# taz.de -- Bedingungsloses Grundeinkommen: „Die Zahnschmerzen sind weg“ | |
> Was ändert sich, wenn man 1.200 Euro pro Monat geschenkt bekommt? Drei | |
> Teilnehmer:innen des Pilotprojekts Grundeinkommen berichten. | |
Bild: Sarah Bäcker ist 39 und lebt in Berlin. Sie bekommt 1.200 Euro Grundeink… | |
Sogar Haarproben mussten die Leute abgeben, bevor es losging. Denn an der | |
Menge eines bestimmten Hormons in den Haaren lässt sich ablesen, wie viel | |
Stress die Person in den vergangenen Monaten oder Jahren erlebte. Das ist | |
eine der Fragen, die die Wissenschaftler:innen im [1][Pilotprojekt | |
Grundeinkommen] interessiert: Ändert sich das persönliche Wohlbefinden | |
durch soziale Sicherheit? | |
Sarah Bäcker ist eine von 122 Teilnehmer:innen in dem Experiment, das | |
Anfang Juni startete. Mittlerweile hat die 39-Jährige vier Überweisungen zu | |
je 1.200 Euro erhalten, zusätzlich zu ihrem normalen Verdienst – | |
steuerfrei, geschenkt, ohne Verpflichtung zu irgendeiner Gegenleistung, | |
außer derjenigen, den Wissenschaftler:innen Auskunft zu geben. Als | |
Bäcker an diesem Freitagnachmittag auf dem sonnigen Hof der alten | |
Kindl-Brauerei in Berlin-Neukölln sitzt, wirkt sie entspannt. Sie und | |
weitere Teilnehmer:innen wird die taz nun drei Jahre begleiten, bis zum | |
Ende des Projekts. | |
Das Bedingungslose Grundeinkommen ist das Gegenteil von [2][Hartz IV]. Seit | |
der Einführung von Hartz IV Anfang der 2000er Jahre läuft die Debatte über | |
ein menschenfreundliches Sozialmodell, das nicht auf Druck, Zwang und | |
Strafen beruht. Die Idee: Alle Bürger:innen sollen einen | |
existenzsichernden Betrag erhalten. Erstmals wird nun in Deutschland | |
wissenschaftlich untersucht, welche Auswirkungen das in der Praxis hätte. | |
„Dann lebte ich halt eine Zeit lang von Toast und Kartoffeln“, sagt Bäcker, | |
Architektin und Ausstellungsmacherin, im Rückblick auf ihr bisheriges | |
Berufsleben. „Viele Jahre hatte ich extrem wenig Geld und war wahnsinnig | |
sparsam.“ Sich zu verschulden oder staatliche Hilfe zu beantragen, kam aber | |
nicht infrage. Bäcker ist aufgewachsen in Oberhausen im Ruhrgebiet, sie | |
stammt aus einer sozialdemokratischen Arbeiterfamilie. Ehrliches | |
Geldverdienen mit der eigenen Arbeit gehört für sie zu den Grundwerten. | |
„Erst seit zwei Jahren kann ich eine eigene Wohnung finanzieren“, sagt sie. | |
Ihr normales Einkommen beträgt etwa 1.500 Euro netto monatlich. „Da bleibt | |
nicht viel übrig.“ Während der vergangenen Jahre habe sie mehr und mehr | |
eine Unsicherheit verspürt: „Ich bin fast 40 und habe kaum Eigentum.“ | |
Bäcker betont allerdings, dass sie sich das mitunter asketische Leben | |
freiwillig so einrichte, weil sinnvolles, selbstbestimmtes Arbeiten ihr | |
viel wichtiger erscheine als ein höheres Einkommen. „Insgesamt fühle ich | |
mich privilegiert.“ | |
Sie strahlt, wenn sie über ihre Projekte spricht. Im „Studio Achtviertel“ | |
gestaltet Bäcker zusammen mit ihrer Geschäftspartnerin Ausstellungen, | |
aktuell ein mobiles Geschichtslabor in Karlsruhe. Bei der halben Stelle im | |
Berliner Architektur- und Stadtforschungsbüro „subsolar*“ geht es eher um | |
klassische Planung und Bürger:innenbeteiligung. | |
Hier auf dem alten Brauereigelände entwirft Bäcker nun zusammen mit ihren | |
Kolleg:innen eine Freifläche, eine Art Marktplatz für das umliegende | |
Viertel. Bunt ist der Ort schon heute. Aus den Bretterkisten und Hochbeeten | |
des „Vollguten Gemeinschaftsgartens“ wuchern Sonnenblumen, Büsche und | |
Bäume. Auf Paletten und in Liegestühlen sitzen Leute aus verschiedenen | |
Gegenden der Welt. Auf der kleinen Bühne neben dem Infopavillon beginnt | |
gleich ein Konzert, drei Frauen checken ihren Sound. Die Qualität des Ortes | |
soll in die Zukunft gerettet werden. Die Chancen stehen nicht schlecht: | |
Eine Schweizer Stiftung hat das Fabrikareal gekauft, um es dem | |
Immobilienmarkt zu entziehen. | |
Das zusätzliche Geld – viermal 1.200 Euro – liegt nun auf Bäckers Konto. | |
Sie hat es bis jetzt nicht angerührt. Jeden Monat kommt derselbe Betrag | |
hinzu. Auf der Oberfläche hat sich nichts geändert. Sie arbeitet weiter wie | |
bisher. Um ihren bescheidenen Lebensstandard zu finanzieren, benötigt sie | |
die Überweisung nicht. Und doch bemerkt Bäcker eine Wirkung: [3][„Das | |
Gefühl ändert sich, ich verspüre weniger Druck.“] Vorher habe sie „manch… | |
Existenzangst“ gehabt. Nun denkt sie: „Egal was passiert, ich bin | |
aufgefangen. Konkret brauche ich zum Beispiel keine Sorgen mehr zu haben, | |
ob ich mir in dieser Stadt eine Wohnung leisten kann. Das gibt mir | |
Sicherheit.“ | |
Was sie mit dem Geld machen soll, weiß Bäcker noch nicht. Gäbe sie es nicht | |
aus, verfügte sie nach drei Jahren über 43.200 Euro. Das reicht als | |
Eigenkapital für den Kauf einer ordentlichen Eigentumswohnung. Sie könnte | |
auch eine Auszeit nehmen, um eine Doktorarbeit oder ein Buch zu schreiben. | |
Mal sehen, das wird die Zeit zeigen. | |
## Weniger Stress und seltener krank | |
Dennis Dettmer dagegen hat eine genaue Vorstellung, wozu das Geld gut ist. | |
Erstmal bedient er damit die monatlichen Raten des Kredits. Er brauchte ein | |
neues Auto, kein luxuriöses, nur ein zuverlässiges Fortbewegungsmittel. So | |
erwarb er einen gebrauchten Ford Focus. Nach einem Jahr Grundeinkommen kann | |
Dettmer die 15.000 Euro dann „auf einen Schlag zurückzahlen“. | |
Der 28-Jährige ist auf den Wagen angewiesen. Als Zeitsoldat arbeitet er bei | |
der Bundeswehr. Regelmäßig pendelt er vom sächsischen Meißen, wo er mit | |
seiner Freundin wohnt, nach Hessen in die Kaserne. „Immer habe ich mir | |
einen Kopf gemacht“, sagt der Feldwebel. Etwa 400 Euro kostet der Sprit im | |
Monat – eine Menge angesichts seines Gehalts von rund 2.000 Euro netto. | |
Damit die Finanzen nicht so knapp sind, absolviert er eine Zusatzausbildung | |
als Versicherungsmakler. Bald will er von seinem heimischen Büro aus die | |
ersten Kund:innen betreuen. | |
Dank des Grundeinkommens freut sich Dettmer nun über den „etwas höheren | |
Lebensstandard“. Unlängst hat er sich und seiner Freundin ein | |
Fünf-Gänge-Menü im Restaurant spendiert. Der erstaunlichste Effekt der | |
neuen Lebenslage jedoch ist dieser: „Die Zahnschmerzen sind weg, die | |
Kopfschmerzen auch.“ Sein Zahnarzt habe ihm erklärt, dass solche Symptome | |
mit Stress zusammenhängen können, sagt Dettmer. „Jetzt gehe ich ganz anders | |
ran, fühle mich wohler, bin nicht mehr dauernd müde und viel seltener | |
krank.“ | |
## Nicht weniger Arbeit, sondern mehr vom Leben | |
Mittagspause: Elisabeth Ragusa sitzt auf dem Hof der Firma im | |
baden-württembergischen Herbolzheim und scrollt durch die Mails auf ihrem | |
Smartphone. Da ist sie plötzlich, die Zusage vom Pilotprojekt. „Ich habe | |
echt die Gabel fallen gelassen.“ Sofort ruft sie ihre Schwester an. „Beide | |
sind wir vor Freude herumgehüpft.“ | |
Ragusa, 28 Jahre alt, arbeitet als Industriekauffrau in einer Druckerei, | |
die Etiketten, zum Beispiel für Weinflaschen, herstellt. 1.900 Euro netto | |
erhält sie am Monatsende, wovon 800 Euro Fixkosten für Miete, Auto und | |
andere Posten abgehen. Das ist kein schlechtes Einkommen, aber große | |
Sprünge kann sie nicht machen. Schon lange führt sie ein Haushaltsbuch, um | |
zu sehen, wo das Geld eigentlich bleibt. Trotzdem vergingen ganze fünf | |
Jahre, bis sie drei Monatsgehälter als Sicherheitsreserve für Notfälle auf | |
dem Konto angespart hatte. | |
Mit dem [4][Spielraum des Grundeinkommens] hat Ragusa sich jetzt zuerst ein | |
neues Fahrrad gegönnt. Außerdem kann sie ihrer Schwester einen Teil des | |
Führerscheins finanzieren. Der größte Teil der zusätzlichen Einnahmen liegt | |
aber noch auf dem Konto und gibt „Sicherheit, ein schönes Gefühl“. Und da… | |
sagt Ragusa noch diesen Satz: „Warum sollte ich aufhören zu arbeiten?“ | |
Damit kommt sie auf die politische Debatte zu sprechen, die Hintergrund und | |
Anlass für das Pilotprojekt ist. Viele Politiker:innen und | |
Ökonom:innen befürchten, dass die Leute weniger arbeiten, wenn sie nicht | |
auf jeden Euro angewiesen sind. Die möglichen negativen Auswirkungen: Der | |
ohnehin bestehende Mangel an Arbeitskräften nimmt zu, die Steuer- und | |
Sozialeinnahmen sinken, während die Ausgaben für das Grundeinkommen | |
explodieren. | |
Was Dennis Dettmer und Elisabeth Ragusa berichten, deutet allerdings in | |
eine andere Richtung. Sie wollen ihre Arbeit nicht reduzieren, sondern | |
freuen sich über den höheren Lebensstandard. Sarah Bäcker denkt zwar über | |
eine Auszeit nach, würde diese aber mit einer neuen Form von Arbeit füllen. | |
Freilich sind das zu diesem Zeitpunkt nur allererste, anekdotische Befunde. | |
Zwei positive Effekte des Grundeinkommens erscheinen jedoch bereits jetzt | |
eindeutig zu sein. Erstens: Einkommen von 1.500 bis 2.000 Euro netto | |
monatlich, die Millionen Arbeitnehmer:innen hierzulande erhalten, | |
werden als knapp bemessen erlebt. Viele Menschen bedrückt ein Gefühl | |
materieller Unsicherheit – trotz, oder gerade weil sie | |
Durchschnittsverdienste beziehen. Und zweitens: 1.200 Euro mehr verschaffen | |
ein Gefühl sozialer Sicherheit. Dadurch nimmt die Lebensqualität erheblich | |
zu. | |
5 Sep 2021 | |
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## AUTOREN | |
Hannes Koch | |
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