| # taz.de -- EU-Politikerin zur Patentfreigabe: „Das ist bahnbrechend“ | |
| > Was bringt die US-Kehrtwende zur Patentfreigabe für Coronavakzine? Mehr | |
| > Gerechtigkeit bei der globalen Impfstoffverteilung, sagt die Grüne Anna | |
| > Cavazzini. | |
| Bild: Sauerstoff-Tanks für Indien in einer Halle der U. S Air Force in Travis … | |
| taz: Frau Cavazzini, die [1][US-Regierung hat sich für eine temporäre | |
| Aussetzung des Patentschutzes] für Corona-Impfstoffe ausgesprochen. Wie | |
| finden Sie das? | |
| Anna Cavazzini: Die Entscheidung der USA ist bahnbrechend. Seit Monaten | |
| hatten hunderte Abgeordnete in Europa, NGOs, über 100 Staaten der WTO die | |
| temporäre Aussetzung der geistigen Eigentumsrechte für Covid-Impfstoffe und | |
| Medizin gefordert, was von EU und allen anderen westlichen | |
| Industrienationen blockiert wurde. Mit diesem Kurswechsel der USA kommen | |
| wir einer gerechteren globalen Verteilung der Impfstoffe näher. | |
| Selbst die [2][EU-Kommision ist jetzt zu Gesprächen] bereit. Als im Oktober | |
| 2020 Südafrika und Indien bei der Welthandelsorganisation den | |
| vorübergehenden Verzicht auf Patente für Covid-Impfstoffe und Medikamente | |
| forderten, haben Sie und andere EU-Abgeordnete den Vorstoß unterstützt. | |
| Aber die EU blieb bei Ihrer Blockadehaltung. Überrascht Sie die Kehrtwende? | |
| Damals sind wir ziemlich auf Granit gestoßen in der EU-Kommission. Es hieß | |
| immer, dass eine Lockerung der geistigen Eigentumsrechte nichts bringen | |
| würde, weil die Länder des globalen Südens überhaupt keine | |
| Produktionskapazitäten dafür hätten, und dass das alles zu lange dauern | |
| würde. | |
| Was können Sie dem entgegensetzen? | |
| [3][Mehrere Unternehmen in Kanada, Bangladesch, Südkorea, Pakistan und | |
| Israel] stehen zur Produktion bereit und haben bislang vergebens versucht, | |
| die Rechte für die Produktion von Covid-19-Impfstoffen zu erhalten. | |
| Weltweit werden derzeit laut UNICEF-Daten nur 43 Prozent der gemeldeten | |
| Covid-19-Impfstoff-Produktionskapazitäten für die zugelassenen Impfstoffe | |
| genutzt. Aufgrund von Firmengeheimnissen ist unklar, wie viel freie | |
| Kapazität genau vorhanden ist. Doch die weltweite | |
| Covid-Impfstoff-Produktionskapazität könnte erheblich erweitert werden, | |
| wenn alle Unternehmen, die in der Lage sind, Impfstoff zu produzieren, sich | |
| an der Herstellung beteiligen. | |
| Andere sagen, dass das Aussetzen der Patente die Innovationskraft der | |
| Firmen schwächt, weil dann die Anreize fehlen, in Forschung und Entwicklung | |
| zu investieren. | |
| Der von Südafrika und Indien vorgeschlagene TRIPS-Waiver würde unser | |
| derzeitiges System der Innovationsanreize nicht demontieren. Es handelt | |
| sich um einen engen, zeitlich begrenzten Verzicht, der nur darauf abzielt, | |
| in einer globalen Pandemie den weltweiten Zugang zu Covid-19-verwandten | |
| Produkten zu erleichtern und gemeinsam die Pandemie zu überwinden. Außerdem | |
| sind bereits öffentliche Gelder in Milliardenhöhe in die | |
| Covid-Impfstoffentwicklung und Beschaffung geflossen. Dadurch bleiben die | |
| Anreize für Forschung und Entwicklung erhalten. In den Industrienationen | |
| werden die Unternehmen weiterhin Gewinne mit dem Impfstoff machen. | |
| Im Trips-Abkommen der WTO, das die Rechte des geistigen Eigentums regelt, | |
| gibt es seit 2001 bereits die Möglichkeit, Patente auszusetzen. Das ist | |
| auch bei der HIV-Pandemie passiert. Warum kommt das nicht zur Anwendung? | |
| Diese sogenannten Trips-Flexibilitäten gibt es. Aber sie sind erst nach | |
| jahrelangem Druck und einer langen Kampagne den Entwicklungsländern | |
| zugesprochen worden. HIV-Medikamente waren lange Zeit unbezahlbar in den | |
| Ländern des globalen Südens. Es ist aber heute sehr kompliziert und | |
| langwierig, diese Flexibilitäten anzuwenden, weil sie von einzelnen Ländern | |
| mit den Pharmaunternehmen ausgehandelt werden müssen. Der Vorschlag aus | |
| Indien und Südafrika fordert aber eine Ausnahmegenehmigung, die zeitlich | |
| begrenzt ist auf den Zeitraum der Pandemie. | |
| Eigentlich heißt es: Es ist eine globale Krise, die nur global gelöst | |
| werden kann. Wie nah sind wir da dran? | |
| Über den [4][Covax-Mechanismus der WHO] gibt es ein Stück weit | |
| Impfstoffsolidarität, aber das reicht nicht aus. Die ursprüngliche Idee von | |
| Covax war ja, dass es global einen Pool gibt und global gerecht verteilt | |
| wird. Wo ist die Pandemie am stärksten? Wo sind die vulnerabelsten Gruppen? | |
| Aber wenn Sie sich die Zahlen anschauen, wie viel Impfstoff im globalen | |
| Norden zur Verfügung steht und im globalen Süden nicht zur Verfügung steht, | |
| dann sehen Sie ein großes Ungleichgewicht. | |
| Reiche Staaten haben sich den Großteil des globalen Impfstoffvorrats | |
| gesichert, so dass viele Länder vermutlich noch Jahre brauchen, bis sie | |
| ihre Bevölkerung impfen können. | |
| Genau. Es ist einerseits eine Frage der Solidarität und Gerechtigkeit. Aber | |
| auch aus Eigennutz wäre eine gerechtere Verteilung angebracht: Denn am Ende | |
| kommen Mutationen auch wieder zu uns zurück. Und es ist gibt eine gewisse | |
| Doppelmoral: Während der Krise in Indien werden Beatmungsgeräte geliefert – | |
| das ist auch gut so – aber wenn es darum geht, dass sich die Länder des | |
| globalen Südens auch selbst helfen können, dann wird geblockt. | |
| Indien stellt derzeit schon den Wirkstoff von AstraZeneca in Lizenz her und | |
| beliefert auch das Covax-Programm. Aber die indische Regierung [5][hat in | |
| der jetzigen Krise] einen [6][Exportstopp durchgesetzt] – diese | |
| Entscheidung wird vor allem andere arme Länder treffen. Die USA betreiben | |
| auch eine egoistische Impfstoffpolitik. Wenn alle so verfahren, wird diese | |
| Krise nie enden, oder? | |
| Einige Länder wie die USA und Großbritannien haben bisher einen | |
| regelrechten Impfnationalismus betrieben und lange keine Impfstoffe | |
| exportiert. Ich begrüße, dass es einen solidarischen Verteilmechanismus | |
| innerhalb der EU gibt und dass die EU anders als die USA Impfstoffe | |
| exportiert. | |
| Es gibt auch das Argument, dass nicht die Patente, sondern die Rohstoffe, | |
| Lieferketten und die komplexe Herstellung etwa von mRNA-Impfstoffen das | |
| Problem seien und dass durch eine Patentfreigabe keine einzige Impfdose | |
| mehr entstünde. Wenn das so wäre, könnte man ja ruhig darauf verzichten, | |
| oder? | |
| Wie gesagt, wir haben Informationen, dass Produktionskapazitäten da wären. | |
| Aber das Patentsystem ist eine heilige Kuh und es muss auch generell | |
| reformiert werden. Oft nehmen Pharmakonzerne auch nur minimale | |
| Veränderungen an Produkten vor, um den Patentschutz über die zwanzig Jahre | |
| hinaus zu verlängern. Wir Grünen fordern zum Beispiel, dass Pharmakonzerne | |
| die Patente auflösen müssen, sobald sie ihre Innovationskosten wieder | |
| eingespielt haben. Aber das ist eher ein mittelfristiges Ziel. In der | |
| Pandemie müssen wir gucken, wie wir schnell handeln können. Und die Patente | |
| temporär auszusetzen, wäre ein erster Schritt. | |
| 7 May 2021 | |
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| [1] /Patente-fuer-Corona-Impfstoffe/!5765580 | |
| [2] /Freigabe-der-Corona-Impfpatente/!5770470 | |
| [3] https://theintercept.com/2021/04/29/covid-vaccine-factory-production-ip/ | |
| [4] /Ungerechte-Impfstoff-Verteilung/!5741644 | |
| [5] /Indiens-Gesundheitssystem-in-der-Krise/!5765107 | |
| [6] /Corona-Impfstoff-fuer-arme-Laender/!5757319 | |
| ## AUTOREN | |
| Jasmin Kalarickal | |
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