| # taz.de -- Deutsche Muslime und Shoah: Bekenntnis zum Tätervolk? | |
| > Sollen sich migrantische Menschen zu Täter-Nachfahren erklären, um | |
| > dazuzugehören? Nein, sie haben andere Bezüge zur Shoah – gut so. | |
| Bild: Eine überwältigende Mehrheit redet sich die eigenen Vorfahren schön, J… | |
| Wenn eine Nachfahrin von Versklavten nach Großbritannien einwandert, wird | |
| sie dadurch nicht zur Nachfahrin von Sklavenhändlern. Ein Algerier in | |
| Frankreich wandert nicht in die Verantwortung für seine eigene | |
| Kolonisierung ein und ein asiatischer Immigrant in Australien nicht in die | |
| Schuld an der Ausrottung der Aborigines. | |
| Alle diversen Gesellschaften ringen mit der Frage, wie sich neu | |
| eingebrachte historische Prägungen zum Altbestand des Erinnerns und zur | |
| jeweiligen nationalen (weißen) Tätergeschichte verhalten. Deutschland ist | |
| also kein Einzelfall, doch hat das Thema hier besonderes Gewicht: zum | |
| ersten und unbestreitbar aufgrund der Monstrosität der NS-Verbrechen. Zum | |
| Zweiten aber, und hier wird es strittig, weil die deutsche Politik den | |
| Eindruck erweckt, migrantische Menschen könnten sich einen legitimen | |
| Aufenthalt im Land der Shoah [1][nur durch geschichtspolitische | |
| Bekenntnisse erkaufen]. Sie sollen sich, sofern nicht jüdisch, quasi zu | |
| Täter-Nachfahren umfigurieren. | |
| Wer die Verantwortung für den Holocaust nicht tragen wolle – und dies sei | |
| angesichts der Schwere der Schuld verständlich –, solle darauf verzichten, | |
| in Deutschland leben zu wollen, las ich kürzlich bei einem Berliner | |
| Sozialdemokraten. Zugleich aber verfällt bei vielen alteingesessenen | |
| Deutschen in verstörendem Tempo das Bewusstsein für die NS-Geschichte, | |
| ablesbar an den Erfolgen der AfD wie an Umfragedaten. Eine überwältigende | |
| Mehrheit redet sich die eigenen Vorfahren schön; sie hätten nichts gewusst | |
| und nichts getan. Wird nun auf Migranten abgewälzt, was man selbst nicht | |
| mehr leisten will? | |
| Die Soziologin Esra Özyürek beschreibt in ihrem Buch „[2][Subcontractors of | |
| Guilt]“ (Subunternehmer der Schuld) Beobachtungen in Projekten, die | |
| speziell Muslime an das richtige deutsche Erinnern heranführen sollen. Wenn | |
| diese nach einem Auschwitz-Besuch angesichts eigener Rassismus-Erfahrung | |
| die Angst äußerten, es könne ihnen womöglich einmal so ergehen, wie es | |
| Juden und Jüdinnen ergangen ist, dann seien dies „falsche Gefühle, eine | |
| falsche Empathie, eine falsche Furcht“, resümiert Özyürek. Muslime sollen | |
| sich bitte nicht mit jüdischen Opfern identifizieren, sondern sich bei den | |
| deutschen Täter-Nachkommen einreihen. | |
| Sinnvoll wäre eine gegenteilige Perspektive. Für Eingewanderte ist der | |
| Holocaust [3][nicht als die Geschichte von Eltern und Großeltern relevant], | |
| sondern weil er eine weltgeschichtlich extreme Erfahrung gewalttätigen, | |
| genozidalen Otherings (Distanzierung von anderen Gruppen, Abwertung einer | |
| anderen Gruppe; d. Red.) darstellt. Darauf kann sich, ungeachtet anderer | |
| Prägungen, potenziell jede/r beziehen, daraus lassen sich ethische | |
| Konsequenzen ableiten. Wer selbst Ausgrenzung, gar Bedrohungen erlebt, kann | |
| sich anders mit der NS-Geschichte verbinden als Alteingesessene. Eigene | |
| Erfahrungen können der Ausgangspunkt sein, um dann in der Schule zu | |
| verstehen, warum Juden und Jüdinnen im besonderen Maße zu Opfern wurden. | |
| Und vieles wird ja längst praktiziert, fern von politischem Gedröhn. Schon | |
| in den 1990ern suchten türkischstämmige Literaten eigene Zugänge zur | |
| NS-Geschichte. Gedenkstätten haben sich auf ein heterogenes Publikum | |
| eingestellt. Und seit mehr als einem Jahrzehnt wird wissenschaftlich über | |
| „Memory Citizenship“ gesprochen: sich mitsamt des Mitgebrachten zugehörig | |
| fühlen können. Tatsächlich ist die Bandbreite migrantischer Bezüge auf die | |
| NS-Geschichte beträchtlich. | |
| ## Andere Geschichtslinien | |
| Ein geflüchteter Syrer überraschte mich mit den Worten: „Wir müssen | |
| Verantwortung für Assad übernehmen, so wie die Deutschen für Hitler.“ Vom | |
| Bruder eines in Hanau Ermordeten hörte ich: „Die Deutschen haben keine | |
| Erinnerungskultur!“, Ausdruck seiner Verzweiflung angesichts der | |
| verbreiteten Gleichgültigkeit gegenüber rechtsextremen Mordtaten. Und es | |
| gibt familiäre Geschichtslinien, nur eben andere: Die Herkunftsländer | |
| osteuropäischer Zugewanderter waren NS-Opfer oder gelegentlich | |
| Kollaborateur. Aus dem Maghreb kamen Kolonialsoldaten, die gegen | |
| Nazi-Deutschland kämpften. Es gibt Deutsche, von denen ein Großvater bei | |
| der SS war und ein anderer ein griechischer Antifaschist. | |
| Palästinenser sind mit der deutschen Geschichte besonders eng verbunden, | |
| denn die Vertreibung ihrer Vorfahren aus der angestammten Heimat hätte es | |
| ohne den europäischen Antisemitismus, ohne die Shoah nicht in diesem Maße | |
| gegeben. Umso tragischer, wie gerade sie in diesen Wochen zum kollektiven | |
| Feind der Erinnerungskultur stilisiert werden – als hätten sie und nicht | |
| die Gesellschaft meiner Eltern und Großeltern den Holocaust auf dem | |
| Gewissen. | |
| ## Kein Konsens zur israelischen Regierung | |
| Letztlich ist die Übernahme historischer Verantwortung eine Frage der | |
| Entscheidung – bei neuen Deutschen ebenso wie bei den alten. Und es war | |
| eigentlich nie anders: Sensible Menschen meiner Generation fühlten sich | |
| schuldig, gerade weil es die meisten der Tätergeneration eben nicht taten. | |
| Je universeller die Lehre aus dem Holocaust formuliert wird, desto eher | |
| fördert sie Menschenrechte und Zivilcourage in einer diversen Gesellschaft | |
| – inklusive des Gebots, beim Schutz jüdischen Lebens mitzuwirken. | |
| Über Israel, zumal mit regierenden Rechtsextremisten, wird es hingegen | |
| keinen Konsens geben. Von der emotionalen Kälte derer, die autoritär | |
| „Staatsräson!“ rufen und bereits das Mitgefühl für Kinder in Gaza unter | |
| Antisemitismusverdacht stellen, fühlen sich viele abgestoßen; oft sind es | |
| die Gebildetsten, Erfolgreichsten der migrantischen Szene, die sich diesem | |
| Deutschland intellektuell entfremden – beziehungsweise Deutschland ihnen. | |
| Einen antifaschistischen Grundkonsens finden heute eher Minderheiten | |
| untereinander. Und vielleicht kommt eine Zeit, was ich nicht hoffe, wo sie | |
| es sind, die eine Bastion gegen die Völkischen sein werden. | |
| 23 Nov 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Charlotte Wiedemann | |
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