# taz.de -- Wirkung von Armut auf Psyche: „Mehr Stress, weniger Ressourcen“ | |
> Viele Menschen in Armut erkranken psychisch – und umgekehrt. Ein schwer | |
> zu durchbrechender Kreislauf, sagt einer, der selbst betroffen ist. | |
Bild: Armut macht krank | |
taz: Herr David, einer Studie des Robert Koch-Instituts zufolge leiden rund | |
ein Drittel der Männer und mehr als 40 Prozent der Frauen aus der unteren | |
sozialen Statusgruppe an einer psychischen Erkrankung – deutlich mehr als | |
in der mittleren und oberen Statusgruppe. Kann man also sagen: Armut macht | |
psychisch krank? | |
Olivier David: Ja, definitiv. Natürlich wird nicht jede Person, die arm | |
ist, psychisch krank. Aber es ist viel wahrscheinlicher. Das lässt sich | |
nicht monokausal erklären, sondern es sind immer mehrere Faktoren, die | |
zusammenwirken – und auch bei jeder Person unterschiedliche. Die Faktoren, | |
von denen ich vermute, dass sie meine psychische Erkrankung ausgelöst | |
haben, müssen nicht für jemand anderes gelten. | |
Warum ist das so? | |
Man hat viel mehr Stressfaktoren und zugleich weniger Zeit und Ressourcen, | |
diesen Stress zu bewältigen. Fast alles kann einem Probleme bereiten: Das | |
geht damit los, dass man auf dem Wohnungsmarkt heftiger zu kämpfen hat – | |
und dann tendenziell dort lebt, wo es lauter und beengter ist. Außerdem hat | |
man kein Geld für unvorhergesehene Ausgaben übrig. Das führt andauernd zu | |
Stress: Wie soll ich die kaputte Waschmaschine ersetzen? Wovon kann ich die | |
Klassenfahrt meiner Kinder bezahlen? Bei mir kommt hinzu, dass ich nie | |
gelernt habe, wie ich mit solchen Belastungen umgehen kann – was daran | |
liegt, dass meine Eltern mir das nicht vorgelebt haben. Ich habe nicht das | |
Gefühl entwickelt, dass ich etwas bewegen und verändern kann – für mich und | |
für andere. | |
Damit sind Sie nicht allein: Studien zu Kindern in Armut zeigen, dass das | |
Gefühl von Selbstwirksamkeit geringer ausgeprägt ist, was den Kindern | |
später Schwierigkeiten bereiten kann. Wann haben Sie denn das erste Mal | |
festgestellt: Meine materielle Situation – oder die materielle Situation | |
meiner Familie – macht mich krank? | |
Das ist erst zwei Jahre her. Ich habe gemerkt, dass ich sehr viel Wut in | |
mir trage, mein ganzes Leben schon, und dass das ein Muster in mir ist. An | |
dem Punkt habe ich mir Hilfe gesucht. Je mehr ich mich dann mit mir selbst | |
beschäftigt habe, desto größer wurden meine Probleme. Ich bin in kurzer | |
Zeit viel schwächer geworden, habe andauernd geweint und körperliche | |
Beschwerden entwickelt. Dabei ist mir nach und nach klar geworden, dass die | |
Art, wie ich aufgewachsen bin, die Ursache für die Wut und meine | |
Beschwerden ist. Das ist nicht nur die materielle Armut. Auch dass ich | |
häusliche Gewalt erlebt habe, spielt da mit rein. | |
Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie das erkannt haben? | |
Ich war erleichtert. Ich habe gemerkt, in mir ist etwas, dem ich einen | |
Namen geben kann und das ich bearbeiten kann: Eine seelische Verletzung, | |
mit der ich die ganze Zeit herumlaufe und die dazu führt, dass es für mich | |
nur eine schlechte Nachricht braucht, damit mir die ganze Welt schlecht | |
erscheint. Alles was ich dann denken und fühlen und spüren kann, ist | |
einfach nur ausweglos und schlecht. Es hat gut getan zu lernen, dass das | |
zwar zu mir gehört, aber auch zu mir gekommen ist, und ich deswegen etwas | |
dagegen tun kann. | |
Da waren Sie schon Anfang dreißig und hatten die Belastungen lange mit sich | |
herumgetragen. Warum konnten Sie das erst so spät verarbeiten? | |
Das ging erst, als ich mich das erste Mal finanziell und sozial halbwegs | |
abgesichert gefühlt habe. Ich war in einer Ausbildung, in der ich genug | |
verdient habe, und in einer Beziehung, in der ich mich fallen lassen | |
konnte. Erst dann war überhaupt der Raum da, dass alles aus mir | |
herausbrechen konnte. Vorher habe ich immer geahnt, dass irgendetwas nicht | |
stimmt. Ich dachte aber nie, dass ich Depressionen habe. Ich dachte eher: | |
Das ist jetzt gerade eine harte Phase, und habe mich weitergeschleppt. | |
Was kommt zuerst: die Armut oder die psychische Erkrankung? | |
Das verwebt sich ineinander und irgendwann kann man das nicht mehr | |
voneinander trennen. Doch für mich habe ich festgestellt: Es ist die Armut, | |
die an mich weitergegeben wurde – und unter die sich viele der Faktoren | |
summieren lassen, die ich für meine psychischen Probleme verantwortlich | |
mache. | |
Belastet Ihre psychische Gesundheit Sie so sehr, dass es Ihnen schwerfällt, | |
einen Beruf auszuüben, der Sie ernährt? | |
Unter anderem wegen meiner Psyche musste ich mein Volontariat, das ich bei | |
einer Lokalzeitung angefangen hatte, vorzeitig beenden. Ich könnte auch | |
heute nicht Vollzeit in einer Redaktion arbeiten – was auch daran liegt, | |
dass ich ADHS habe und mich schwer über einen längeren Zeitraum | |
konzentrieren kann. Das sorgt definitiv dafür, dass ich nicht viel Geld | |
habe. Außerdem habe ich kein Abitur gemacht und nicht studiert. Deswegen: | |
Ich bin dauerhaft von Armut bedroht. | |
Wie leicht ist aus Ihrer Sicht der Zugang zu Hilfe, Beratung und Diagnose? | |
Ich beobachte immer wieder, dass Menschen vermutlich psychische | |
Erkrankungen haben und das nicht wissen, nicht wahrhaben wollen, oder | |
einfach keine Zeit haben, sich damit zu beschäftigen. Die Hilfsangebote | |
sind auch überhaupt nicht niedrigschwellig. Man wartet lange auf einen | |
Therapieplatz und es erfordert sehr viel Eigeninitiative, an einen zu | |
kommen. Und gerade die fällt schwer, wenn man in prekären Verhältnissen | |
lebt. Andere Probleme scheinen da oft drängender. Deswegen ist vermutlich | |
auch die Dunkelziffer von psychischen Erkrankungen unter Menschen, die von | |
Armut betroffen sind, recht hoch: Die Krankheiten werden einfach oft nicht | |
diagnostiziert. | |
Was muss sich in Deutschland ändern, damit junge Menschen nicht die | |
gleichen Erfahrungen machen wie Sie? | |
Auf der einen Seite brauchen wir einen stärkeren Sozialstaat, mehr | |
Therapieplätze – gerade im ländlichen Raum – und einen höheren Mindestlo… | |
Dann, ganz klar: Hartz IV gehört abgeschafft. Auf der anderen Seite sehe | |
ich die riesige Care-Industrie als Teil des Problems: Sie kümmert sich | |
darum, dass es Menschen, denen es gerade schlecht geht, ein bisschen | |
weniger schlecht geht. Das ist kein progressiver Gedanke und ändert nichts | |
an den Verhältnissen, die krank machen. Deshalb brauchen wir eine | |
ernsthafte Umverteilungsdebatte. | |
20 Aug 2021 | |
## AUTOREN | |
Hanno Fleckenstein | |
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