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# taz.de -- Regierung beschließt Bürgergeld: Das geht auch menschlicher
> Das neue Bürgergeld der Ampel-Koalition bringt ein paar Verbesserungen.
> Ein besseres Grundsicherungssystem – wie versprochen – schafft es
> allerdings nicht.
Bild: Bürgergeld: wenig Grund zur Freude
Das Arbeitslosengeld II soll am 1. Januar 2023 vom Bürgergeld abgelöst
werden, die Ampel-Regierung plant eine umfassende Reform der Grundsicherung
für Arbeitslose. [1][Arbeitsminister Hubertus Heil behauptet in Interviews]
gern, dass Hartz IV damit „überwunden“ werde.
Zwar beinhaltet das Regierungskonzept durchaus positive Veränderungen, etwa
im Verhältnis zum Jobcenter, bei den Maßnahmen zur beruflichen
Weiterbildung, beim Vermittlungsvorrang sowie bei den Sanktionen für die
bisherigen Hartz-IV-Bezieher/innen. In zentralen Punkten – etwa die zu
geringe Anhebung des Regelbedarfs – bleibt eine substanzielle Korrektur des
Grundsicherungssystems aber aus. Um Hartz IV wirklich zu überwinden, wären
weitere Schritte nötig:
Immer mehr Erwerbslose erhalten nie Arbeitslosengeld I, sondern gleich
Hartz IV. Deshalb sollten die Höchstbezugsdauer des Arbeitslosengeldes I
und die Frist, in der man Leistungsansprüche erwerben kann, über die
geltenden 30 Monate hinaus verlängert werden. Die Anwartschaftszeit
dagegen, während der man Beiträge in die Arbeitslosenversicherung gezahlt
haben muss, könnte von derzeit zwölf (unter bestimmten Voraussetzungen
sechs Monaten) verkürzt werden, um den sofortigen Fall in die
Grundsicherung zu verhindern.
Die einschneidendste Sozialreform der Bundesrepublik wird als
„Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe“ verharmlost. Dabei
entfiel mit der Arbeitslosenhilfe eine den Lebensstandard von Erwerbslosen
noch halbwegs sichernde Lohnersatzleistung, an deren Stelle mit dem
Arbeitslosengeld II eine höchstens noch das Existenzminimum sichernde
Fürsorgeleistung trat, gedacht als bloße Lohnergänzungsleistung.
Bezieher/innen von Arbeitslosenhilfe erhielten 57 Prozent beziehungsweise
53 Prozent (ohne Kind) ihres letzten Nettoentgelts. Dass sich die Zahl der
von Transferleistungen abhängigen Kinder nach Einführung von Hartz IV im
Jahr 2005 fast verdoppelte, war in erster Linie auf die Abschaffung der
Arbeitslosenhilfe und den Bruch mit dem Lebensstandardsicherungsprinzip
zurückzuführen.
Will man keine Lohnersatzleistung wie die Arbeitslosenhilfe einführen, kann
man den Lebensstandard von Langzeiterwerbslosen auch durch ein im
Extremfall bis zur Rente gezahltes Arbeitslosengeld sichern. Unbefristet
anspruchsberechtigt müsste dann sein, wer eine bestimmte
Mindestversicherungsdauer aufweist. Mit der Einführung von Hartz IV waren
pauschale Regelsätze verbunden, die inzwischen Regelbedarfe heißen und auch
beim Bürgergeld mit 502 Euro im Monat für Alleinstehende viel zu niedrig
sind. Besonders kinderreiche Familien leiden darunter, dass die
wiederkehrenden einmaligen Leistungen, etwa für die Reparatur einer
Waschmaschine, weggefallen sind.
Einerseits müssten also die [2][Regelbedarfe] deutlicher erhöht werden, als
das (erst) zum Jahreswechsel geschieht; andererseits sollten jene Beihilfen
wieder eingeführt werden, die bedürftigen Familien helfen. Ein neues,
partnerschaftliches, solidarischeres und menschlicheres Sozialstaatsmodell,
wie es die Ampel-Koalition verspricht, ist nicht beinahe zum Nulltarif zu
haben.
Einen Berufs- und Qualifikationsschutz gibt es beim [3][Bürgergeld] ebenso
wenig wie bei Hartz IV. Das heißt: Unabhängig davon, welche Ausbildung oder
welches Studium die Leistungsbezieher/innen abgeschlossen haben und welchen
Beruf sie vielleicht jahrzehntelang ausgeübt haben, müssen sie jedes
Jobangebot akzeptieren. Damit eine Sekretärin nicht im Getränkemarkt und
ein Soziologe nicht als Pförtner arbeiten muss, um ihren Leistungsanspruch
zu erhalten, muss der Berufs- und Qualifikationsschutz im Sozialgesetzbuch
verankert werden.
Erhalten bleiben die Zumutbarkeitsregeln bei der Arbeitsaufnahme.
Leistungsbezieher/innen müssen jeden Job annehmen, auch wenn er weder nach
Tarif noch ortsüblich entlohnt wird. So hat Hartz IV einen breiten
Niedriglohnsektor geschaffen – Haupteinfallstor für Erwerbsarmut,
Familienarmut und spätere Altersarmut. Daher müssen die
Zumutbarkeitsregelungen entschärft werden. Der Staat darf Hungerlöhne nicht
länger legitimieren, mittels Transferleistungen subventionieren und die
entstehenden Folgekosten an die Allgemeinheit abgeben.
Bei einer Pflichtverletzung, die darin bestehen kann, dass man einen Job
ablehnt, ein Bewerbungstraining nicht antritt oder eine Weiterbildung
abbricht, soll der Regelbedarf nach Ablauf der „Vertrauenszeit“ von einem
halben Jahr um 30 Prozent gekürzt werden. Damit fällt das Bürgergeld hinter
das geltende Sanktionsmoratorium zurück, welches nur einen 10-prozentigen
Abzug von der Regelleistung bei Meldeversäumnissen zulässt.
Sanktionen sind inhuman und entbehrlich, weil sich die meisten Personen der
Arbeit nicht entziehen – die meisten wollen sich nützlich machen und/oder
der Gesellschaft, die ihre (Aus-)Bildung ermöglicht hat, etwas zurückgeben.
Ein Verstoß hat also häufig einen anderen Grund, dem es nachzugehen gilt.
Aus dem Fürsorgerecht stammt das Konstrukt der Bedarfsgemeinschaft, durch
das selbst Menschen, die weder mit Leistungsbedürftigen verwandt noch ihnen
gegenüber unterhaltspflichtig sind, zur Kostenübernahme angehalten werden,
um die Jobcenter zu entlasten. Eine erweiterte Sippenhaft darf es beim
Bürgergeld nicht geben, weshalb die Bedarfsgemeinschaft abzuschaffen ist.
Auch müssen Volljährige einen eigenen Haushalt gründen können, ohne
Erlaubnis des Jobcenters.
Arbeitslosengeld-II-Bezieher(inne)n wird das Elterngeld von der
Transferleistung abgezogen; Beiträge in die Rentenversicherung werden für
sie nicht eingezahlt. Auch diese Verschlechterungen müssen SPD,
Bündnisgrüne und FDP rückabwickeln, wenn es ihnen tatsächlich darum geht,
Hartz IV zu überwinden.
15 Sep 2022
## LINKS
[1] /Arbeitsminister-Heil-zum-Buergergeld/!5878302
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[3] /Hartz-IV-Nachfolger/!5877953
## AUTOREN
Christoph Butterwegge
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Hubertus Heil
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