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# taz.de -- Einführung des Bürgergelds: Weiter ein Almosen
> Hartz IV wird bald Geschichte sein, verspricht die Ampelkoalition. Doch
> trotz deutlicher Verbesserungen ist das neue Bürgergeld kein
> Systemwechsel.
Bild: Der Warenkorb bleibt auch künftig klein (Demo vor dem Landtag in Hannove…
So zufrieden mit sich selbst erlebt man die Ampelkoalition in diesen Tagen
selten. Als am vergangenen Donnerstag der Bundestag in erster Lesung über
das von der Bundesregierung eingebrachte „Bürgergeld-Gesetz“ beraten hat,
klopften sich vor allem die Abgeordneten der SPD und der Grünen kräftig
selbst auf die Schultern. Das ist verständlich. Schließlich [1][soll zum 1.
Januar 2023 Hartz IV, jene Chiffre für Armut und Ausgrenzung, die
insbesondere den Sozialdemokrat:innen so viele Scherereien bereitet
hat, Geschichte sein]. Für sie ist das ohne Zweifel ein Grund zum Jubeln.
Aber auch für die Betroffenen?
Zumindest die Abgeordneten der Ampel scheinen davon überzeugt zu sein. Von
einem „echten Kulturwandel“ war im Bundestag die Rede, von einer
„grundlegenden Reform unseres sozialen Sicherheitssystems“, die für „mehr
Respekt, mehr Chancen, mehr Sicherheit“ sorgen werde. „Es ist gut, dass wir
Hartz IV endlich überwinden“, freute sich die grüne Rednerin. Und ihr
SPD-Kollege sekundierte: „Deswegen ist es ein guter Tag, weil die Menschen
wieder Vertrauen in den Sozialstaat fassen können.“
Schon im Vorfeld hatte SPD-Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil von
nicht weniger als der „größten Sozialstaatsreform seit 20 Jahren“
geschwärmt. Wird jetzt also alles wieder gut?
Die Ummodelung des übel beleumundeten Arbeitslosengeldes II zum
wohlklingenderen „Bürgergeld“ ist eines der zentralen Vorhaben, auf das
sich SPD, Grüne und FDP nach der Bundestagswahl im vergangenen Jahr haben
verständigen können. Das zentrale Versprechen: Das neue Bürgergeld soll
„die Würde des und der Einzelnen achten“ und „zur gesellschaftlichen
Teilhabe befähigen“. Ein hehrer Anspruch.
Der sich eng am Koalitionsvertrag entlanghangelnde Gesetzentwurf aus dem
Heil-Ministerium enthält nun tatsächlich etliche Verbesserungen für
erwerbslose Menschen im Leistungsbezug. Offensichtlich ist das Bemühen,
dass sie nicht mehr ganz so sehr drangsaliert werden sollen. Es geht also
schon um mehr als eine bloße Umetikettierung. Gleichwohl ist es ziemlich
übertrieben, wenn SPD und Grüne nun behaupten, dass das Hartz-IV-System
damit überwunden werde.
Was war das „Revolutionäre“ an Hartz IV? Das war die Transformation der
alten Arbeitslosenhilfe von einer Versicherungsleistung zu einem
staatlichen Almosen, und zwar finanziell auf das deutlich niedrigere
Sozialhilfeniveau. Die gesellschaftlichen Verwerfungen, die dieses von der
damaligen rot-grünen Regierung Gerhard Schröders durchgesetzte neue
Arbeitslosengeld II ausgelöst hat, waren weniger in dem elendig niedrigen
Regelsatz begründet, mit dem schon zuvor
Sozialhilfeempfänger:innen auskommen mussten, ohne dass dies zu
Massenprotesten geführt hätte.
Die tiefe Erschütterung speziell in der klassischen
Wähler:innenklientel der SPD lag vielmehr in der beängstigenden
Vorstellung, dass mit dem Inkrafttreten der Arbeitsmarktreform auch einem
gutverdienenden Facharbeiter im Fall der Erwerbslosigkeit drohte, nach nur
einem Jahr Bezug von Arbeitslosengeld I alles zu verlieren, was er für
sich, seine Familie und seine Nachkommen über Jahrzehnte erarbeitet hat.
Denn das Arbeitslosengeld II bekommt nur, wer vorher fast vollständig seine
finanziellen Reserven aufgebraucht hat.
Anders als vor Hartz IV gibt es also für stolze Malocher:innen keinen
dauerhaften Schutz mehr vor dem Sturz in die Armut. Entsprechend waren und
sind nicht nur die praktischen Auswirkungen von Hartz IV fatal, sondern
auch die psychologischen.
## Modifiziertes Sanktionsregime
Dieses Grundproblem wird mit dem jetzt vorgestellten Bürgergeld nicht
beseitigt, aber wenigstens abgemildert. Nach einem Jahr Arbeitslosengeld I
soll es künftig weitere zwei Jahre geben, in denen das Vermögen des oder
der Leistungsempfangenden und die „Angemessenheit“ seiner oder ihrer
Wohnung nicht überprüft werden. Anschließend ist ein etwas höheres
Schonvermögen als bisher vorgesehen. Auch Rücklagen für die Altersvorsorge
sollen besser geschützt werden. Das ist sicherlich ein Fortschritt. Aber
wird das schon reichen, um das neue Bürgergeld als nicht mehr so bedrohlich
erscheinen zu lassen?
Nicht abgeschafft, sondern nur modifiziert werden soll auch das
Sanktionsregime, mit dem die Jobcenter unbotmäßige Erwerbslose schikanieren
können. Zwar soll für die ersten sechs Monate im Bürgergeldbezug eine
„Vertrauenszeit“ gelten, in der keine Leistungsminderungen mehr stattfinden
können. Anschließend werden aber weiterhin Sanktionen bei sogenannten
Pflichtverletzungen möglich sein, wobei der vom Bundesverfassungsgericht
vorgegebene Rahmen, der Kürzungen von höchstens 30 Prozent des Regelsatzes
erlaubt, voll ausgeschöpft werden kann.
Und dann ist da noch ebendieser Regelsatz. Der Grundbetrag für einen
alleinstehenden Menschen soll zum Jahreswechsel von derzeit 449 Euro auf
502 Euro steigen. Doch auch wenn eine prozentuale Steigerung um 11,8
Prozent nach viel klingt: 53 Euro mehr sind weit weniger, als es nicht nur
die Linkspartei, sondern auch die Sozialverbände aus gutem Grund fordern.
## Der Geist Schröders ist noch da
Berechnungen der Forschungsstelle des Deutschen Paritätischen
Wohlfahrtsverbands [2][zufolge müsste der Regelsatz bereits derzeit
mindestens 678 Euro pro Monat betragen], um – wie vom
Bundesverfassungsgericht in mittlerweile ständiger Rechtsprechung gefordert
– das soziokulturelle Existenzminimum abzusichern. Aber dazu hat sich die
Ampelkoalition nicht durchringen wollen.
Damit jedoch bleibt auch das neue Bürgergeld im Kern ein [3][staatliches
Almosen], das zwar auf der Basis von Armut und Verzicht einigermaßen das
Überleben sichert, [4][aber eben keine ausreichende gesellschaftliche
Teilhabe ermöglicht]. Es gehe, so verkündet Heil, um einen „Sozialstaat auf
der Höhe der Zeit“. Dafür müsste der jedoch wenigstens an die Zeiten Helmut
Kohls heranreichen. Der Geist Gerhard Schröders ist auch sozialpolitisch
noch nicht vollends vertrieben.
17 Oct 2022
## LINKS
[1] /Regierung-beschliesst-Buergergeld/!5878204
[2] /Hartz-IV-Nachfolger/!5877953
[3] /Neiddebatte-und-Buergergeld/!5877671
[4] /Armut-und-Inflation/!5859671
## AUTOREN
Pascal Beucker
## TAGS
Agenda 2010
Sozialpolitik
Kolumne Der rote Faden
Hubertus Heil
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Hartz IV
SPD
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