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# taz.de -- Anthropologin über deutsche Muslime: „Die Erinnerung an den Holo…
> Muslimische Menschen stünden unter Generalverdacht, antisemitisch zu
> sein. Das verschleiere den Antisemitismus weißer Deutscher, sagt Esra
> Özyürek.
Bild: Öffentliches Gedenken an den Holocaust: Stolpersteine als Mahnmal für d…
taz: Frau Özyürek, Sie sagen, Sie haben keine persönlichen Bezüge zu
Deutschland und dem Holocaust. Jetzt haben Sie ein Buch über die deutsche
Erinnerungskultur geschrieben. Warum?
Esra Özyürek: Ich bin nach dem Militärputsch in der Türkei 1980 groß
geworden. In einer militaristischen, nationalistischen Umgebung. Linke
Menschen in der Türkei wie ich haben wirklich zum deutschen Beispiel
aufgeschaut. Wir dachten: Wenn die Türkei davon lernen kann, um den
[1][Völkermord an den Armenier:innen] aufzuarbeiten, dann wäre die
Demokratie in der Türkei eine bessere. Auch in Bezug auf die Beziehung zu
den Kurd:innen und anderen Minderheiten.
taz: Deutschland als erinnerungspolitisches Vorbild. Entspricht dieses Bild
der Realität?
Özyürek: Aus der Türkei, aus Großbritannien und aus den USA betrachtet ist
Deutschland immer noch anders. Als ich 2006 erstmals nach Deutschland kam,
war ich wirklich beeindruckt von der Art, wie diese [2][Verantwortung in
Erinnerung] gehalten wird. Hier in Großbritannien, wo ich heute lebe,
mussten wir sogar im Einbürgerungstest beantworten, warum der Kolonialismus
auch Gutes hervorgebracht hat. Das ist in Deutschland undenkbar. Zumindest
bis jetzt.
Ich habe aber festgestellt, dass es auch Probleme in dieser
Erinnerungskultur gibt. Und ich war überrascht zu sehen, dass dieses
wichtige Beispiel, die [3][Bekämpfung des Antisemitismus], zu einem Weg
wurde, eine andere diskriminierte Gruppe weiter zu marginalisieren, die
Muslim:innen.
taz: Was meinen Sie damit?
Özyürek: In Deutschland gab es [4][Holocaust-Bildungsprogramme, die extra
für Muslim:innen] konzipiert wurden. Das hat mich wirklich überrascht.
Ich fragte mich: Gibt es das auch für Thailänder:innen oder
Neuseeländer:innen? Und was macht man, wenn jemand Halbpolin ist? Als
jemand, der sich selbst als eine Antinationalistin definiert, finde ich,
dass die Erinnerung an den Holocaust uns allen gehört.
Bestimmte Gruppen als bildungsbedürftiger hinzustellen als andere und zu
sagen, [5][Muslim:innen bräuchten sie mehr als weiße Deutsche], ist ein
Problem. Muslimische Gastarbeiter:innen haben Westdeutschland mit
wiederaufgebaut und ebenfalls die Nachkriegszeit durchgemacht. Es ist nicht
so, dass sie das verpasst hätten. Zu sagen, dass Muslim:innen aus dieser
Zeit nichts gelernt hätten, radiert die Tatsache aus, dass muslimische
Kinder zum Beispiel den gleichen Schulunterricht durchlaufen wie
nicht-muslimische. Auf diese Weise werden Muslim:innen immer als
getrennt angesehen, und dieser Gedanke widerspricht einer kohärenten
Gesellschaft.
taz: Sie schreiben, dass deutsche Nicht-Muslim:innen ihren eigenen
Antisemitismus verschleiern, indem sie sich auf Muslim:innen
konzentrieren. Wie funktioniert das?
Özyürek: Wenn man immer den muslimischen Antisemitismus betont, dann sieht
es so aus, als wären die [6][nicht-muslimischen Deutschen die weniger
antisemitischen] oder als wären sie diejenigen, die „dazugelernt“ haben. So
entsteht das Gefühl, der ganze Antisemitismus sei den Muslim:innen
zuzuschreiben und der Antisemitismus der weißen Deutschen wird unsichtbar.
taz: Ist Antisemitismus dennoch ein Problem unter deutschen Muslim:innen?
Özyürek: Antisemitismus ist ein erstaunlich weit verbreitetes,
schreckliches Phänomen. Es gibt Antisemitismus unter deutschen
Muslim:innen, die [7][Teil der deutschen Gesellschaft sind, in der es
ebenfalls Antisemitismus gibt]. Ein Teil davon ist ganz „typischer“
Antisemitismus – ein anderer ist Wut über Israels Behandlung der
palästinensischen Bevölkerung.
Wenn [8][Kritik an Israel pauschal als Antisemitismus definiert] wird, dann
werden viele deutsche Muslime als antisemitisch definiert. Wenn wir jedoch
legitime Kritik an Israel ausschließen können, würde Antisemitismus als ein
kleineres Problem erscheinen – aber nicht verschwinden.
taz: Wann mündet Kritik an Israel in Antisemitismus?
Özyürek: Wenn von Israel mehr oder weniger erwartet wird als von jedem
anderen Land der Welt, weil es ein jüdischer Staat ist.
taz: Wer deutscher Staatsbürger werden will, muss heute auch Fragen zu
erinnerungspolitischen Themen beantworten können. Wie stehen Sie dazu?
Özyürek: Wie der [9][türkisch-deutsche Journalist Zafer Şenocak] einmal
sagte, wandert jemand, der nach Deutschland einreist, auch in die deutsche
Geschichte ein. Es stimmt, dass jede:r, der nach Deutschland einreist,
etwas über die Vergangenheit jenes Landes erfahren sollte, das
rechtsextreme Ideologien an den Rand des Abgrunds brachten, und über die
Anstrengungen, die unternommen werden mussten, um Deutschland zu einer
Demokratie zu machen.
Ich mag die konkreten Fragen gut finden oder auch nicht, aber insgesamt
denke ich, dass es für neuere Migrant:innen gut ist, die Geschichte des
Landes zu kennen und zu verstehen.
taz: In Ihrem Buch schreiben Sie, es habe eine Verschiebung der Wahrnehmung
von Muslim:innen als Diskriminierte hin zu Diskriminierenden gegeben.
Können Sie das erklären?
Özyürek: So funktioniert Rassismus. So funktionierte es auch mit den
[10][Jüd:innen unter den Nazis]: Man gab ihnen die Schuld für
gesellschaftliche Probleme. Es ist eine sehr typische rassistische Aussage
über eine Gruppe: „Oh, ich beschuldige sie nicht grundlos. Ich beschuldige
sie, weil sie antisemitisch sind, weil sie sexistisch sind, weil sie
homophob sind. Sie sind also an sich schlecht.“ Wir wissen, dass die
Rechtsextremen weltweit und auch in Deutschland auf dem Vormarsch [11][sind
und dass sie Feinde brauchen]: Muslim:innen, Transpersonen, Jüd:innen,
Geflüchtete.
Seit Beginn des 21. Jahrhunderts ist viel passiert, [12][was
Muslim:innen zu Außenseiter:innen gemacht hat], vom 11. September
bis zur Vereinigung Europas und dem Wunsch Deutschlands, eine gemeinsame
Identität zu finden. Vor 1992 war die EU noch die Europäische
Wirtschaftsgemeinschaft. Irgendwann hieß es: Wir sind auch eine kulturelle
Union. Es muss also Außenseiter:innen geben.
taz: Wie hat sich die Rolle von Menschen türkischer und arabischer Herkunft
für den deutschen Erinnerungsdiskurs verändert?
Özyürek: Bis zum Jahr 2000 wurde die Vergangenheitsbewältigung als ein
Problem der nicht-muslimischen Deutschen angesehen. Sie geschah durch die
Auseinandersetzung mit den Sünden der Eltern und Großeltern. Das
demokratische Deutschland ist entstanden, indem man diese Verantwortung
übernommen hat. [13][In den Schulen haben muslimische Kinder] von den
Lehrkräften oft gehört: „Ach, das ist nichts für dich. Warum machst du
nicht etwas anderes?“ Sogar die Hausaufgaben waren so: „Frag deinen
Großvater, was er während des Krieges gemacht hat.“ Diese Frage war nicht
für die muslimischen Kinder bestimmt, das haben sie verstanden.
Irgendwann kam in der Gesellschaft aber das Bild auf, [14][Muslim:innen
hätten ihren Teil der Gedenkarbeit nicht getan]. Aber wenn die Familie erst
nach dem Krieg nach Deutschland gekommen ist, wie soll man dann diesen Weg
gehen? Man weiß, dass man diese spezifische Sünde nicht zu büßen hat. So
wurden sie vom Weg, „gute Deutsche“ zu werden, ausgeschlossen.
taz: Was hat sich 2000 geändert?
Özyürek: Ab Anfang der 2000er Jahre zeigen Untersuchungen, dass die
Deutschen zunehmend das Gefühl hatten, genug getan zu haben, [15][um ihre
Vergangenheit zu bewältigen]. Gleichzeitig zeigen Untersuchungen aber auch,
dass die Menschen der Meinung waren, Deutschland müsse weiterhin mehr tun,
um des Holocaust zu gedenken und gegen Antisemitismus zu kämpfen.
Dadurch wurden Muslim:innen zu Subunternehmer:innen
beziehungsweise Stellvertreter:innen der Schuld: Durch die
[16][Konzentration auf muslimischen Antisemitismus wird beides erreicht].
Nicht-Muslim:innen können sich gut fühlen, weil sie ihre Lektion gelernt
haben und gleichzeitig gegen den Antisemitismus von Muslim:innen
kämpfen.
taz: Welche Auswirkungen hatte das auf die Gesellschaft?
Özyürek: Daraus entstand auch nach Innen eine Art Gesellschaftsvertrag. Die
Bedingung für die Aufnahme Westdeutschlands in die sogenannte freiheitliche
Welt bestand darin, die eigene Geschichte zu akzeptieren und die Dinge zu
verbessern. „[17][Entnazifiziert und demokratisiert euch selbst], dann
werdet ihr als normale Nation in der zivilisierten Welt angesehen.“
taz: Sie sprechen von Muslim:innen als Stellvertreter:innen oder
Subunternehmer:innen der Schuld.
Özyürek: Genau. Ihr [18][Beitritt zum Gesellschaftsvertrag ist nicht an
dieselben Bedingungen geknüpft] wie bei Nicht-Muslim:innen. Der rechte
Diskurs über die Aberkennung doppelter Staatsbürgerschaften ist bisher zwar
nicht in ein Gesetz gemündet. Aber allein die Tatsache, dass er im
öffentlichen Raum präsent ist, macht es denkbar, dass er eines Tages
umgesetzt wird.
Käme ein solches Gesetz, könnte es irgendwann dazu führen dass Menschen mit
Migrationshintergrund, die zum Beispiel als antisemitisch eingestuft
werden, [19][die Staatsbürgerschaft entzogen wird]. Antisemitischen
Deutschen ohne weitere Staatsbürgerschaft kann das nicht passieren.
taz: Sie haben in Ihrer Forschung eng mit muslimischen Jugendlichen
zusammengearbeitet. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
Özyürek: Auch wenn sie andere Namen als die Mehrheitsgesellschaft haben
oder vielleicht irgendwo in einem Dorf in Anatolien das Haus eines
Urgroßvaters haben, wollen sie sich als Teil Deutschlands sehen. Sie sind
Teil dieser deutschen Gesellschaft und wollen sich sichtbar machen. Sie
wollen, dass [20][andere Menschen sie so respektieren, wie sie sind].
taz: Die Projektgruppe „Junge Muslime in Auschwitz“ aus Ihrem Buch ist
besonders engagiert. Lassen Ihre Recherchen allgemeinere Schlussfolgerungen
zu?
Özyürek: Ich glaube nicht, dass diese jungen Menschen sich sehr von anderen
unterscheiden. Sie sind nicht anders, sondern nur Menschen, die versuchen,
ihren Platz in der Gesellschaft zu finden.
Viele versuchen, die [21][Verantwortung für den Holocaust auf ihre
Schultern zu nehmen]. Sie sagen: „Wir nehmen den Antisemitismus ernst. Wir
bilden uns über den Holocaust weiter.' Sie gehen im Rahmen von Projekten in
die Konzentrationslager. Und sie finden, „wir machen das eigentlich sogar
besser als ihr. Wir wissen, wie es sich anfühlt, eine religiöse Minderheit
zu sein, als Außenseiter gesehen zu werden. Also hört uns zu.“
taz: Wird ihnen zugehört?
Özyürek: In gewisser Weise: Jedes Jahr bekommen Muslim:innen, die sich
gegen Antisemitismus engagieren, das Bundesverdienstkreuz. Sie kommen in
die Zeitung, bekommen Geld, um nach Israel zu reisen, solche Dinge. Aber
gleichzeitig sagten mir viele: „Anschließend, wenn ich etwa mit dem Auto
unterwegs bin, durch die Straßen laufe oder versuche, einen Club zu
betreten, [22][dann verschwindet all die Anerkennung wieder].“
18 Apr 2025
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## AUTOREN
Marco Fründt
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