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# taz.de -- Ansturm bei der Berliner Tafel: Teilhabe für alle
> Mehr Bedürftige stehen für weniger Lebensmittel an. Die Situation bei den
> Tafeln zeigt, dass unserer Gesellschaft langsam der Kitt abhandenkommt.
Bild: Viele Menschen müssen sich eine kleiner werdende Menge an Lebensmitteln …
Der Krieg gegen die Ukraine und die Inflation führen zu einer stark
ansteigenden Kund*innenzahl bei den Tafeln. Auch bei uns in Berlin haben
sich die Zahlen nahezu verdoppelt: Kamen Anfang 2022 noch 40.000 Menschen
monatlich zu den Ausgabestellen, waren es im Juli 72.000. Der Bedarf wird
vermutlich noch weiter steigen. Für die Tafeln heißt das: Viele Menschen
müssen sich eine kleiner werdende Menge an Lebensmitteln teilen. Für die
Politik heißt das: Sie muss die Teilhabe im Blick behalten – sie ist der
Kitt, der uns zusammenhält.
Haben wir in den ersten Jahren unserer fast 30-jährigen Geschichte als
Berliner Tafel zunächst nur mit mäßigem Erfolg gefordert, dass Lebensmittel
als Ressourcen betrachtet werden, die nicht in den Müll gehören, ist der
Bewusstseinswandel nun endlich angekommen. Foodsharer*innen, kommerzielle
Lebensmittelretter*innen und eine passgenauere Planung der Märkte
führen heute dazu, dass wir weniger Lebensmittel erhalten. Dies betrifft
vor allem Obst und Gemüse. Es ist schön, dass die Ressourcen-Botschaft
endlich angekommen ist. Aber auch schwierig, dass gerade in Krisenzeiten
weniger Waren für die Unterstützung armutsbetroffener Menschen übrig
bleiben.
Bei Vorträgen und Diskussionen kommt spätestens an dieser Stelle der
Moment, in dem die Gäste einwerfen: Es ist doch schlimm, dass es überhaupt
Tafeln geben muss; entlasst ihr nicht den Staat aus der Verantwortung? Um
es gleich vorwegzunehmen: Nein, wir entlassen den Staat nicht aus der
Verantwortung, er ist und bleibt für die soziale Sicherung seiner
Bürger*innen zuständig. Darauf weisen wir auch die Politiker*innen
bei jeder Gelegenheit hin. Es ist Teil unseres Selbstverständnisses, dass
wir armutsbetroffene Menschen mit wöchentlichen Ausgaben unterstützen, aber
nicht mit täglichen Lebensmittelpaketen versorgen.
Wir stehen für Teilhabe. Wir retten Lebensmittel und verteilen sie an den
jeweiligen Ausgabetagen von LAIB und SEELE. Wir entlasten damit die
Portemonnaies der Menschen, die ohnehin wenig Geld haben. Vielleicht
konnten sie mit dem gesparten Geld mit ihren Kindern ins Kino gehen, neue
Schulsachen kaufen oder den Zoo besuchen. Mittlerweile wird auch das kaum
noch oder gar nicht mehr gehen. [1][Die Inflation] frisst größere Löcher in
den Geldbeutel.
## Das Bürgergeld wird nicht reichen
Sollte nun jemand einwenden, dass demnächst aus dem jetzigen
449-Euro-Hartz-IV-Satz das künftige Bürgergeld in Höhe von 502 Euro wird
und damit genug geholfen sei – dem sei gesagt, dass das beileibe nicht
ausreicht. Diese Steigerung entspricht in etwa der Inflationsrate,
berücksichtigt aber nicht, dass die Sätze schon vorher viel zu niedrig
angesetzt waren.
Der Paritätische Wohlfahrtsverband und der [2][Bundesverband Tafel
Deutschland] haben ausgerechnet, dass es mindestens 650 Euro Bürgergeld im
Monat braucht, damit Menschen einigermaßen auskömmlich über die Runden
kommen. Auch wir sehen das so. Die Kritik des Handwerksverbands, dass
bereits ein [3][Bürgergeld von 502 Euro] potenzielle Mitarbeiter*innen
dazu verleiten könnte, lieber Transferleistungen als Gehälter beziehen zu
wollen, finden wir absurd. Welches Menschenbild steckt denn dahinter? Die
Idee, dass Geld das einzig wahre und entscheidende Leitmotiv ist? Natürlich
muss die Existenz gesichert sein. Aber Menschen brauchen mehr.
Aus unserer täglichen Arbeit wissen wir, dass sich Menschen in der Regel
nicht freiwillig für den Bezug von Sozialleistungen entschieden haben. Sie
sind krank, alleinerziehend oder aus anderen Gründen nicht in der Lage,
arbeiten zu gehen. Im Gegenteil: Sie sind unglücklich mit ihrer
Lebenssituation. Weil sie sich durch das Jobcenter bevormundet fühlen. Weil
das Geld trotzdem vorne und hinten nicht reicht. Weil
Ernährungsunsicherheit krank macht. Weil sie zu Hause vereinsamen. Weil sie
gerne mehr Sinn in ihrem Tag sähen. Weil sie lieber arbeiten wollten und
Teil eines Teams wären. Weil sie teilhaben wollen.
Nicht umsonst heißen unsere Ausgabestellen (eine Aktion der Berliner Tafel,
der Kirchen und des rbb) LAIB und SEELE. Wir teilen den Laib Brot und
kümmern uns auch nach Kräften um die Seele, indem unsere Ehrenamtlichen
ihren Kund*innen zuhören und mitfühlen.
Zur Teilhabe gehört auch, dass die Abgabe der Lebensmittel lediglich an die
Bedürftigkeit der Menschen gekoppelt ist. Es ist völlig egal, woher die
Kund*innen kommen, wie sie aussehen, welche Sprache sie sprechen, wen sie
lieben oder an welchen Gott sie glauben. Bereits 2015/2016, als viele
Menschen vor dem Krieg aus Syrien geflohen sind, gab es gesellschaftliche
Diskussionen, wer denn jetzt noch bei einer Tafel Lebensmittel erhalten
sollte und wer nicht. Es entstanden die Bilder des „guten deutschen
Obdachlosen“ oder der „armen deutschen Oma“, die gegen die syrischen
Geflüchteten gestellt wurden. Es war unerträglich.
Momentan macht sich gerade wieder so ein mediales Grundrauschen bemerkbar,
in dem diskutiert wird, ob die Geflüchteten aus der Ukraine zur Weimarer
Tafel kommen dürften. Man munkelt, sie wollten Kaviar und kämen mit großen
Autos. Es fühlt sich wieder an wie damals; eine Debatte, bei der eine
Gruppe von bedürftigen Menschen gegen die andere ausgespielt wird. Und es
ist wieder unerträglich.
Als gemeinsamer Nenner unserer Erfahrungen lässt sich festhalten: In dem
Moment, wo Menschen sich nicht ausreichend wahrgenommen, gesehen und
geschätzt fühlen (dazu gehören auch selbstverständlich ausreichende
staatliche Transferleistungen), entstehen Konflikte. Genau deshalb brauchen
wir eine solide Teilhabe für alle Menschen in diesem Land; sie ist der
entscheidende Faktor für ein friedliches Miteinander.
Als Tafeln leisten wir dazu einen immensen zivilgesellschaftlichen Beitrag
– aber der ist und bleibt ein freiwilliges Extra. Liebe Politiker:innen,
der Rest liegt bei euch.
27 Sep 2022
## LINKS
[1] /Abschied-von-Hartz-IV/!5878162
[2] /Folgen-der-Inflation-in-Ostdeutschland/!5877652
[3] /Regierung-beschliesst-Buergergeld/!5878204
## AUTOREN
Antje Troelsch
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