| # taz.de -- Bedingungsloses Grundeinkommen: Nicht finanzierbar | |
| > Das bedingungslose Grundeinkommen ist nicht realistisch. Denn: Das | |
| > Gießkannenprinzip dahinter schafft neue Ungerechtigkeiten. | |
| Bild: Flaute in der Geldbörse: Das Grundeinkommen ist auch nicht die Lösung f… | |
| Die Idee [1][eines bedingungslosen Grundeinkommens] ist von bestechender | |
| Einfachheit: Jeder Bürger bekommt einen festen, bundesweit einheitlichen | |
| Betrag, der zum Leben ausreicht. Im Gegenzug werden alle anderen | |
| Sozialleistungen abgeschafft, um für den Staat den nötigen finanziellen | |
| Spielraum zu schaffen. Gerade die Covid-Krise mit ihren Härten hat dieser | |
| Idee zusätzliche Popularität verschafft. | |
| [2][In seinem jüngsten Gutachten widmet sich der Wissenschaftliche Beirat | |
| beim Bundesfinanzministerium], in dem wir Mitglieder sind, diesem Konzept. | |
| Und es kommt dabei zu einem klaren Urteil: Die Idee ist nicht finanzierbar. | |
| Wirtschaftlich machbar wäre ein bedingungsloses Grundeinkommen in kleinerem | |
| Rahmen. Die Schweiz etwa gibt einen Großteil ihrer CO2-Abgabe an die Bürger | |
| zurück: Jeder bekommt im Jahr etwa 80 Euro. Aber ein existenzsicherndes und | |
| bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) ist ein Scheinriese: Je näher man ihn | |
| betrachtet, desto kleiner wird er – denn er funktioniert nicht. | |
| Das Problem ist das Gießkannenprinzip. Der Staat verzichtet freiwillig auf | |
| wertvolle Informationen und macht die soziale Sicherung daher sehr teuer. | |
| Beispiel Mieten: Ein Schweriner würde ein BGE erhalten, das ausreicht, um | |
| eine Münchner Miete zu zahlen – Zielgenauigkeit sieht anders aus. Das zeigt | |
| sich auch bei der sozialen Sicherung von unterschiedlich großen Haushalten. | |
| Beim BGE kommt es nicht auf die Familiengröße an, beim Bedarf jedoch sehr | |
| wohl. So braucht ein Zweipersonenhaushalt keine zweite Küche und kein | |
| zweites Badezimmer. Die beim Arbeitslosengeld II übernommenen Kosten der | |
| Unterkunft berücksichtigen das ebenso wie das Wohngeld. Anders das BGE: Es | |
| behandelt ein Paar, als hätte jeder Partner eine eigene Wohnung. Es zahlt | |
| damit deutlich mehr, als notwendig ist, um den Wohnbedarf abzudecken. | |
| Wichtige Informationen zur Bedürftigkeit werden ignoriert. | |
| Will das BGE das [3][soziokulturelle Existenzminimum] im gleichen Umfang | |
| wie bislang sicherstellen, muss es mindestens so hoch angesetzt werden, | |
| dass auch die alleinstehende Münchnerin nicht schlechter gestellt wird. Das | |
| verlangt nach einem monatlichen BGE von 1.208 Euro für jeden Erwachsenen, | |
| und für ein Kind müssten es mindestens 684 Euro sein. Eine Alleinerziehende | |
| mit einem Kind erhielte demnach 1.892 Euro, eine Familie mit zwei Kindern | |
| 3.784 Euro im Monat. | |
| ## Grenzen durch Verfassungsrecht | |
| Aber das übersteigt bei Weitem den heutigen Mindestbedarf. Die vierköpfige | |
| Familie in München bekäme damit rund 1.000 Euro mehr als der heutige | |
| Mindestbedarf, in Berlin wären es knapp 1.500 Euro mehr. In der Summe wird | |
| das sehr teuer. Umgekehrt stößt ein Grundeinkommen, das nicht überall | |
| ausreichend ist, an verfassungsrechtliche Schranken. Das | |
| Bundesverfassungsgericht verlangt bedarfsgerechte soziale Unterstützung und | |
| methodisch nachverfolgbare Verfahren zur Ermittlung des jeweils konkreten | |
| Existenzminimums. Ein Pauschalbetrag für alle ist das glatte Gegenteil | |
| dieser Anforderung. | |
| Zudem dürfte dem Bund die Gesetzeskompetenz fehlen, denn es handelt sich | |
| bei einem solchen Vorhaben juristisch weder um eine Sozialversicherung noch | |
| um öffentliche Fürsorge. Das allein könnte schon der Todesstoß für ein | |
| solches Projekt sein. Denn dass für ein BGE das Grundgesetz mit | |
| Zweitdrittelmehrheiten in Bundestag und Bundesrat geändert würde, ist | |
| schwer vorstellbar. | |
| [4][Die Befürworter des BGE] argumentieren, dass man das bedingungslose | |
| Grundeinkommen finanzieren könne durch die Abschaffung aller Sozialausgaben | |
| und der damit verbundenen Verwaltungskosten. Das ist aber nur sehr | |
| eingeschränkt möglich: Viele Positionen des Sozialbudgets können gar nicht | |
| berechnet werden. Das betrifft die private Altersvorsorge, die betriebliche | |
| Altersvorsorge und die Lohnfortzahlungen durch die Arbeitgeber. Und die | |
| Kosten der gesetzlichen und privaten Kranken- und Pflegeversicherung sowie | |
| der Beihilfe für Beamte fallen weiterhin an und können nicht zur | |
| Finanzierung des BGE verwendet werden, ebenso wenig wie die Renten- und | |
| Pensionszahlungen. Hier handelt es sich um Ansprüche mit | |
| eigentumsrechtlichem Charakter. | |
| Berücksichtigt man diese Aspekte, so stehen einem jährlichen | |
| Finanzierungsbedarf von über 1 Billion Euro nur Einsparungen von 232 | |
| Milliarden Euro gegenüber. Um die Lücke zu schließen, müsste die Quote von | |
| Steuern und Abgaben von derzeit etwa 41 Prozent auf 67 Prozent ansteigen. | |
| Diese Überschlagsrechnung klammert allerdings aus, dass die Menschen ihr | |
| Verhalten ändern würden, wenn die Abgaben steigen – sie würden vermutlich | |
| weniger arbeiten, was die Einnahmen aus der Einkommensteuer drückt. | |
| Viel Hoffnung wird in Feldexperimente gesetzt, obwohl solche Experimente | |
| schon seit den 1960er Jahren gemacht werden. Die Experimente sind nur sehr | |
| begrenzt aussagefähig, weil sie eher die Effekte eines Lottogewinns | |
| durchspielen und all diejenigen, die unterm Strich für das BGE zahlen | |
| müssten, außen vor lassen. Denn während Feldexperimente von außen | |
| finanziert werden, muss sich ein reales BGE durch eine höhere Steuer auf | |
| Arbeit selbst finanzieren. | |
| Und bei diesen Berechnungen ist noch nicht einmal ein Aspekt | |
| berücksichtigt, den die Verfechter des BGE oft vernachlässigen: die | |
| Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa. Ein BGE dürfte nicht nur diejenigen, | |
| die das BGE zu finanzieren haben, aus dem Land treiben, sondern auch als | |
| Magnet für einkommensschwächere EU-Bürger dienen. Das würde einem | |
| realpolitischen Experiment schnell ein Ende bereiten. | |
| In der Gesamtschau gilt: Ein bedingungsloses, existenzsicherndes | |
| Grundeinkommen ist weder finanzierbar noch verfassungsrechtlich umsetzbar. | |
| Die Diskussion sollte sich besser [5][den Reformbaustellen der | |
| bedarfsorientierten Grundsicherung] widmen. Denn Reformbedarf gibt es dort | |
| zweifelsohne. | |
| 26 Nov 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Pilotprojekt-Grundeinkommen/!5771782 | |
| [2] https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Ministeri… | |
| [3] https://de.wikipedia.org/wiki/Existenzminimum | |
| [4] /Parteitag-der-Gruenen/!5725627 | |
| [5] /Buergergeld-in-Koalitionsverhandlungen/!5806593 | |
| ## AUTOREN | |
| Andreas Peichl | |
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| Alfons Weichenrieder | |
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