| # taz.de -- Explodierende Kosten: Ihr Kinderlein hungert | |
| > Die steigenden Preise treffen besonders Familien. Soziale Träger | |
| > fürchten, dass viele bald noch ärmer werden. Die Politik muss mehr tun. | |
| Bild: Lebensmittel werden immer teurer: Hilfsorganisationen befürchten, dass F… | |
| Berlin taz | Berliner:innen müssen aktuell tiefer in die Tasche | |
| greifen. Wegen Krieg und Inflation steigen die Preise, besonders Energie | |
| und Lebensmittel sind deutlich teurer geworden. [1][Diese Mehrausgaben | |
| können sich viele Menschen nicht leisten]. Besonders betroffen sind | |
| Familien mit Kindern, warnen Wohlfahrtsverbände und soziale Träger. | |
| „Ich gehe davon aus, dass wir in wenigen Wochen Familien haben werden, die | |
| hungern müssen“, sagt Wolfgang Büscher, Sprecher der Arche. Das in Berlin | |
| gegründete Kinderhilfswerk betreibt inzwischen bundesweit 29 Einrichtungen | |
| in 15 Städten. Aktuell kämen mehr Kinder als zuvor, erklärt Büscher. Doch | |
| gleichzeitig gingen die Spenden zurück. „Immer mehr Mittelschichtler | |
| brechen weg.“ Derzeit könne man das durch die Spenden größerer Stiftungen | |
| und Unternehmen ausgleichen – noch. | |
| Dass die Preise von Grundnahrungsmitteln wie Mehl, Eiern oder Speiseöl | |
| drastisch gestiegen sind, sei für die Familien ein „Desaster“, sagt | |
| Büscher. „Immer mehr Mütter lassen ihr Mittagessen ausfallen, weil sie kein | |
| Geld mehr haben. Sie sparen dann lieber für ihre Kinder.“ | |
| Mütter und Väter, die für ihre Kinder zurückstecken – das kennt Jens-Uwe | |
| Scharf auch. „Die Expertise zeigt: Eltern werden alles in Bewegung setzen, | |
| damit nicht an den Kindern gespart wird“, sagt der Fachreferent für | |
| Kinder-, Jugend- und Familienhilfe bei der Berliner Caritas. | |
| ## Jedes vierte Berliner Kind wächst in Armut auf | |
| Schon jetzt sei der Andrang auf die Beratungsstellen des katholischen | |
| Wohlfahrtsverbands, etwa auf die Familienberatung, sehr groß. Scharf | |
| rechnet damit, dass die Nachfrage nach Beratungsangeboten noch steigt, etwa | |
| weil ab Januar deutlich mehr Menschen Anspruch auf Wohngeld haben. „Die | |
| werden dann verstärkt auch unsere Beratungsstellen aufsuchen“, sagt er. | |
| Zudem könne es zu langen Wartezeiten bei den zuständigen Ämtern kommen. | |
| Deshalb sei unklar, wann die Hilfen wirklich bei den Menschen ankämen. | |
| Wegen der explodierenden Energiekosten fürchten sich viele Familien vor | |
| Preiserhöhungen der Energieversorger, berichtet auch Sabine Bresche, die | |
| die Beratungsstelle des Berliner Kinderschutzbundes koordiniert. „Das | |
| bringt ganz viel Unsicherheit mit sich.“ In den Beratungen des | |
| Kinderschutzbunds zeige sich, dass die Familiensituation vieler Menschen | |
| angespannter werde. | |
| „Wir dürfen nicht vergessen: [2][Wir haben vorher zwei Jahre Corona gehabt, | |
| das war eine große Belastung für Familien]“, sagt Bresche. Viele Familien | |
| hätten zudem schon vor der aktuellen Krise an allen Ecken und Enden | |
| gespart, um über die Runden zu kommen – da gebe es also kaum noch | |
| Einsparmöglichkeiten. Bresche befürchtet, dass nun noch mehr Kinder in die | |
| Armut abrutschen. | |
| Schon jetzt lebt mehr als jedes vierte Kind in Berlin in einer Familie, die | |
| Grundsicherungsleistungen, also das sogenannte Hartz IV, bezieht. Damit ist | |
| die Quote knapp doppelt so hoch wie im Bundesdurchschnitt. Nur in Bremen | |
| leben noch mehr Kinder in Familien, die existenzsichernde Leistungen in | |
| Anspruch nehmen. Allerdings sind die Daten von 2019, aktuellere Zahlen gibt | |
| es noch nicht. | |
| Zur Bekämpfung der Kinderarmut gibt es seit 2017 eine ressortübergreifende | |
| Landeskommission Kinder- und Familienarmut. Sie soll dafür sorgen, dass | |
| bestehende Angebote in den Bezirken miteinander verknüpft und ausgebaut | |
| werden. Die aktuellen Herausforderungen für Kinder und deren Familien | |
| betrachte man „mit Sorge“, erklärt eine Sprecherin der Bildungsverwaltung. | |
| Beratung und Informationen über Unterstützungsmöglichkeiten könnten | |
| Familien über die bereits bestehenden Angebote erhalten, etwa in den 14 | |
| Familienservicebüros. Dort werde ihnen auch beim Beantragen von Leistungen | |
| geholfen. | |
| Es sei wichtig, Behörden und Zuständigkeiten zu bündeln, findet | |
| Caritas-Referent Scharf. „Das Wissen um die Unterstützungsstrukturen ist | |
| häufig nicht da“, erklärt er. Für Armutsbetroffene sei häufig nicht klar, | |
| welche Informationen sie wo bekommen können. | |
| ## Kritik an bisherigen Entlastungspaketen | |
| [3][Dass die Bundesregierung über eine Kindergrundsicherung diskutiert], | |
| findet Scharf gut. Eine solche Grundsicherung für Kinder fordern auch | |
| Kinderschutzbund und Arche. Aktuell beträgt das Kindergeld 219 Euro (für | |
| das dritte Kind 225 und für das vierte Kind 250 Euro), hinzu können diverse | |
| Zuschläge kommen. Derzeit plant die Bundesregierung, das bestehende System | |
| mit einer Kindergrundsicherung zu vereinfachen, die einen | |
| einkommensunabhängigen Grundbetrag sowie gestaffelte Aufschläge beinhalten | |
| soll. | |
| Geht es nach Arche-Sprecher Büscher, soll die Kindergrundsicherung 600 Euro | |
| betragen. Eine Hälfte solle direkt auf das Konto des Kindes und die andere | |
| Hälfte an die Schule oder Kita ausgezahlt werden. Büscher fordert außerdem, | |
| die Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel für ein halbes Jahr | |
| abzuschaffen. | |
| An den bisherigen Entlastungspaketen des Bundes üben viele | |
| Wohlfahrtsverbände Kritik. „Das Problem sind die Einmalzahlungen“, sagt | |
| Büscher. „Das ist völlig schwachsinnig“, sagt auch Sabine Werth, Gründer… | |
| der Berliner Tafel. Laufende Verteuerungen ließen sich nicht mit einmaligen | |
| Zahlungen ausgleichen. Sie fordert Steuern auf sogenannte Zufallsgewinne | |
| und eine Reichensteuer. „Es muss an der einen Seite genommen und der | |
| anderen Seite gegeben werden.“ | |
| Werth berichtet, dass zu manchen Tafel-Ausgabestellen inzwischen mehr als | |
| doppelt so viele Menschen wie zuvor kämen. Darunter seien viele, die nie | |
| gedacht hätten, mal auf die Tafel angewiesen zu sein. Inzwischen gebe es | |
| neben den 47 regulären Berliner Ausgabestellen acht zusätzliche Gemeinden, | |
| in denen Bedürftige Lebensmittel abholen könnten – wegen der Notsituation. | |
| Ob nun mehr Eltern als zuvor zur Tafel gehen, dazu lägen erst in einigen | |
| Monaten Daten vor, sagt Werth. Allerdings seien bisher schon insgesamt zwei | |
| Drittel der Hilfesuchenden Jugendliche und Alleinerziehende. | |
| 22 Sep 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jonas Wagner | |
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