# taz.de -- KZ-Überlebender erinnert sich: „Endlich werden wir erschossen“ | |
> Im April 1945 befreiten die Briten das KZ Bergen-Belsen. Albrecht | |
> Weinberg erinnert sich gut. Wie könne er vergessen, bei allem was ihm | |
> angetan wurde. | |
Bild: Blick aus dem Dokumentationszentrum: Hier war einst das KZ Bergen-Belsen | |
taz: Herr Weinberg, am Sonntag werden Sie ins Konzentrationslager | |
Bergen-Belsen zurück kehren, 77 Jahre nach der Befreiung. Was erinnern Sie | |
aus Ihrer Gefangenschaft? | |
Albrecht Weinberg: Das kann man nicht vergessen. Als ich 13 Jahre alt war, | |
musste ich in die Zwangsarbeit, weil ich als Jude keine deutsche Schule | |
mehr besuchen durfte. Und das, obwohl meine Familie Deutsche waren. Sie | |
kämpften im Ersten Weltkrieg auf deutscher Seite. Meinen Vater haben sie, | |
einfach weil er eine andere Religion hatte, lebendig in die Gaskammer | |
gesteckt und ermordet. Auf Fotos von ihm ist zu erkennen, dass auf seinem | |
Uniformgürtel geschrieben stand: „Der Dank des Vaterlands sei euch gewiss.“ | |
Zu welcher Arbeit wurden Sie als Junge gezwungen? | |
Vier Jahre lang war ich auf Bauernhöfen, im Wald oder habe Kohlen | |
ausgeladen. [1][Nach der Wannseekonferenz] ist meine Gruppe über Berlin | |
nach Auschwitz gebracht worden. Verladen wurden wir am Grunewald, wo andere | |
Leute sich vergnügten, schwimmen und Beeren pflücken waren. Was in | |
Auschwitz war, wussten wir damals nicht. Ich war dann zusammen mit meinem | |
Bruder für fast zwei Jahre im KZ Monowitz. | |
Das ist auch als Auschwitz III bekannt. | |
Als der Russe näher kam, evakuierten uns die Deutschen, sie wollten ihre | |
Arbeitskräfte nicht verlieren. Man brachte uns nach Bergen-Belsen. | |
Wie war es dort? | |
Als ich ankam, war ich ein Muselmann. [Anmerkung der Redaktion: | |
KZ-Lagerszpracha für bis auf die Knochen abgemagerte Menschen im letzten | |
Stadium des Hungertodes] Meine Haut war ganz gelb und ich konnte nicht mehr | |
auf meinen Beinen stehen, ich war ein mit Haut überzogenes Skelett. Ich | |
weiß nicht mehr, wie ich auf die Rampe gekommen bin, aber man hat mich | |
einfach ins Lager umgekippt. Dann kamen die Engländer. | |
Wie erinnern Sie sich an den Tag der Befreiung? | |
Als die Engländer mit einer Panzertruppe einmarschierten, habe ich gedacht: | |
„Endlich werden wir erlöst, jetzt werden wir erschossen“, doch sie haben | |
uns gut behandelt. Bergen-Belsen war ein Friedhof. Da haben Tausende von | |
Häftlingen gelegen, die schon halb verwest waren. Sie wurden dann in einem | |
Massengrab beerdigt. | |
Wie ging es für Sie weiter? | |
Wenn wir zu essen bekamen, ein Stück Butter und ein Stück Weißbrot, konnten | |
unsere Körper das gar nicht verdauen. Das ging durch uns durch wie eine | |
Flasche Rizinus. Viele sind noch nach der Befreiung gestorben. Zu Fuß habe | |
ich mich später nach Hannover aufgemacht, um meine Familie zu suchen. Ende | |
1945 habe ich durch das Rote Kreuz meine Schwester wiedergefunden. Auch | |
mein Bruder war wieder in Leer. Dort haben sie ihn mit den Worten | |
empfangen: „Warum haben sie dich nicht auch ermordet?“ Wir wollten also | |
raus aus Deutschland. Im Januar 1947 sind wir dann von Bremerhaven nach | |
Amerika ausgewandert, da blieb ich für 60 Jahre. | |
Wie gehen Sie mit Ihren Erinnerungen um? | |
Ich denke da seit 90 Jahren jeden Tag dran. Ich schlafe nicht, sondern habe | |
mein Radio am Ohr. Wie könnte ich es vergessen, bei allem, was man mir | |
angetan hat – seelisch und körperlich. Ich sehe meine Mutter, meinen Vater, | |
über 40 Menschen wurden ermordet, von den Nazis, von Deutschland, von | |
unseren Nachbarn. Von Menschen, mit denen sie Tee getrunken haben. | |
Wie fühlt es sich an, nach Bergen-Belsen zurückzukehren? | |
[2][Ich bin einer der wenigen Zeitzeugen]. Deutsche Juden in meinem Alter | |
gibt es ja heute nicht mehr. Die 50 Überlebenden, die am kommenden | |
Wochenende nach Bergen-Belsen kommen, waren damals meist kleine Kinder. Sie | |
sind jetzt siebzig, achtzig Jahre alt. Wie ich mich fühle? Ich gehe auf | |
einem Friedhof, auf einem jüdischen Friedhof. Haben Sie das mit den Kirchen | |
in Bayern mitbekommen, mit der Judensau? Der Antisemitismus ist wieder groß | |
in Deutschland. | |
Haben Sie schon vor Kriegsbeginn Antisemitismus erlebt? | |
Ich bin in Ostfriesland aufgewachsen. Als ich sieben oder acht war, bin ich | |
mit Schulkameraden Schlittschuhlaufen gegangen und ins Eis eingebrochen. | |
Sie haben nur am Ufer gestanden und auf Plattdeutsch gesungen: „[3][Sitzt | |
ein Jude im Kanal], sitzt ein Jude im Kanal, wenn er ertrinkt, wir werden | |
ihm nicht helfen.“ Vorher hatten wir noch zusammen gespielt. Der | |
Antisemitismus in Rhauderfehn, wo drei jüdische Familien gewohnt haben, war | |
unglaublich. Wenn etwas in der Welt schief ging, waren die Juden schuld. | |
Die Juden und die Radfahrer, sag ich immer. | |
Sie sind an viele Schulen gegangen, um von Ihren Erlebnissen zu berichten. | |
Oh, ja. In Rhauderfehn gibt es eine Schule mit über 1.000 Schülern. | |
Albrecht-Weinberg-Gymnasium heißt die heute. Anfang Oktober fahren wir | |
zusammen mit einigen Schülern und Lehrern sogar nach Israel. | |
Warum ist Erinnerungsarbeit so wichtig? | |
Damit so etwas nie wieder passiert. Sehen Sie sich die Welt doch an. Über | |
die Flüchtlinge sagen sie, „die sollen doch bleiben wo sie sind“. | |
Unglaublich. | |
Machen Ihnen der Rechtsruck und der wachsende Antisemitismus in Europa | |
Sorgen? | |
Ja, natürlich. Jetzt, wo ich einer der letzten Überlebenden bin, weiß ich | |
gar nicht mehr, wohin ich gehen soll, so viele Interviewanfragen bekomme | |
ich. Wo waren die die ganzen Jahre? Da wurde nicht drüber geredet. | |
Trotz Ihrer schrecklichen Erlebnisse leben Sie heute wieder in | |
Ostfriesland. Warum? | |
Ende der Achtziger-, Anfang der Neunzigerjahre hat die Stadt Leer versucht, | |
ehemalige jüdische Bürger der Stadt ausfindig zu machen und hat mich und | |
meine Schwester eingeladen. „Ich gehe doch nicht wieder zurück nach | |
Deutschland, nachdem, was sie uns angetan haben“, dachte ich zuerst. In den | |
USA ging es uns gut, wir hatten eine Wohnung, eine Arbeit. Ein paar Monate | |
später erreichte mich ein Foto der ehemaligen jüdischen Schule, auf dem | |
auch Cousins von mir zu sehen waren, die überlebt hatten. Seit fast zehn | |
Jahren bin ich nun wieder hier. Zwei Monate nach unserer Ankunft ist meine | |
Schwester gestorben. Ich bin geblieben. | |
3 Sep 2022 | |
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## AUTOREN | |
Marco Fründt | |
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