| # taz.de -- Sawsan Chebli über Hass im Netz: „Kein Tag ohne Hetze gegen mich… | |
| > Sawsan Chebli schreibt in „Laut“ über Gewalt im Internet. Ein Gespräch | |
| > über ihre Zweifel, warum sie laut geworden ist, und was ihr Mut macht. | |
| Bild: Sawsan Chebli ruft zur Zivilcourage auf: Insbesondere im Netz schweigen z… | |
| taz: Frau Chebli, wurden Sie heute schon mit Hass im Netz konfrontiert? | |
| Sawsan Chebli: Inzwischen vergeht kein Tag ohne Hetze gegen mich, | |
| unabhängig davon, ob ich mich äußere oder nicht. Heute habe ich einige | |
| Tweets abgesetzt. So wie immer gab es auch unter diesen Tweets etliche | |
| Beleidigungen. Aber auch in meiner Mailbox gab es etliche diffamierende | |
| Nachrichten. | |
| Erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Shitstorm? | |
| Ja. Ich hatte über einen Vorfall auf Facebook berichtet, in dem es um eine | |
| sexistische Äußerung mir gegenüber ging. In den Kommentaren mischten sich | |
| eine Kombination aus Rassismus, Sexismus und Klassismus. Was mich am | |
| meisten erschüttert hat, war der Vorwurf, ich würde das nur schreiben, weil | |
| ich mich wichtig machen wolle. Es gab diese ganzen Kommentare wie: „Es | |
| werden Frauen vergewaltigt, und du beschwerst dich über ein Kompliment.“ | |
| Ich habe mich tatsächlich gefragt, ob es nicht zu harmlos war, um darüber | |
| zu berichten. Bis sich Frauen solidarisch gezeigt haben. Im Endeffekt waren | |
| meine Zweifel an der Richtigkeit darüber, ob ich hätte doch lieber | |
| schweigen sollen, nicht angebracht: Sexismus beginnt nicht mit einer | |
| Vergewaltigung. | |
| Warum ist Hate Speech echte Gewalt? | |
| Hate Speech sind Kommentare, die abwerten und diffamieren, Menschen | |
| gegeneinander aufhetzen sollen, es geht von Beleidigungen bis hin zu | |
| Gewaltandrohungen. Die Posts können rassistisch, sexistisch, antisemitisch | |
| oder homophob sein. Das Heftige ist, dass Hate Speech wie physische Gewalt | |
| auf Menschen wirkt und sie am Ende dazu bringen kann, sich zurückzuziehen | |
| und nicht mehr sichtbar sein zu wollen. Es ist wie Gift, das der Seele | |
| schadet. Ich kenne etliche, die sich mit dem Thema beruflich befasst haben | |
| oder auch selber betroffen sind und psychisch deshalb heute angeschlagen | |
| sind und aufgegeben haben. Deswegen appelliere ich auch an die | |
| Zivilgesellschaft, laut zu sein. | |
| Was ist für Sie der beste Weg, um laut zu werden? | |
| Zivilcourage zeigen – im Echten wie im Digitalen. Wenn wir einen Menschen | |
| sehen, der auf der Straße zusammengeschlagen wird, müssen wir die Polizei | |
| rufen. Sonst machen wir uns mindestens strafbar wegen unterlassener | |
| Hilfeleistung. Im Netz beobachten viele von uns jeden Tag, wie Menschen | |
| brutal zusammengeschlagen werden und schreiten nicht ein. Mit laut meine | |
| ich: Einfach nicht still sein! Ich erwarte nicht, dass jede und jeder ein | |
| Held oder eine Heldin ist. Wir müssen uns nicht in jede Schlacht begeben. | |
| Aber ich erwarte, dass wir alle unser Verhalten im Netz kritisch | |
| reflektieren und aufhören, dieses Thema wie ein Nischenthema zu behandeln, | |
| das uns nichts angeht. | |
| Warum geht es uns alle etwas an? | |
| Im Kern geht es um unsere Art des Zusammenlebens. Teilhabe ist ein | |
| Instrument der Demokratie, aber wenn Menschen nicht mehr teilhaben, | |
| gefährden wir unsere Demokratie. Die Angriffe auf Einzelne sind oft | |
| systematisch. Die Leute, die mich angreifen, greifen die Werte an, für die | |
| ich stehe. | |
| Woher nehmen Sie ihre Motivation, laut zu sein? | |
| Das hat ganz viel mit meiner Biografie zu tun. Ich war fünf, als ich meinen | |
| Vater in der Abschiebehaft besucht habe. Ich habe erlebt, wie es ist, keine | |
| Stimme zu haben und Schikanen eines politischen Systems ausgesetzt zu sein. | |
| In der Schule habe ich dann gemerkt, dass ich in dieser Welt doch eine | |
| Stimme habe. Ich war laut, wenn ich das Gefühl hatte, irgendwem in meiner | |
| Klasse passiert Unrecht. Ich habe mich dann quasi als Anwältin vor sie | |
| gestellt. Das hat sich weiter durch mein Leben gezogen. | |
| Warum ist ein Rückzug aus den sozialen Medien für Sie keine Option? | |
| Mehr als die Hälfte der gesamten Menschheit, das sind über vier Milliarden | |
| Menschen, tauscht sich im Schnitt zweieinhalb Stunden täglich über soziale | |
| Medien aus. Das zeigt: Die Zukunft unserer Demokratie – ob wir es wollen | |
| oder nicht – wird im Internet verhandelt. Politische Entscheidungen werden | |
| jetzt schon häufig auf dem Hintergrund von Debatten im Netz getroffen. | |
| Soziale Medien haben enorme Wirkungsmacht: [1][Im Iran] gehen jeden Tag | |
| Menschen auf die Straße. Wir wüssten nichts von diesen Menschen und könnten | |
| sie nicht unterstützen, gäbe es soziale Medien nicht. | |
| Was sagen Sie Menschen, die nichts mit den sozialen Medien zu tun haben | |
| wollen? | |
| Ich finde diese Position sehr bequem. Wenn Menschen zum Rückzug aufrufen, | |
| dann sage ich nur: Schön, ihr habt das Privileg, dass euch Menschen lesen | |
| und hören. Viele Menschen würden verschwinden, gäbe es soziale Medien | |
| nicht. Es war noch nie so leicht für marginalisierte Menschen, am Diskurs | |
| teilzunehmen und ihrer Stimme Gehör zu verschaffen. | |
| Fühlen Sie sich durch das Recht ausreichend vor Gewalt im Netz geschützt? | |
| Nein. Die Bundesregierung hat aber verstanden, dass sie mehr tun muss. Wir | |
| sind auch kein Schlusslicht und haben [2][mit dem | |
| Netzwerkdurchsetzungsgesetz] sehr gute und starke Werkzeuge zur Regulierung | |
| von sozialen Plattformen und zur Löschung des Hasses. Aber wir sind in der | |
| Umsetzung nicht so gut. Ich verliere die meisten Prozesse, weil mir das | |
| Gericht oft sagt, der Täter oder die Täterin sind nicht auffindbar, was ja | |
| jetzt zum Glück erleichtert werden soll. Aber auch Expert*innen sagen: | |
| Die Opfer haben keine Lobby. | |
| Wie können Sie sich Ihre Zuversicht bewahren? | |
| Ich habe heute eine Nachricht bekommen, die exemplarisch dafür steht, warum | |
| ich laut bleibe. Warum ich am Ende des Tages schaffe, dass dieser Hass mich | |
| nicht erdrückt. Da hat jemand geschrieben: „Ich habe gerade den [3][Podcast | |
| ‚Ehrlich jetzt‘ mit Ihnen] gehört, da standen mir direkt die Tränen in den | |
| Augen. Mein Vater wurde als Gastarbeiter geholt, aber behandelt wurden wir | |
| nicht als Gast. Ich lebe hier im Osten, und ich fühle eine gewisse Distanz | |
| einiger Menschen zu mir und meinen Nächsten. Vielen Dank für Ihre Arbeit.“ | |
| Wenn mich Leute fragen: „Was kann ich tun, damit ich Sie unterstützen | |
| kann?“, sage ich: Sei bitte laut solidarisch. Es ist für uns alle wichtig – | |
| als Demokrat*innen. | |
| 22 Jun 2023 | |
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| [3] https://www.zeit.de/serie/ehrlich-jetzt | |
| ## AUTOREN | |
| Nina Spannuth | |
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