Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Grundeinkommen im Feldversuch: Die entspannende Wirkung von Geld
> Seit einem Jahr läuft das Pilotprojekt Grundeinkommen. Einer hat seinen
> Zweitjob quittiert, die andere ist in Elternzeit.
Bild: Ohne Grundeinkommen müsste Sarah Bäcker mit 800 Euro Eltern- und 200 Eu…
Berlin taz | Dennis Dettmer hat seinen Zweitjob als Versicherungsmakler
aufgegeben. „Glücklicherweise kann ich mir das jetzt leisten“, sagt der
29-jährige Zeitsoldat aus Meißen. Nun konzentriert er sich auf seine
Haupttätigkeit bei der Bundeswehr. Mit Blick auf seine finanzielle Lage
fühlt Dettmer sich im Unterschied zu früher entspannt, weil er seit mehr
als einem Jahr am Pilotprojekt Grundeinkommen teilnimmt.
Monatlich erhalten er und 121 weitere Bundesbürger:innen 1.200 Euro
zusätzlich zu ihren normalen Verdiensten, steuerfrei und geschenkt. Das
Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), der Verein Mein
Grundeinkommen und mehrere Universitäten untersuchen, wie eine
bedingungslose Zahlung das Leben verändert. Legen sich die Leute etwa in
die soziale Hängematte?
Das dreijährige Pilotprojekt entstand im Zuge der jahrzehntelangen Debatte
um Hartz IV und die Reform des Sozialstaates. Es läuft seit Sommer 2021.
Regelmäßig fragt die taz bei einigen Teilnehmer:innen nach, was sich
bei ihnen verändert.
Auch der Wertabsturz der Kryptowährungen bringt Dettmer nicht zur
Verzweiflung. Vorsichtig hatte er ein paar Hundert Euro investiert, die
Kurse explodierten, schließlich standen über 2.000 Euro in seinem Depot.
Nun ist es fast wieder auf den Ausgangswert gesunken. „Ja, ich bin
enttäuscht“, sagt Dettmer. Aber eine Katastrophe ist das für ihn nicht.
## Mehr Lebensqualität
2.400 Euro netto monatlich verdient er als Gruppenführer, der 20
Soldat:innen unter sich hat. Damit liegt er im Umfeld des
durchschnittlichen Einkommens der deutschen Privathaushalte. Die 1.200 Euro
mehr aus dem [1][Grundeinkommensprojekt] machen daraus einen
überdurchschnittlichen Verdienst. Geld ist plötzlich nicht mehr knapp. So
entschied sich Dettmer, den Zweitjob aufzugeben, der ihm einen kleinen
Zusatzverdienst bringen sollte, bevor er als Versuchsperson ausgewählt
wurde.
Nun kann er etwas mehr in eine höhere Lebensqualität investieren – einmal
mehr essen gehen mit der Freundin, öfter ins Kino. „Und einen
Kaffeevollautomaten habe ich mir auch gegönnt“, sagt Dettmer. Wobei er
betont, dass er das meiste zusätzliche Geld spart, unter anderem um den
Diesel abzubezahlen, den er braucht, um regelmäßig den weiten Weg vom
sächsischen Meißen zur Kaserne in Hessen zurückzulegen.
Die bessere materielle Ausstattung wirke sich auch positiv auf seine
körperliche Verfassung aus, berichtet Dettmer. Weniger als früher leide er
an Zahnschmerzen. Er führt das darauf zurück, dass er weniger unter
allgemeinem Stress stehe.
Das Pilotprojekt generiert Berichte wie diesen über die individuellen
Vorteile eines Grundeinkommens. Kein Wunder: 1.200 Euro netto monatlich
bedeuten einen wesentlichen Unterschied und bringen viele Leute materiell
in einen Bereich, in dem sie sich keine finanziellen Sorgen mehr machen
müssen. Aber reicht das als politische Begründung für eine superteure
gesellschaftliche Reform?
## Die Idee Grundeinkommen wirkt
Erhielten 80 Millionen Bundesbürger:innen jeweils 10.000 Euro pro
Jahr, kostete das die Gesellschaft 800 Milliarden Euro – eine utopische
Größenordnung. Einige Sozialleistungen fielen dann zwar weg, weil sie
überflüssig würden. Ein paar Hundert Milliarden Euro pro Jahr blieben als
Mehrkosten unterm Strich jedoch zu finanzieren – unklar, wie. Trotzdem
wirkt die Idee des Grundeinkommens schon jetzt auch praktisch. Die
politische Lage verschiebt sich. Die SPD räumt gerade Hartz IV ab, den
wichtigsten Auslöser für die hiesige Debatte über das Grundeinkommen.
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil legte Ende Juli seinen Vorschlag für
die neue Sozialleistung [2][namens „Bürgergeld“ vor]. Das Prinzip: Die
monatlichen Überweisungen sollen großzügiger ausfallen.
Bei der Vorstellung des dritten Entlastungspakets, das die Regierung vorige
Woche beschlossen hat, gab SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz bekannt, dass die
Empfänger und Empfängerinnen des neuen Bürgergelds ab dem Jahreswechsel
rund 500 Euro erhalten sollen. Ab 2023 wären das etwa 860 Euro pro Kopf
statt heute durchschnittlich 800 Euro inklusive Wohnkosten.
Außerdem will Heil die Bedingungen für den Erhalt des Bürgergeldes
entschärfen. Man soll mehr eigenes Vermögen behalten dürfen, und der Staat
größere Wohnungen finanzieren. Die Regierung würde sich damit ein paar
Schritte in Richtung Grundeinkommen bewegen, wobei der Abstand zu einer
existenzsichernden bedingungslosen Leistung immer noch beträchtlich bliebe.
## Kleine Schritte
Dass die Idee des Grundeinkommens einflussreich ist, sieht man auch an
einer weiteren Initiative. Ein „Bildungsgrundeinkommen“ propagierten
kürzlich das Zentrum Liberale Moderne und die Bertelsmann-Stiftung. Alle
Erwerbspersonen sollen demnach das Recht erhalten, drei Jahre lang 1.200
Euro monatlich vom Staat zu bekommen, um sich weiterzubilden.
Die grundsätzliche Idee: Für die Wirtschaft wie für die Individuen ist es
gleichermaßen nötig und vorteilhaft, dass die beruflichen Qualifikationen
an die Erfordernisse der Digitalisierung und ökologischen Transformation
angepasst werden. Der Staat soll das ermöglichen, indem er für eine gewisse
Zeit einen gesicherten Lebensunterhalt zur Verfügung stellt.
Als die neue Chefin der Bundesagentur für Arbeit, Andrea Nahles (SPD), noch
Bundesarbeitsministerin war, ließ sie eine vergleichbare Vision
niederschreiben. Auch dies kann man als kleinen Schritt in Richtung eines
„bedingten Grundeinkommens“ bezeichnen.
„Ich schaue entspannt in die Zukunft“, sagt Sarah Bäcker. Sie ist eine
weitere Teilnehmerin im Pilotprojekt. Bei der 40-jährigen Architektin haben
sich während des Projekts große Dinge getan: Seit vier Monaten ist sie
Mutter ihrer Tochter Alva.
Dank des Grundeinkommens hat Bäcker eine „luxuriöse“ Entscheidung
getroffen: „Ich nehme anderthalb Jahre Elternzeit.“ Die 1.200 Euro
zusätzlich erleichtern das. Ihre materielle Situation empfindet Bäcker als
„komfortabel“. Sie lässt sich Zeit damit, eine Kita zu suchen. Erst ab
September 2023 will sie wieder im Architekturbüro arbeiten.
## Kein finanzieller Druck
Ohne das Grundeinkommen müsste sie mit etwa 800 Euro Eltern- und 200 Euro
Kindergeld auskommen – und stünde unter finanziellem Druck. Im Prinzip ist
sie alleinerziehend, sie wohnt nicht mit dem Vater der Tochter zusammen,
wobei sich dieser aber ebenfalls um die Erziehung kümmert.
Unter normalen Umständen würde Bäcker jetzt wohl aufstockendes Hartz IV und
Wohngeld beantragen. „Zum Glück spielen diese Fragen keine Rolle“, sagt
sie. „Ich brauche nicht nachzuweisen, ob ich bedürftig bin.“ Und
„hoffentlich“, fügt sie hinzu, „muss ich mir darüber niemals Gedanken
machen“.
Auch diese Situation einer Teilnehmerin des Pilotprojekts steht in
Verbindung zu einer aktuellen Debatte. Bundesfamilienministerin Lisa Paus
(Grüne) arbeitet an einem Vorschlag für die [3][Kindergrundsicherung], die
die Koalition einführen will. Details gibt es noch nicht. Aber richtig
ausgestaltet wäre das ebenfalls ein Schritt in Richtung Grundeinkommen, der
die Lage von Eltern mit niedrigen Einkommen deutlich entspannen würde.
12 Sep 2022
## LINKS
[1] /Bedingungsloses-Grundeinkommen/!5794276
[2] /Arbeitsminister-Heil-zum-Buergergeld/!5878302&s=hubertus+heil/
[3] /Kernthema-der-Gruenen/!5875291
## AUTOREN
Hannes Koch
## TAGS
Grundeinkommen
Bürgergeld
Hartz IV
Bürgergeld
Hartz IV
Bedingungsloses Grundeinkommen
Lesestück Recherche und Reportage
Bedingungsloses Grundeinkommen
## ARTIKEL ZUM THEMA
Abschied von Hartz IV: Inflation frisst Bürgergeld
Mehr Weiterbildung, weniger Sanktionen: 2023 soll das Bürgergeld Hartz IV
ablösen. Der Regelsatz steigt um 50 Euro – zu wenig, sagen Sozialverbände.
Hartz-IV-Nachfolger: Wie viel Bürgergeld darf's sein?
Der Regelsatz soll 502 Euro betragen. Sozialverbände kritisieren das als zu
niedrig, der Handwerksverband als zu hoch.
Volksbegehren Grundeinkommen in Berlin: Klar gescheitert
Erstmals seit langem findet ein Volksbegehren nicht genug Unterschriften.
Für einen Entscheid fehlen der Initiative zehntausende Unterstützer*innen.
Bedingungsloses Grundeinkommen: „Die Zahnschmerzen sind weg“
Was ändert sich, wenn man 1.200 Euro pro Monat geschenkt bekommt? Drei
Teilnehmer:innen des Pilotprojekts Grundeinkommen berichten.
Pilotprojekt Grundeinkommen: Nur eine schöne Idee
Das erste wissenschaftlichen Projekt zum Grundeinkommen in Deutschland
beginnt. Doch die Idee taugt nicht als neue soziale Sicherung.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.