| # taz.de -- Wirtschaftswissenschaftler über Hartz IV: „Milde Form der Rezipr… | |
| > Holger Schäfer vom arbeitgebernahen IW-Institut ist gegen einen höheren | |
| > Mindestlohn. Auch von einem bedingungslosen Grundeinkommen hält er | |
| > nichts. | |
| Bild: Mehr Mindestlohn wäre schon was: Lieferando-Fahrer in Stuttgart | |
| taz: Herr Schäfer, die SPD, die Grünen und die Linkspartei wollen den | |
| Mindestlohn auf mindestens zwölf Euro in der Stunde erhöhen. Würde das die | |
| Armutslagen verbessern und die Zahl der Hartz-IV-EmpfängerInnen verringern? | |
| Holger Schäfer: Es kommt darauf an, wie die Reaktionen auf die | |
| Mindestlohnerhöhung ausfallen. Sicher werden mit der Erhöhung des | |
| Mindestlohnes einige Menschen ein höheres Monatseinkommen haben und damit | |
| über die Grenze rutschen, bis zu der ein Anspruch auf Arbeitslosengeld II | |
| besteht. Aber es gibt auch das Risiko, dass Arbeitsplätze verloren gehen, | |
| weil sie sich durch den höheren Mindestlohn nicht mehr rechnen und dann | |
| wegfallen. Dann müssten Erwerbstätige, die heute zum Mindestlohn arbeiten, | |
| wieder ausschließlich von Arbeitslosengeld II leben, weil es ihre Jobs | |
| nicht mehr gibt. Das kann niemand wollen. | |
| Vor der Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes im Jahre 2015 wurde davor | |
| gewarnt, dass Hunderttausende Arbeitsplätze durch die Lohnerhöhung | |
| wegfallen könnten. Dies ist nicht passiert. Und heute haben wir | |
| Arbeitskräftemangel. Also stehen die Chancen doch gut für eine Erhöhung. | |
| Der Mindestlohn ist nur ein Faktor von vielen für die Beschäftigung. Bei | |
| der Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes im Jahre 2015 waren die | |
| Rahmenbedingungen sehr günstig. Damals ist durch die Einführung des | |
| Mindestlohns übrigens die Zahl der sogenannten Aufstocker, die ergänzende | |
| Hartz-IV-Leistungen zum Erwerbseinkommen in Anspruch nehmen müssen, nicht | |
| gesunken. | |
| Wie lässt sich das denn erklären? | |
| Das liegt einmal daran, dass viele der Aufstocker nur eine geringe | |
| Stundenzahl arbeiten, also etwa einen Minijob oder eine | |
| Teilzeitbeschäftigung haben. Außerdem spielt die Größe des Haushalts eine | |
| wichtige Rolle. Wenn man als Alleinverdiener in Vollzeit beschäftigt ist | |
| und eine Familie mit vier Personen, zwei Erwachsene und zwei Kinder, zu | |
| versorgen hat, dann muss man um die 15, 16 Euro in der Stunde verdienen, um | |
| auf den Satz zu kommen, der in Hartz IV als Bedarf für eine vierköpfige | |
| Familie definiert ist. | |
| Wäre es nicht sinnvoll, wenn Erwerbstätige, die ergänzende | |
| Hartz-IV-Leistungen beziehen, mehr vom Selbstverdienten behalten könnten, | |
| so wie die Grünen das etwa fordern? | |
| Ich finde es gut, wenn die Hinzuverdienstgrenzen zum Thema gemacht werden. | |
| Bei der Status-quo-Regelung haben wir nämlich das Problem, dass wir starke | |
| Anreize haben, als Empfänger von Arbeitslosengeld II nur einen Minijob oder | |
| eine Teilzeitbeschäftigung anzunehmen. Es gibt einen Grundfreibetrag von | |
| 100 Euro, dann bleiben noch 20 Prozent vom Gehalt bis 1.000 Euro | |
| anrechnungsfrei, darüber hinaus noch weniger. Mehr Geld zu verdienen wird | |
| also unattraktiv. | |
| Was ist denn Ihr Vorschlag? | |
| Unser Vorschlag lautet, das Erwerbseinkommen bis zur Minijobgrenze oder | |
| etwa in diesem Bereich zu 100 Prozent auf die Transferleistung anzurechnen | |
| und bei den darüber hinaus gehenden Erwerbseinkommen erheblich höhere | |
| Freibeträge zu gewähren. Damit würde mehr Anreiz geschaffen, statt einem | |
| Minijob etwa eine Stelle mit 30 Wochenstunden oder mehr anzutreten. | |
| Es gibt aber Hartz-IV-EmpfängerInnen, die schaffen nur noch ein paar | |
| Stunden Arbeit in der Woche, um dann vielleicht 150 Euro mehr an Einkommen | |
| im Monat zu erreichen. Diese Möglichkeit des kleinen Hinzuverdiensts wäre | |
| dann weg. | |
| Ich glaube, man betrügt sich selbst, wenn man sagt, alle, die in Teilzeit | |
| oder mit geringfügiger Beschäftigung die Hartz-IV-Leistung aufstocken, | |
| machen das, weil sie gesundheitlich angeschlagen und zu nichts anderem in | |
| der Lage sind. Dafür gibt es keine Belege. | |
| Man könnte auch die Erwerbsfreibeträge grundsätzlich für alle erhöhen, ohne | |
| bei den kleinsten HinzuverdienerInnen zu kürzen. | |
| Das hätte den Nachteil, dass dann, wenn ich den Erwerbsfreibetrag nach oben | |
| schraube, auch die Einkommensgrenzen für die Erwerbstätigen, die Anspruch | |
| auf ergänzende Hartz-IV-Leistungen haben, steigen. Heute hat ein | |
| Alleinstehender, der 1.600 Euro brutto verdient, unter Berücksichtigung des | |
| geltenden Freibetrags noch einen kleinen Anspruch auf ergänzende Leistungen | |
| nach Hartz IV. | |
| Steigen die Freibeträge, komme ich in Einkommensbereiche, wo vielleicht | |
| auch noch Leute mit 2.000 Euro oder mehr Bruttogehalt im Monat Anspruch auf | |
| ergänzende Leistungen hätten. Erst recht dann, wenn ich auch noch die | |
| Regelsätze erhöhe, was die Grünen und die Linkspartei fordern. Es kann aber | |
| doch nicht das Ziel sein, einen so großen Teil der Erwerbstätigen zu | |
| Empfängern von Hartz-IV-Leistungen, die aus Steuergeldern bezahlt werden, | |
| zu machen. | |
| Es gibt politische Initiativen, die ein bedingungsloses Grundeinkommen | |
| fordern. Die Grünen, die Linkspartei und mit Einschränkung auch die SPD | |
| sind zumindest für eine Aufhebung von Sanktionen von | |
| Hartz-IV-EmpfängerInnen. Was halten Sie von diesem Weg? | |
| Ohne Sanktionen würden Elemente eines bedingungslosen Grundeinkommens in | |
| die Leistung des Arbeitslosengeldes II einfließen. Unsere Gesellschaft ist | |
| aber so konzipiert, dass jeder erst mal für sich selbst verantwortlich ist. | |
| Diejenigen, die das nicht können, die haben den Anspruch auf solidarische | |
| Unterstützung. Was die Empfänger dieser Leistung schulden, ist im | |
| Wesentlichen das erkennbare Bemühen, künftig ohne diese Leistung | |
| auszukommen. | |
| Diese Gegenleistung ist eine eher milde Form der Reziprozität, die, so | |
| glaube ich, von den meisten Menschen als gerecht empfunden wird. Die | |
| Menschen sind schon altruistisch, das können wir durch Experimente | |
| feststellen. Aber sie lassen sich eben ungern ausnutzen, wenn sie | |
| feststellen, hier ist eine Sache völlig einseitig. Eine Abschaffung der | |
| Sanktionen würde den Jobcentern jede Handhabe nehmen, eine Aktivierung der | |
| Leistungsempfänger voranzubringen. | |
| 17 Aug 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Barbara Dribbusch | |
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