# taz.de -- Albrecht Weinberg über die Brandmauer: „Die Tür ist aufgegangen… | |
> Der jüdische Holocaust-Überlebende will sein | |
> Bundesverdienstkreuz zurückgeben: Weil sich Union und AfD | |
> zusammengetan haben. | |
Bild: Albrecht Weinberg in seiner Wohnung in Ostfriesland | |
taz: Herr Weinberg, Sie haben mehrere Konzentrationslager überlebt, ein | |
großer Teil Ihrer Familie wurde im Nationalsozialismus ermordet. Nach dem | |
Antrag, den die Union mit Stimmen von AfD und FDP beschlossen hat, haben | |
Sie angekündigt, Ihr Bundesverdienstkreuz zurückzugeben. Warum? | |
Albrecht Weinberg: Die haben sich mit den Rechtsradikalen zusammengetan. | |
Und was wird dabei herauskommen? Dasselbe wie 1933, als Hindenburg Hitler | |
die Hand gegeben hat. Heute reichen die sich wieder die Hände, nach allem, | |
[1][was ich und meine Familie durchgemacht haben] in der Nazizeit. Da kann | |
ich das Bundesverdienstkreuz nicht mehr an meiner Jacke tragen. Das würde | |
zu schwer werden. | |
taz: Noch am Vormittag der Abstimmung wurde im Bundestag des Holocaust | |
gedacht. Was macht das mit Ihnen? | |
Weinberg: Ich bin mit 13 Jahren in Zwangsarbeit und 1943 ins KZ gekommen. | |
1945 wurde ich befreit, meine Familie war ermordet worden. Was kann ich | |
dazu sagen? Da gibt es nichts zu sagen, außer, dass ich das | |
Bundesverdienstkreuz nicht akzeptiere, das geht einfach nicht. | |
taz: Der Gesetzesentwurf ist im Parlament knapp gescheitert. Ändert das | |
etwas für Sie? | |
Weinberg: Ja. Aber die Tür ist einen Spalt aufgegangen. Und die nächsten | |
Wahlen? Dann ist es wieder ein bisschen mehr. So hat das früher auch | |
angefangen, der [2][Hass, Mord, Totschlag]. Die Leute, die heute am Ruder | |
sind, können sich ja gar kein Bild davon machen, wie Deutschland aussah, | |
nachdem der Krieg zu Ende war. | |
taz: Ihre Ankündigung, die Auszeichnung zurückzugeben, wurde viel beachtet. | |
Weinberg: Ich habe nie gedacht, dass so ein Tamtam gemacht wird, weil ich | |
[3][das Ding zurückgebe]. Das ist einfach meine Idee gewesen, als ich das | |
gehört habe. Jetzt melden sich viele bei mir und alle wollen dasselbe | |
hören. | |
taz: Der Bundespräsident hat Sie nach Berlin eingeladen, um Sie zu | |
überzeugen, das Bundesverdienstkreuz zu behalten. Haben Sie sich schon | |
entschieden? | |
Weinberg: Präsident Steinmeier hat mich angerufen, um mit mir darüber zu | |
sprechen. Aber ich werde bald 100 Jahre alt und kann nicht mehr nach Berlin | |
kommen. Vielleicht müssen wir uns auf halbem Weg treffen. | |
taz: Sie hatten sich einmal geschworen, nie wieder nach Deutschland | |
zurückzukehren, jetzt leben Sie hier. | |
Weinberg: Ich bin nur wegen der schweren Krankheit meiner Schwester | |
zurückgekehrt. Die Stadt Leer, in deren Nähe ich aufgewachsen bin, hatte | |
uns in den 1980er Jahren eingeladen, doch wir hatten kein Interesse. Wenig | |
später schickte uns ein Religionslehrer ein altes Bild von [4][der | |
jüdischen Schule in Leer], auf dem unsere Cousins zu sehen waren, die in | |
Holland überlebt hatten. Da haben wir unsere Meinung geändert. | |
Hier haben wir dann Menschen der zweiten und dritten Generation getroffen, | |
zum Teil ganz junge Leute. Die konnten nicht verstehen, [5][was ihre | |
Großeltern] und Urgroßeltern angestellt haben, nur weil wir einen anderen | |
Glauben hatten. Als ich in ihrem Alter war, hätte ich wegen des | |
Antisemitismus in Ostfriesland nicht mit ihnen spielen dürfen. | |
taz: 2017 haben Sie das Bundesverdienstkreuz für Ihr Engagement in der | |
Erinnerungsarbeit bekommen. Waren Sie stolz? | |
Weinberg: Ich habe mich geehrt gefühlt. Das habe ich nie erwartet, ich bin | |
ja nur in die Schulen gegangen, um den Kindern und Jugendlichen zu | |
erzählen, wie es mir ergangen ist in einer Diktatur. | |
taz: Und dann kam der 29. Januar. | |
Weinberg: Ich finde es unfassbar, dass die sich nun zusammengetan haben. | |
Auch eine CDU-Bundestagsabgeordnete, mit der ich wirklich befreundet war, | |
hat [6][für den Antrag gestimmt]. Sogar in der zweiten Abstimmung. Das hat | |
mich sehr enttäuscht. | |
taz: Zwar leben Sie seit 2012 wieder in Deutschland, die USA bleiben jedoch | |
Ihre Heimat. Werden Sie bei der kommenden Bundestagswahl wählen? | |
Weinberg: Ja, aber ich gehe nicht zum Wahlbüro. Ich wähle per Post. | |
taz: Heute wohnen Sie in Leer, in der Nähe Ihres damaligen Heimatorts. Was | |
denken Sie über die Wahlplakate in Ihrer Nachbarschaft? | |
Weinberg: Auf einem Plakat [7][der CDU-Abgeordneten meines Wahlkreises] | |
wurden ihr die Augen ausgekratzt, daneben steht „armer Albrecht“, mein | |
Name. | |
taz: AfD-Politiker:innen relativieren regelmäßig den Nationalsozialismus. | |
Heute kann die Partei Bundesgesetze beeinflussen. Hat Deutschland versagt? | |
Weinberg: Warum gibt es denn heute kaum jüdische Menschen in Deutschland? | |
Die deutsche Bevölkerung hat in den Dreißigerjahren ordentlich mitgeholfen. | |
Sie standen hinter den Gardinen, wenn wir [8][durch die Straßen gejagt] | |
oder in Waggons gesteckt und weggebracht wurden. Niemand ist auf die Straße | |
gegangen und hat gesagt: „Was ist los hier? Das sind doch unsere Nachbarn. | |
Die sind doch genauso wie wir.“ Die heutige Jugend geht zu Demonstrationen. | |
Manchmal denke ich, es hat geholfen, dass ich den Menschen erzählt habe, | |
was in den Jahren passiert ist. | |
taz: Sie werden im März 100 Jahre alt. Was würden Sie heute jungen Menschen | |
raten, die vielleicht zum ersten Mal bei einer Bundestagswahl abstimmen | |
dürfen? | |
Weinberg: [9][Macht den Mund auf], seid nicht schüchtern! So wie es im | |
Moment aussieht, haben die Jugendlichen keine gute Zukunft. | |
taz: Sie haben einmal gesagt, Auschwitz ist für Sie keine Vergangenheit, | |
sondern Gegenwart. Sie tragen das erlebte Grauen immer mit sich. Wie | |
verhindern wir, dass es nicht wieder die Zukunft wird? | |
Weinberg: Einzeln können wir nichts ausrichten, wir können nur unsere | |
Meinung sagen. Die Politiker müssen etwas tun. Aber wenn sie [10][mit | |
Rechtsradikalen unter die Decke] gehen, ist das zu viel für mich. | |
5 Feb 2025 | |
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## AUTOREN | |
Marco Fründt | |
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