| # taz.de -- Zusammenleben mit Stromspar-Freaks: „Zieh’n Pulli drüber!“ | |
| > Einst drangsalierte mich mein Vater mit seinem Energiespar-Tick, jetzt | |
| > ist es mein Mann. Der Wunsch, Putin in den Arsch zu treten, sorgt für | |
| > Bestform. | |
| Bild: Zusammenleben bei niedrigen Temperaturen: Pulli ist billiger als Heizung … | |
| Wenn ich von der aktuellen Energiesparkampagne höre, verdrehe ich die Augen | |
| – so wie vor 40 Jahren, als mein Vater uns zu Hause dieselben Dinge | |
| vorbetete. Mach-einen-Deckel-auf-den-Topf-Tipps haben für mich einen ganz | |
| langen Bart, und wenn es heißt, man solle die Wäsche, bevor man sie in den | |
| Trockner packt, mit 1.600 Umdrehungen pro Minute schleudern, wundere ich | |
| mich, dass die Dinger überhaupt noch erlaubt sind – außer vielleicht für | |
| Daunenschlafsäcke. | |
| Schon in den 80ern maulte mein Vater rum, man könnte ein ganzes | |
| Atomkraftwerk abschalten, wenn man mal aufhören würde, nachts Ladenfenster | |
| und Werbeplakate zu beleuchten. Aber auf ihn hat ja keiner gehört. Die | |
| Bundesregierung sollte mal Olle wie ihn zur [1][Stromsparberatung] | |
| heranziehen. Von wegen Restwärme vom Herd nutzen: Bei meinen Eltern wird | |
| der Milchreis nur wenige Minuten gekocht, um danach 90 Minuten unter einen | |
| Berg Daunendecken im Ehebett zu ziehen. | |
| Sie haben auch keine Halterung für den [2][Duschkopf], damit man es sich | |
| bloß nicht gemütlich macht. Die Idee, die Wohnung ein Grad kälter zu | |
| drehen, hatte mein Vater schon damals so oft, dass wir im Winter mit 18 | |
| Grad zufrieden sein mussten. Ätzend! | |
| Bis heute besitzt er die Alleinherrschaft über seine Heizungsanlage im | |
| Keller. Ich fürchte, er wird das Geheimnis, wie man sie bedient, mit ins | |
| Grab nehmen. Wenn es wegen der kalten Bude Streit gab, sagte er nur: „IHR | |
| redet doch ständig von Umweltschutz! Zieh’n Pulli drüber.“ Um mich | |
| aufzuwärmen, musste ich dann notgedrungen in die heiße Badewanne. Ätsch! | |
| Zu allem Überfluss habe ich einen Mann geheiratet, der bei jeder | |
| Gelegenheit hinter mir die Lichter ausmacht, was er – als wäre er ein | |
| Hörspiel – laut kommentiert. Er sticht meinen Vater sogar noch, indem er | |
| darauf achtet, dass das Badewasser stehen bleibt, um die Abwärme für die | |
| Raumluft zu nutzen. Geräte vom Netz trennen natürlich beide, sie stellen | |
| beide gerne Kühlschrankinhalte ab Herbst auf die Terrasse und beide finden | |
| es einen super Plan, bei Frost große PET-Flaschen mit Wasser draußen | |
| einzufrieren, um sie dann in den Kühlschrank zu legen, um die darin völlig | |
| kostenfrei gespeicherte Energie zu sparen. Den Kühlschrank insgesamt | |
| weniger zu kühlen kommt für meinen Mann aber nicht in Frage, denn bei der | |
| Biertemperatur ist er pingelig. | |
| Dass es ihm beim Stromsparen in erster Linie um Geldsparen geht, merkt man | |
| auf dem Campingplatz, wenn wir neben Wohnmobilen mit Klimaanlagen und | |
| Satellitenschüssen stehen. Dann ärgert Matthias sich, dass wir viel weniger | |
| als unsere Nachbarn verbrauchen, aber das Gleiche zahlen. Um die | |
| Camping-Stromflat ausnutzen zu können, wünscht er sich ein E-Auto oder er | |
| überlegt, für das ganze Jahr Eiswürfel einzufrieren. Stattdessen hängt er | |
| Lichterketten auf – so was gibt’s zu Hause nie! | |
| Die [3][aktuellen Preissteigerungen] und der Wunsch, Putin in den Arsch zu | |
| treten, bringen ihn gerade wieder in [4][Stromspar-Bestform]. Er achtet | |
| darauf, dass die Wasserhähne allzeit nach rechts gedreht sind, und er ist | |
| sich mit meinem Papa einig: Nichts frisst so viel Strom wie eine Ehefrau. | |
| Ich geb’s nicht gern zu, aber ich müsste wirklich die Effektivität meiner | |
| Zeitspar-/Stromspar-Balance überprüfen. Ich weiß, dass der Wasserkocher | |
| viel Energie benötigt und dankenswerterweise fordert Matthias mich nicht | |
| auf, statt Tee lieber kaltes Wasser zu trinken. Er beschwert sich | |
| lediglich, dass ich stets mehr Wasser aufkoche, als ich benötige und dann | |
| auch noch regelmäßig vergesse, meinen Tee direkt aufzugießen, sodass ich | |
| den Wasserkocher erneut anschalten muss. Und das mehrmals täglich. | |
| Ich glaube, ich sag ihm mal, er soll mir einfach öfter ein heißes Getränk | |
| bringen. Denn wenn’s Strom spart, wird er es tun. | |
| 3 Oct 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Birte Müller | |
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