# taz.de -- Kernthema der Grünen: Unbemerkt sozial | |
> Für die Grünen ist Sozialpolitik längst Kernanliegen. Aber wissen das | |
> alle? Minister Habeck droht zum Gesicht hoher Energiepreise zu werden. | |
Bild: Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Die Grünen) besucht eine Eltern-Kind… | |
Lisa Paus hat die Zeit vergessen. Die Familienministerin ist am | |
Montagmittag in Bonn-Dransdorf zu Besuch, einem Hochhausviertel im Norden | |
der Stadt. In einem Eltern-Kind-Treff spricht sie mit Pädagoginnen über die | |
Nöte der Menschen im Quartier. Spannendes Thema, es gibt viel zu bereden, | |
aber nach einer halben Stunde geht ihr Büroleiter dazwischen. Der Kalender | |
ist dicht, die Grünen-Politikerin muss weiter. „Wie viel Zeit haben wir | |
noch?“ – „Seit drei Minuten keine mehr.“ | |
Kurz bleibt Paus dann aber doch noch sitzen und sagt ihren Spruch auf: Sie | |
arbeite hart an der Kindergrundsicherung, damit armen Familien mehr Geld | |
bleibt. Weil das Projekt komplex ist und Zeit braucht, gibt es vorab 20 | |
Euro Kinderzuschlag auf Hartz IV. Und weil die Preise so schnell steigen, | |
braucht es schnell ein drittes Entlastungspaket: „Wir müssen gucken, dass | |
wir Familien stärken.“ | |
Seit Mai ist Paus im Amt, in dieser Woche besucht sie Kindereinrichtungen | |
im Land, und wo sie auch hinkommt, in Wiesbaden-Biebrich oder in | |
Duisburg-Hochfeld, wiederholt sie diese Forderung. Es kann ja nicht | |
schaden. | |
Nicht nur Paus, auch andere Grüne mahnen dieser Tage bei jeder Gelegenheit, | |
dass neue Entlastungen bald kommen müssen. Es eilt: Im Herbst droht der | |
nächste Inflationssprung. Die Gaspreise steigen weiter. Die Senkung der | |
Mehrwertsteuer, vom Kanzler am Donnerstag angekündigt, federt die Folgen | |
höchstens ab und die Not vieler Haushalte bleibt hoch. Darin liegt, neben | |
allem anderen, auch eine [1][Gefahr] für die Grünen. Als Regierungspartei | |
sind sie in der Verantwortung. Wird die soziale Misere nicht abgewendet, | |
könnte die Schuld auch an ihnen hängen bleiben. Ein alter Vorwurf steht vor | |
einem neuen Hoch: Grüne wählen muss man sich leisten können. | |
Eigentlich will die Partei diesen Ruf abwerfen. Um der SPD die | |
Vorherrschaft in der linken Mitte abzuknöpfen, darf sie nicht nur als | |
Ökopartei wahrgenommen werden. Bei der Bundestagswahl wählten 27 Prozent | |
der Akademiker*innen die Grünen, aber nur 5 Prozent der Menschen mit | |
Hauptschulabschluss. Eine Erkenntnis, die sich in der Partei durchgesetzt | |
hat: Will man neue Wählergruppen erreichen, muss man auch glaubwürdig für | |
soziale Sicherheit stehen. Breite Unterstützung für die Klimatransformation | |
kann man sich sonst ohnehin abschminken. Wer bei den Grünen nicht aus | |
Überzeugung für eine starke Sozialpolitik ist, akzeptiert sie mittlerweile | |
als Mittel zum Zweck. | |
„Für uns als Partei und für mich ganz persönlich ist die Sozialpolitik ein | |
wichtiger Pfeiler. Unsere Positionen sind in den letzten Jahren | |
sozialpolitisch viel klarer geworden. Das hat man zum Beispiel am | |
Wahlprogramm gesehen: Wir wollen Hartz IV überwinden, die Sanktionen in der | |
Grundsicherung abschaffen und die Schuldenbremse reformieren“, sagt | |
Parteichefin Ricarda Lang, die mit explizit sozialpolitischem Profil ins | |
Amt kam. | |
Tatsächlich hat sich die Programmatik der Ex-Agenda-Partei in den letzten | |
Jahren verändert, wenn auch mit sorgfältigem Blick darauf, was sich in | |
lagerübergreifenden Koalitionen denn umsetzen ließe. Die Forderung nach 200 | |
Euro mehr Hartz IV fiel 2021 auf dem Parteitag durch. Im Wahlprogramm | |
landeten überschaubare 50 Euro. Die Vermögenssteuer schaffte es zwar auch | |
rein. In den Koalitionsgesprächen räumten die Grünen sie aber als Erstes | |
wieder ab. | |
Wenn es um harte Umverteilungsfragen geht, schreckt die Partei oft doch | |
noch zurück. Tief sitzt das Trauma von 2013, als die Grünen die | |
Spitzensteuer erhöhen wollten und im Wahlkampf scheiterten. In der Krise | |
könnte jetzt aber auch diese Vorsicht schwinden: Selbst Spitzen-Grüne rufen | |
vernehmbar nach einer Übergewinnsteuer. Und gegen die Pläne von | |
Finanzminister Lindner, zum Ausgleich der kalten Progression die Steuern | |
vor allem für Gutverdienende zu senken, war ihr Widerstand geschlossener | |
als der aus der SPD. Verwundert sind sie darüber nicht: Bei den Grünen ist | |
man spätestes seit den Sondierungen überzeugt, sozialer zu sein als die | |
Sozialdemokraten. | |
„Die Grünen haben in der Sozialpolitik Kompetenz aufgebaut und Profil | |
gewonnen“, sagt auch Ulrich Schneider, Geschäftsführer des Paritätischen | |
Wohlfahrtsverbands. Der Unterschied zur SPD: „Die Grünen fokussieren sich | |
nicht nur auf Arbeitnehmer, sondern schauen auch stark auf die Millionen | |
Menschen, die gar nicht arbeiten können.“ | |
Viele Wähler*innen verbinden die Partei aber weiter nicht mit sozialer | |
Gerechtigkeit. Das Misstrauen sitzt tief, wie sich zuletzt im Wahlkampf | |
zeigte. Das Versprechen, Einnahmen aus einem erhöhten CO2-Preis als | |
Pauschale an die Bürger*innen zurückzugeben, nahmen den Grünen nicht | |
alle ab. „In der Regierungsarbeit haben wir jetzt die Gelegenheit zu | |
beweisen, dass wir es ernst meinen. Das tun wir bei Themen wie der | |
Kindergrundsicherung oder dem 9-Euro-Ticket, das den ÖPNV vielen Menschen | |
zugänglich gemacht hat“, sagt Lang. | |
Wie schwierig es für die Grünen ist, mit ihrer Sozialpolitik | |
durchzudringen, zeigen Umfragen des Politbarometers. Bei der Frage, welcher | |
Partei in der Sozialpolitik am meisten zugetraut wird, fand man sie lange | |
unter „ferner liefen“. Erst seit 2018 schaffen sie es konstant in den | |
zweistelligen Bereich. Bei der letzten Abfrage im Juni erreichten die | |
Grünen dann mit 18 Prozent ihr Allzeit-Hoch, erstmals gleichauf mit der | |
Union – und doch noch klar hinter der SPD. | |
Dass nach neun Monaten in der Regierung noch nicht ersichtlich ist, ob die | |
Grünen es wirklich ernst meinen, ist dabei nur ein Faktor. Dazu kommt, dass | |
Markenkerne träge sind. Eine Partei aus der Arbeiterbewegung, die das | |
„Sozial“ im Namen trägt, hat es einfacher als eine Partei mit Blume im | |
Logo. Und die Sozialressorts sind für die Grünen in Landesregierungen | |
ebenso wenig erste Wahl wie im Bund, wo die SPD in Person von Hubertus Heil | |
Erfolge wie den höheren Mindestlohn präsentieren darf. Mit Parteichefin | |
Lang und Familienministerin Paus, die als Abgeordnete schon vor Jahren an | |
einer Kindergrundsicherung tüftelte, gibt es jetzt zwar auch Gesichter | |
einer grünen Sozialpolitik. Ganz große Bekanntheit haben sie in diesem | |
Zusammenhang aber noch nicht erreicht. | |
Und jetzt kommen auch noch die Energiepreise. Erste Narrative, nach denen | |
die Grünen die Schuld tragen, kursieren längst: Manche schieben die | |
Gasknappheit auf die Blockade von Nord Stream 2, andere auf das Ende der | |
Atomkraft. Am Montag präsentierte Wirtschaftsminister Robert Habeck die | |
Gasumlage, die das Heizen noch teurer macht. In Relation zum allgemeinen | |
Preisanstieg fällt sie zwar kaum ins Gewicht und eine Alternative, | |
Finanzspritzen für Gasimporteure aus dem Haushalt, scheiterte am Veto der | |
FDP. Dennoch könnte Habeck das Gesicht der hohen Energiekosten werden. Wer | |
zugunsten von Konzernen eine neue Belastung präsentiert, bevor neue Hilfen | |
für Privathaushalte stehen, bietet Angriffsfläche. Attacken kamen prompt | |
und plötzlich klang sogar die [2][CSU] fast sozialistisch. „Die Not einiger | |
Gasimporteure ist auch eine Folge von Managementfehlern“, sagte ihr | |
Finanzsprecher Sebastian Brehm. „Es ist unverständlich, dass dafür nun die | |
Verbraucher zur Kasse gebeten werden.“ | |
Die Rufe nach weiteren Entlastungen sind Teil der grünen Gegenstrategie. | |
Vizefraktionschef Andreas Audretsch, Sozialpolitiker, kommt aus dem | |
Wahlkreis Berlin-Neukölln. „Die Sorgen der Menschen sind enorm. Kürzlich | |
war ich in Gropiusstadt. Viele Menschen dort haben wenig Geld, und die | |
Frage, wie sie im Winter ihre Rechnungen bezahlen sollen, bereitet ihnen | |
schlaflose Nächte“, sagt er. Deswegen sei es so wichtig, dass die Koalition | |
die verfügbaren Mittel denen gebe, die sie besonders nötig hätten – und | |
nicht, wie in den Steuerplänen des Finanzministers vorgesehen, vor allem | |
den Topverdienern. „Wir müssen jetzt ganz konkrete Probleme von Menschen | |
lösen, darum sind wir sehr deutlich in dieser Frage“, sagt Audretsch. | |
So tragen gerade viele Grüne ihre Forderungen vor: Wir sind entschieden, | |
aber die FDP ziert sich. Im besten Fall ist diese Strategie erfolgreich, | |
dann wird es neben der Mehrwertsteuersenkung rechtzeitig weitere | |
Kompromisse und ein einigermaßen austariertes Hilfspaket geben. Und wenn | |
nicht? Wenn sich die Liberalen wieder durchsetzen? Dann, so die Hoffnung, | |
werden die Wähler*innen schon erkennen, wer schuld an der Lage ist. | |
Große Panik bricht in der Partei noch nicht aus. | |
Zu Recht? Am Mittwochabend wehen Fahnen im Berliner Regierungsviertel. Zwei | |
von Attac sind dabei, eine von der Antifa. Kaum 200 Menschen sind zu einem | |
ersten Sozialprotest gekommen. Die Kundgebung gegen steigende Preise findet | |
vor der FDP-Zentrale statt. „Wir können uns keinen Porsche-Minister | |
leisten!“, steht auf einem Schild. „Ganz Berlin hasst die FDP!“, ruft die | |
Menge. Dann beginnt die erste Rede: „Bei der FDP fangen wir an“, sagt die | |
Sprecherin. „Aber bei den anderen Parteien machen wir weiter.“ | |
20 Aug 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Debatte-die-Gruenen-und-Sozialpolitik/!5600506 | |
[2] https://www.cducsu.de/themen/inflation-ist-zutiefst-unsozial | |
## AUTOREN | |
Tobias Schulze | |
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