| # taz.de -- Abschied von Hartz IV: Inflation frisst Bürgergeld | |
| > Mehr Weiterbildung, weniger Sanktionen: 2023 soll das Bürgergeld Hartz IV | |
| > ablösen. Der Regelsatz steigt um 50 Euro – zu wenig, sagen | |
| > Sozialverbände. | |
| Bild: Wenn dir Arbeitsminister Heil (links) erzählt, dass du 53 Euro mehr beko… | |
| Berlin taz | Gleich am Mittwochmorgen wird Bundesarbeitsminister Hubertus | |
| Heil (SPD) im „ZDF-Morgenmagazin“ in die Defensive gedrängt. Er soll sich | |
| zum neuen Bürgergeld erklären. Der Moderator konfrontiert ihn mit der | |
| Aussage einer langjährigen Hartz-IV-Bezieherin, die von der geplanten | |
| Erhöhung um 50 Euro wenig habe angesichts der Inflation und steigender | |
| Stromkosten. | |
| Heil bleibt ruhig und nickt. „Ich weiß, dass auch das neue Bürgergeld eine | |
| Grundsicherung ist, die ein Existenzminimum absichert – nicht mehr, aber | |
| auch nicht weniger“, antwortet er. Dann leitet er über zu all den | |
| Verbesserungen, die das neue Bürgergeld mitbringen soll: Weniger | |
| Bürokratie, mehr Weiterbildung, mehr Kooperation, weniger Sanktionen. „Der | |
| Geist des neuen Systems“ sei der der „Ermutigung und Befähigung“, erklä… | |
| Heil. | |
| Am Mittwoch hat das Bundeskabinett die Einführung des neuen Bürgergelds | |
| beschlossen. Heils Gesetzentwurf wird nun im Bundestag beraten. Zum 1. | |
| Januar 2023 soll das heutige Hartz-IV-System abgelöst werden. | |
| Für die Sozialdemokraten ist die Bürgergeldreform auch ein Stück weit | |
| politische Traumabewältigung, der endgültige Abschied von Hartz IV. Denn | |
| mit der Reform soll ein neuer Ansatz gelten: Weniger Härte und Sanktionen, | |
| dafür mehr Weiterbildungsmöglichkeiten und mehr Geld. | |
| ## SPD lobt sich selbst für 53 Euro mehr | |
| „Das neue Bürgergeld bietet Sicherheit und eröffnet Chancen“, twitterte | |
| Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Mittwoch. Es orientiere sich an der | |
| bevorstehenden Inflationsrate und sei weniger bürokratisch. „Zum 1. Januar | |
| lassen wir Hartz IV hinter uns“, schrieb der Kanzler. Auch | |
| [1][Arbeitsminister Hubertus Heil] lobte sich selbst: „Mit dem Bürgergeld | |
| stärken wir den Sozialstaat und bringen Menschen dauerhaft aus der | |
| Arbeitslosigkeit.“ | |
| Konkret sieht der Gesetzentwurf aus dem Arbeitsministerium Folgendes vor: | |
| Die Höhe der Sätze wird steigen. Ab 2023 soll der Regelsatz für | |
| alleinstehende Erwachsene etwa von 449 Euro auf 502 Euro steigen – das sind | |
| 53 Euro mehr. Zudem soll künftig bei der jährlichen Anpassung der | |
| Regelsätze die Inflation schneller berücksichtigt werden. Bisher wird die | |
| Inflation nur sehr zeitverzögert berücksichtigt und kann tatsächliche | |
| Mehrbelastungen kaum ausgleichen. | |
| Doch die grundsätzliche Berechnung des Existenzminimums bleibt unverändert: | |
| Die Regelsätze orientieren sich an den durchschnittlichen Ausgaben der | |
| Einkommensschwächsten – zudem werden Ausgaben für „nicht bedarfsrelevante | |
| Güter“, etwa Zigaretten oder Zimmerpflanzen, herausgerechnet. Diese Methode | |
| des Kleinrechnens steht seit Jahren in der Kritik. | |
| Eine große Neuerung des Bürgergeldes ist jedoch die Abschaffung des | |
| sogenannten Vermittlungsvorrangs, der eine Arbeitsaufnahme höher wertet als | |
| Weiterbildung. In der Praxis bedeutet das oft, dass Menschen in schlecht | |
| bezahlte Aushilfsjobs gedrängt werden, anstatt die Chance zu bekommen, sich | |
| weiterzuqualifizieren. Nun soll ein Paradigmenwechsel her: So sieht das | |
| Bürgergeld ein monatliches Weiterbildungsgeld von 150 Euro vor. | |
| Zudem soll vieles unbürokratischer und nachsichtiger werden. | |
| Bürgergeld-Bezieher*innen sollen in den ersten zwei Jahren in ihrer Wohnung | |
| bleiben können, auch wenn sie eigentlich zu groß ist. In dieser Zeit dürfen | |
| auch Ersparnisse bis zu 60.000 Euro behalten werden, für jede weitere | |
| Person im Haushalt 30.000 Euro mehr. Diese Regelung wurde bereits während | |
| der Coronapandemie eingeführt und wird jetzt verstetigt. Doch auch nach | |
| diesen zwei Jahren dürfen Bürgergeldempfänger*innen mehr | |
| „Schonvermögen“ besitzen als bisher. Zudem sollen die Zuverdienstgrenzen | |
| erhöht werden. | |
| ## Sanktionen bleiben | |
| Was die Gemüter jedoch am meisten erregt, ist das Thema Sanktionen. Diese | |
| werden nach dem Gesetzentwurf zwar nicht abgeschafft, aber deutlich | |
| abgemildert. Im ersten halben Jahr des Bürgergeldbezugs – im Entwurf heißt | |
| es „Vertrauenszeit“– soll es keine Sanktionen geben, außer bei | |
| Terminversäumnis. Anschließend kann das Bürgergeld wieder um bis zu 30 | |
| Prozent gekürzt werden. Härtere Sanktionen für unter 25-Jährige werden | |
| hingegen abgeschafft. Erst vor Kurzem wurde eine [2][Studie des Instituts | |
| für Sozial- und Wirtschaftsforschung (INES)] vorgestellt, die zu dem | |
| Ergebnis kam, dass Sanktionen nicht nachhaltig in Arbeit bringen, sondern | |
| einschüchtern und krank machen können. | |
| Während Sozialverbände die Sanktionen und vor allem zu niedrige Regelsätze | |
| kritisieren, polterte etwa der Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer, | |
| dass die Reform den Anreiz zu arbeiten mindere. Auch die Union kritisierte | |
| Fehlanreize – es ist der übliche Reflex, Geringverdiener*innen und | |
| Arbeitslose gegeneinander auszuspielen. „Das Bürgergeld sorgt dafür, dass | |
| Nichtarbeit deutlich attraktiver wird. Das ist eine Respektlosigkeit | |
| gegenüber den Arbeitslosen und den Steuerzahlern, die mit ihren Beiträgen | |
| das Solidarsystem finanzieren“, monierte etwa der arbeitsmarktpolitische | |
| Sprecher der CDU/CSU Bundestagsfraktion, Stephan Stracke. Das bewege sich | |
| „in Richtung eines bedingungslosen Grundeinkommens.“ | |
| Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VdK Deutschland, konterte | |
| die Kritik. Das Problem seien nicht erhöhte Regelsätze, sondern die geringe | |
| Bezahlung im Niedriglohnsektor: „Das ist eine deutliche Aufforderung an | |
| die, die niedrige Löhne bezahlen, dass sie besser bezahlen.“ Man könne | |
| nicht sagen, „der Hartz-IV-Regelsatz ist jetzt zu hoch und die | |
| Niedriglöhner haben keinen Abstand mehr.“ | |
| Grüne und FDP zeigten sich zufrieden. „Gerade jetzt in einer Krise ist das | |
| Signal klar: Wir lassen Menschen, die wenig haben, nicht allein“, sagte | |
| Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann. Jens Teutrine, Sprecher für | |
| Bürgergeld der FDP-Fraktion, begrüßte ebenfalls das Reformvorhaben. Das | |
| Bürgergeld schaffe „mehr Fairness und Leistungsgerechtigkeit“. Ziel sei ein | |
| Sozialstaat, der „Chancen schafft, sich von der Abhängigkeit von | |
| Sozialleistungen zu befreien.“ | |
| Die sozialpolitische Sprecherin der Linksfraktion, Jessica Tatti, zog ein | |
| gemischtes Fazit: „Es finden sich Licht und Schatten im Gesetzesentwurf, | |
| das Wichtigste aber fehlt: eine ehrliche Bemessung und Erhöhung der | |
| Regelsätze.“ Eine Abkehr von Hartz IV kann sie darin nicht erkennen. Tatti | |
| kritisierte „die miese Kleinrechnerei“ und forderte „einen ehrlich | |
| berechneten Regelsatz von 687 Euro.“ | |
| Die AfD demonstrierte mal wieder, dass sie nicht an der Seite der ärmeren | |
| Bevölkerungsschichten steht, anders als sie im Zuge der Energiekrise | |
| vielfach zuletzt behauptete: „Das Bürgergeld nimmt der arbeitenden | |
| Bevölkerung den Leistungswillen“, behauptete Fraktions-Vize Norbert | |
| Kleinwächter und vermischte seine sozialdarwinistische Meinung noch mit | |
| rassistischen Ressentiments: Man mache das Land „zum Fluchtpunkt von | |
| Wirtschaftsmigranten“, so Kleinwächter. | |
| 14 Sep 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Arbeitsminister-Heil-zum-Buergergeld/!5878302 | |
| [2] /Hartz-IV-Nachfolger/!5877953 | |
| ## AUTOREN | |
| Jasmin Kalarickal | |
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