| # taz.de -- Reform des Hartz-IV-Systems: Mehr Geld ist keine Lösung | |
| > Das diskriminierende und ineffiziente Hartz-IV-System muss dringend | |
| > renoviert werden. Doch selbst die linken Parteien bieten hierfür nur | |
| > Kosmetik an. | |
| Bild: Hartz IV ist oft eher eine Diagnose als eine Hilfe | |
| Gibt es noch ein [1][anderes Thema für die Bundestagswahl außer der | |
| Klimakatastrophe? Ja, Hartz IV]. Und alle sind sich einig, so wie jetzt | |
| kann es beim Arbeitslosengeld II nicht weitergehen. Vor allem SPD, | |
| [2][Grüne] und Linke lehnen sich weit aus dem Fenster mit Versprechen: Mehr | |
| Geld, andere Namen, weniger Sanktionen, weniger Bürokratie fordern die | |
| rot-grünen Geburtshelfer von Hartz IV, gefolgt von den Linken. Die (stille) | |
| Hoffnung aller: endlich den Fehler von einst vergessen machen, endlich | |
| wieder solidarisch und links sein. Und dafür gewählt werden. | |
| Doch mit den vorliegenden Vorschlägen wird das nichts. Diese zementieren | |
| Hartz IV endgültig. Was sie bieten, ist vor allem mehr Geld. Nur: Mit dem | |
| Fünfziger, den die Grünen großzügig als Minimum anbieten, der | |
| [3][„passgenauen Unterstützung“ der SPD] oder der „bedarfsdeckenden | |
| Mindestsicherung“ der Linken ist den Betroffenen nicht geholfen. Mehr Geld, | |
| das ist ein paternalistischer Ansatz, der die Zeit für die | |
| Langzeitbetroffenen in Hartz IV angenehmer macht, aber nicht beendet. Darum | |
| muss es jedoch gehen. | |
| Keiner der Vorschläge greift substanzielle Probleme vieler Arbeitsloser | |
| auf. Und keiner beseitigt die strukturelle Ursache von Scham und Stigma: | |
| die Trennung zwischen guten Arbeitslosen mit Versicherungsleistung | |
| (Arbeitslosengeld I – ALG I) und dem öffentlich stigmatisierten | |
| Arbeitslosengeld II (Hartz IV). Das aber müssen die Ziele sein: Probleme zu | |
| lösen, die dem Weg in den Job entgegenstehen. Und aus | |
| Hartz-IV-Bezieher*innen wieder ganz normale Arbeitslose zu machen. | |
| Laut dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung ist jeder dritte | |
| Hartz-IV-Empfänger psychisch krank, und zwar meist schon vor dem | |
| Hartz-IV-Bezug. Und das sind nur die mit ärztlicher Diagnose – die | |
| Dunkelziffer derer, die ihre Krankheit nicht kennen oder anerkennen, dürfte | |
| hoch sein. Zu den Krankheiten zählen Angststörungen, Depressionen, bipolare | |
| Störungen: Der ganz normale Wahnsinn. Und kein Spezifikum der Arbeitslosen: | |
| Auch der Rest der Bevölkerung leidet zu fast einem Drittel darunter. | |
| ## Unsägliche Trennung Arbeitslosengeld | |
| Aber während so erkrankte Beschäftigte mal ausfallen und zum Arzt gehen, | |
| ist eine psychische Erkrankung in der Arbeitslosigkeit ein Fahrstuhl ins | |
| Aus: Für die Erkennung solcher Krankheiten sind die meisten | |
| Jobcenter-Beschäftigten weder ausgebildet noch haben sie Zeit dafür. Für | |
| sie hat immer noch die Vermittlung in Arbeit Vorrang. Es fehlt eine | |
| systematische Zusammenarbeit mit Fachkliniken, es fehlen Therapieplätze und | |
| Arbeitgeber, die mit psychischen Erkrankungen umgehen können. Zentral wäre | |
| daher eine bessere psychische Betreuung – so früh wie möglich, im Betrieb, | |
| bevor aus einer psychischen Erkrankung Arbeitslosigkeit wird und aus | |
| Arbeitslosigkeit Hartz IV. | |
| Das Gleiche gilt für Suchterkrankungen. Und für Schulden: Der neue Job | |
| gelingt nicht und die Hartz-IV-Erhöhung nützt wenig, wenn Schulden wie | |
| Dämonen im Raum stehen und nachweislich psychisch belasten. Rund 7 | |
| Millionen Menschen sind laut Creditreform überschuldet, und es dürften mit | |
| den Folgen von Corona noch mehr werden. Die wenigsten werden von den | |
| chronisch unterfinanzierten Schuldnerberatungen aufgefangen, die dringend | |
| ausgebaut werden müssten. | |
| Von diesen Baustellen findet sich leider kaum etwas bei den wohltätigen | |
| Parteien. Die Grünen wollen mehr Psycho-Therapieplätze – für alle, nicht | |
| gezielt für Arbeitslose. Bei der SPD will man immerhin die Schuldenberatung | |
| ausweiten. | |
| Für diese Zurückhaltung gibt es einen Grund: Wer hier ansetzen will, müsste | |
| den Dschungel an Sozialgesetzbüchern aufräumen, mittels deren auf dem | |
| Rücken der Betroffenen darum gezankt wird, wer wofür zuständig ist und wer | |
| was genehmigen und bezahlen darf. Ganz vorne dabei: die unselige Trennung | |
| zwischen Hartz IV (SGB II) und Arbeitslosengeld I (SGB III). Denn wer Hartz | |
| IV bezieht, muss meist zu einem anderen Gebäude, trifft andere Vermittler, | |
| bekommt andere Angebote, lebt mit anderen Gesetzen und füllt andere | |
| Formulare aus als „normale“ Arbeitslose. Das ist Diskriminierung: die | |
| institutionelle Trennung ist sachlich nicht nachvollziehbar. | |
| ## Armut auf beiden Seiten | |
| Denn eigentlich sind sich die Arbeitslosen diesseits und jenseits von Hartz | |
| IV oft ähnlich: Auf beiden Seiten gibt es Langzeitarbeitslose, die länger | |
| als ein Jahr suchen. Auf beiden Seiten gibt es Armut: Rund 69.000 Menschen | |
| beziehen monatlich nur für 600 Euro Arbeitslosengeld I, Tausende müssen | |
| deshalb mit Hartz IV aufstocken – vor allem Frauen, die mit ihren niedrig | |
| bezahlten Teilzeitlöhnen hier landen. Im ALG I landen ebenso psychisch | |
| Kranke und Alkoholiker*Innen wie in Hartz IV Studierende und | |
| Selbstständige. Wer in dieses sehr deutsche, sehr fein ziselierte System | |
| nur Geld und ein wenig Bürokratieabbau pumpt, festigt die Diskriminierung, | |
| ohne zu schauen, wer welches und wie viel Geld und wann welche Hilfe | |
| braucht. | |
| Statt die Mauer einzureißen, wird sie hochgezogen – für gutverdienende | |
| Arbeitslose: Wer lange in die Versicherung eingezahlt hat, soll auch länger | |
| Arbeitslosengeld I bekommen (SPD und Linke) und das Schonvermögen angehoben | |
| bekommen (SPD). Davon profitieren vor allem die lang einzahlenden | |
| Akademiker:innen mit Anspruch auf hohes Arbeitslosengeld und hohen | |
| Rücklagen – nicht die Niedriglöhner, die von Arbeitslosigkeit über Fristjob | |
| in Arbeitslosigkeit stolpern, wenig ALG I bekommen und von hohen | |
| Schonvermögen nur träumen. Und das soll gerecht sein? | |
| Sollte es für eine rot-grün dominierte Regierung reichen, muss sie Hartz IV | |
| und Arbeitslosengeld I erneut reformieren (eine andere wird es eh nicht | |
| tun) – und gleich die anderen Sozialgesetzbücher mit. Es ist ein Kraftakt, | |
| der ungute Erinnerungen weckt. Aber alles andere ist Tünche auf einem | |
| System, das zutiefst ungerecht, ineffektiv und diskriminierend ist. 16 | |
| Jahre Notfallreparaturen sind genug. | |
| 16 Aug 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Sozialpolitik-von-Angela-Merkel/!5786115 | |
| [2] /Nachwuchs-Gruene-ueber-Hartz-IV/!5775016 | |
| [3] /SPD-Politikerin-ueber-Arbeitslosengeld/!5784222 | |
| ## AUTOREN | |
| Maike Rademaker | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
| Schwerpunkt Armut | |
| Hartz IV | |
| Sozialpolitik | |
| GNS | |
| Klassenkampf | |
| Schwerpunkt Armut | |
| Wahlkampf | |
| Schwerpunkt Armut | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Schwerpunkt Armut | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Annalena Baerbock | |
| Hartz IV | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Sinkende Wahlbeteiligung: Warum wir nicht wählen | |
| Die Zahl der Nichtwähler:innen steigt – vor allem unter Ärmeren. Was | |
| sind die Gründe dafür? Sechs Erfahrungen. | |
| Kosten von Klimapolitik: Arme zahlen drauf | |
| Im Wahlkampf wollen plötzlich alle Klimaschutz. Bisher finanzieren den | |
| allerdings eher die kleinen Einkommen. Dabei ginge es gerechter. | |
| Wirkung von Armut auf Psyche: „Mehr Stress, weniger Ressourcen“ | |
| Viele Menschen in Armut erkranken psychisch – und umgekehrt. Ein schwer zu | |
| durchbrechender Kreislauf, sagt einer, der selbst betroffen ist. | |
| Protokolle zum Klassenkampf: Was ist heutzutage schon gerecht? | |
| Soziale Gerechtigkeit hat viele Aspekte. Wir haben 27 Menschen mit | |
| unterschiedlichen Perspektiven auf die Gesellschaft gefragt, was der | |
| Begriff für sie bedeutet. | |
| Wirtschaftswissenschaftler über Hartz IV: „Milde Form der Reziprozität“ | |
| Holger Schäfer vom arbeitgebernahen IW-Institut ist gegen einen höheren | |
| Mindestlohn. Auch von einem bedingungslosen Grundeinkommen hält er nichts. | |
| Mögliches Mitte-links-Bündnis: Geht das noch zusammen? | |
| Eigentlich haben Grüne, SPD und Linke viel gemeinsam. Trotzdem scheint ein | |
| Mitte-links-Bündnis nach der Bundestagswahl unrealistisch. Woran liegt das? | |
| Nachwuchs-Grüne über Hartz IV: „Einiges wiedergutzumachen“ | |
| Die Grünen haben die Forderung verworfen, Hartz-IV-Sätze auf 600 Euro zu | |
| erhöhen. Eine vertane Chance, sagt Sarah-Lee Heinrich von der Grünen | |
| Jugend. | |
| Regelsätze für ALG-II-Empfänger: Hartz IV ohne Tricksereien | |
| Die Linkspartei hat die Regelsätze neu berechnet. Demnach würden | |
| Empfänger:innen „ohne Tricks“ deutlich mehr bekommen. |