser Zeit nur gekommen, weil sie | |
einmal pro Woche bei der Tafel eingekauft und im Garten ihres Vaters Gemüse | |
angebaut habe. | |
## Belastungen durch die Heizkosten kommen erst noch | |
Wolfram, die sich selbst als sehr sparsam bezeichnet, hat sich für die | |
Wintermonate vorgenommen, „noch mehr Energie“ als ohnehin schon zu sparen. | |
So wolle sie sich zum Beispiel eine Jacke in der Wohnung anziehen, statt | |
die Heizung hochzudrehen, kürzer duschen und das Licht nur dann | |
einschalten, wenn es draußen dunkel ist. Bisher merke sie von den drastisch | |
gestiegenen Energiepreisen aber noch nichts, sagt Wolfram. „Die | |
Nebenkostenabrechnung kommt ja erst noch.“ | |
Aus diesem Grund habe sich die Anzahl ihrer Klient:innen auch noch nicht | |
erhöht, sagen Clemens Bech und Gudrun Dietz von der Schuldnerberatung der | |
Caritas Leipzig. „Die Leute kommen erst dann zu uns, wenn wirklich gar | |
nichts mehr geht, wenn sie sich schon Geld bei Freund:innen oder der | |
Familie geliehen haben und es trotzdem nicht reicht“, erklärt Dietz. Die | |
beiden rechnen daher erst Anfang des nächsten Jahres mit einem Zuwachs an | |
Klient:innen. Was Dietz und Bech aber schon heute beobachten: Viele | |
Schuldner:innen könnten keine Raten mehr zahlen, weil die Lebensmittel | |
so teuer geworden sind. | |
Normalerweise raten sie jeder Person, die zu ihnen kommt, monatlich | |
Kleinstbeträge zur Seite zu legen. „Das Problem ist: Die allermeisten | |
können das wegen der hohen Inflation nicht, es bleibt am Ende des Monats | |
einfach nichts übrig“, sagt Bech. Auch Energiesparen sei für arme Menschen | |
schwierig, weil sie es sich nicht leisten könnten, ihren alten Backofen | |
oder Kühlschrank gegen ein stromsparendes Modell auszutauschen. | |
## Letzter Ausweg: die Tafeln | |
Doch was tun, wenn man spart, wo es nur geht, das Geld aber trotzdem nicht | |
reicht? Dann bleibe oft nur noch eine Möglichkeit, sagt Gudrun Dietz: „Zur | |
Tafel gehen.“ Und das machen in Deutschland so viele wie nie zuvor: Mehr | |
als zwei Millionen Menschen müssen ihre Lebensmittel bei der Tafel kaufen. | |
Die Zahl der Kund:innen ist seit dem russischen Angriff auf die Ukraine | |
und den damit verbundenen Preissteigerungen stark gestiegen, wie aus einer | |
aktuellen Umfrage des Dachverbands Tafel Deutschland hervorgeht: Demnach | |
verzeichnet fast ein Drittel der Tafeln eine Verdopplung der Kundenzahl, 9 | |
Prozent der Filialen melden sogar mehr als doppelt so viele Kund:innen | |
wie vor dem Krieg. Weitere 61 Prozent haben einen Anstieg von bis zu 50 | |
Prozent erfasst. | |
Fragt man bei einzelnen Tafeln im Osten nach, wie sie mit der erhöhten | |
Nachfrage zurechtkommen, wird schnell klar: Die Lage ist ernst. In Weimar | |
und in Magdeburg etwa können Kund:innen jetzt statt wie bisher zwei Mal | |
wöchentlich nur noch ein Mal pro Woche bei der Tafel einkaufen. Gehe der | |
Anstieg so weiter, müsse die Weimarer Tafel über einen Aufnahmestopp | |
nachdenken, erklärte ein Sprecher. | |
## Tafeln selbst sind von der Inflation betroffen | |
In Jena wiederum hat man eine Warteliste für neue Kund:innen eingeführt. | |
Der dortige stellvertretende Tafel-Vorsitzende Manfred Müller nimmt eine | |
wachsende Nachfrage vor allem von Rentner:innen, | |
Geringverdiener:innen und Studierenden wahr. Außerdem bemerke er, | |
dass sich der Lebensmittelbedarf der Kund:innen erhöht habe. | |
Doch nicht nur die Tafel-Kund:innen litten unter den drastisch gestiegenen | |
Energiepreisen. Auch die Tafel selbst spüre die Teuerungen. Der Strom für | |
die Kühlung, der Sprit für die vier Fahrzeuge – alles koste mehr, erklärt | |
Müller. „Diese Entwicklung bringt unsere finanzielle Situation in eine | |
gefährliche Schieflage.“ | |
Er blicke mit Angst in die Zukunft, sagt der Jenaer Tafel-Vizechef. „Wir | |
beobachten ein starkes Anwachsen der Bedürftigkeit und eine zunehmende | |
Unsicherheit und Unzufriedenheit unter den Bedürftigen.“ Entsprechend | |
enttäuscht ist er von der Bundesregierung. Die Erhöhung der Bezüge um rund | |
50 Euro, die Hartz-IV-Empfänger:innen ab Januar im Zuge des neuen | |
Bürgergelds bekommen, sei zu gering, um die Inflation auszugleichen. | |
Müller befürchtet, dass die Entscheidung der Regierung, „die | |
Grundsicherungsleistungen nicht an die wahren Bedürfnisse der Menschen | |
anzupassen“, gefährliche Folgen haben werde. Diejenigen, die sich jetzt im | |
Stich gelassen fühlen, würden bei den nächsten Wahlen „nicht nur im Osten | |
Deutschlands überwiegend rechte Parteien wählen“, vermutet er. | |
Claudia Backhaus, die alleinerziehende Mutter aus Leipzig, sagt, ihr hätten | |
die Hilfen aus dem zweiten Entlastungspaket – etwa der einmalige | |
Kinderbonus von 100 Euro sowie die 200 Euro für Sozialhilfe-Empfänger:innen | |
– „schon geholfen“. Einmalzahlungen reichten aber auf Dauer nicht aus. �… | |
ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein“, stellt Backhaus klar. „Solche | |
Zuschüsse bräuchten Nele und ich jeden Monat, um gut leben zu können.“ | |
16 Sep 2022 | |
## AUTOREN | |
Rieke Wiemann | |
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