| # taz.de -- Debatte Wahlverhalten in Ost und West: Die späte Rache der Ossis | |
| > Über 20 Prozent der ostdeutschen Wähler und Wählerinnen stimmten für die | |
| > AfD. Das hat auch mit der Arroganz der Wessis zu tun. | |
| Bild: Angela Merkel im sächsichen Annaberg-Buchholz: Woher kommt nur dieser Ha… | |
| Berlin taz | Über 22 Prozent der Ostdeutschen haben die AfD gewählt. Das | |
| ist wirklich krass. In Sachsen ist sie stärkste Partei geworden, noch vor | |
| der CDU. Hätte das Land am Sonntag nicht den Bundestag gewählt, sondern | |
| einen neuen Sächsischen Landtag, könnte jemand von der AfD | |
| Ministerpräsident werden. | |
| Ich bin erschüttert. Schockiert. Irritiert. Was ist los mit dem Land, in | |
| dem ich geboren worden bin und eine glückliche Kindheit hatte? In dem ich | |
| studiert habe und das ich – ich kann nicht anders – nach wie vor meine | |
| Heimat nenne. | |
| Als ich gestern das Wahlergebnis hörte, hatte ich sie sofort im Ohr, all | |
| die Kommentare zur Stärke der AfD zwischen Greifswald und Bitterfeld, | |
| Dresden und Suhl. Auch all die Erklärungsmuster, die damit meist | |
| einhergehen: alles Nazis im Osten. Haben wir schon immer gewusst. Was haben | |
| die Zonendeppen eigentlich gelernt in den vergangenen 28 Jahren? Echte | |
| Demokratie jedenfalls nicht. Sieht man ja. | |
| Und: Die sollen mir nicht schon wieder kommen mit Totschlagargumenten wie | |
| „Wir Ossis sind wirtschaftlich abgehängt“ und „Um uns kümmert sich | |
| niemand“. Wir (Wessis) haben denen schließlich alles schick gemacht: | |
| Dorfbürgersteige gepflastert, stinkende Chemieflüsse gereinigt, saubere | |
| Heizungen in ihre maroden Wohnungen eingebaut. Den Golf können sie jetzt | |
| sofort – ohne Wartefrist so wie früher in der DDR – vom Hof fahren, sogar | |
| dann, wenn sie ihn noch nicht vollständig bezahlt haben. Und Nutella | |
| schmeckt sowieso besser als Nudossi. | |
| Gestern Abend erinnerte ich mich auch wieder an ein Erlebnis, das ich als | |
| 26-jährige Journalistin an der renommierten Hamburger Henri-Nannen-Schule | |
| hatte. Ich war stolz darauf, einen der äußerst raren Plätze für | |
| OstjournalistInnen ergattert zu haben, und froh, in kurzer Zeit viel zu | |
| lernen. Und dann kam der wichtige Mann von der Zeit: Haug von Kuenheim. | |
| ## Hundsmiserabele Ostgazetten | |
| Er setzte sich zwischen uns junge RedakteurInnen unterschiedlicher | |
| Ostzeitungen. Es war ein warmer Sommertag, die Ikea-Stühle standen im Kreis | |
| auf einer sattgrünen Wiese. Wow, die Zeit, dachte ich, und war gespannt und | |
| neugierig. Doch von Kuenheim erzählte nicht, wie es bei diesem Wochenblatt | |
| zugeht und wie wir es am besten anstellten, dort einen Text zu landen. | |
| Stattdessen ließ er eine Tirade ab: wie hundsmiserabel die Ostgazetten | |
| seien mit einem Journalismus, der den Namen nicht verdiene, mit all den | |
| Ratgeberseiten über Mieten, Krankenversicherungen, Währungsunion. | |
| Was erzählt der da? Ich war entsetzt. Wie sonst sollten die Ossis das für | |
| sie neue System verstehen, wenn sie es nicht erklärt bekommen? Und wer | |
| sonst sollte das machen, wenn nicht ostdeutsche Medien? Westmedien | |
| interessierten sich damals vor allem für Honecker, Mielke und Egon Krenz. | |
| Es ist diese Arroganz von Westdeutschen wie des Zeit-Kollegen, die viele | |
| Ostdeutsche damals zutiefst verletzte. Und die sich vielfach bis heute | |
| durchzieht. Wenn von Ostdeutschen die Rede ist, dann wird der sächsische | |
| Dialekt bemüht. Der klingt – zugegeben – nicht sexy. Aber welcher Dialekt | |
| ist schon charmant? | |
| Wenn von Ostdeutschland die Rede ist, kursieren jede Menge Klischees, die | |
| zusammengeschnurrt Stasi, gemeinsames Topfen in der Krippe und FKK heißen. | |
| Das langweilt die Ostdeutschen so heftig, wie es sie aufregt. | |
| Sie hatten gehofft, irgendwann sei Schluss mit Ossi- und Bananenwitzen, mit | |
| Vorurteilen. Viele Ossis fühlen sich auch 28 Jahre nach dem Mauerfall noch | |
| immer nicht wertgeschätzt. | |
| Sie hatten auch gehofft, irgendwann bekommen sie ihr Land wieder – nachdem | |
| die Treuhand die sogenannte dritte Garde aus Westmanagern nach Delitzsch, | |
| Wittenberge und Chemnitz geschickt hatte, um Betriebe abzuwickeln. | |
| Irgendwann brummen ostdeutsche Wirtschaft und Wissenschaft schon wieder – | |
| hatten sie geglaubt. Und die Politik in Neubrandenburg, Zwickau und Erfurt | |
| werde von Ostdeutschen gemacht. So wie auch Zeitungen, Radio und Fernsehen. | |
| Irgendwann haben wir unser Land wieder. Dafür nehmen wir auch mal diese | |
| westdeutsche Arroganz in Kauf. Im Verdrängen sind wir ja gut. | |
| Heute, fast 30 Jahre nach dem Ende der DDR, haben die Ostdeutschen ihr Land | |
| aber nicht wieder. Es ist nach wie vor in Wessihand. Nicht in den verödeten | |
| ostdeutschen Dörfern in der Prignitz, im Muldentallandkreis, im | |
| Ueckerrandowkreis. Dort herrscht ostdeutsche Lethargie vom Feinsten: | |
| Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Alter. | |
| Aber dort, wo der Osten bestimmt wird, an der Spitze, wird er vom Westen | |
| dominiert. Die Universität Leipzig und der Mitteldeutsche Rundfunk haben | |
| vor einem Jahr untersucht, wie stark Ostdeutsche in ostdeutschen | |
| Landesregierungen, Regionalzeitungen, öffentlich-rechtlichen | |
| Rundfunkanstalten und Unternehmen vertreten sind. Das Ergebnis ist so | |
| erschreckend wie selbsterklärend: Außer bei den Landesregierungen, die | |
| mittlerweile zu 70 Prozent aus Ostdeutschen bestehen, sind Frauen und | |
| Männer aus Rostock, Erfurt, Leipzig in entscheidenden Positionen | |
| unterrepräsentiert. | |
| In den 28 Chefsesseln beim MDR, dem RBB und dem NDR sitzen 8 Ostdeutsche | |
| und 20 Westdeutsche. Von den 13 ChefredakteurInnen der 13 größten | |
| ostdeutschen Regionalzeitungen kommen 8 aus dem Osten, 2 der 23 | |
| VerlagsleiterInnen sind Ostdeutsche. Lediglich ein Viertel der 100 größten | |
| Unternehmen in den neuen Ländern wird von Ostdeutschen geleitet, dafür zu | |
| knapp 60 Prozent von Westdeutschen. Der Rest der Unternehmensleitungen | |
| kommt aus dem Ausland. | |
| Nur 3 der insgesamt 190 Vorstände der 30 DAX-Unternehmen haben einen | |
| ostdeutschen Hintergrund. Auch nur 3 der 22 Rektoren der größten Unis und | |
| Hochschulen im Osten. Und so geht das weiter: Ostdeutsche sind bei | |
| Leitungen von Instituten, wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen, an | |
| Landesgerichten und obersten Bundesgerichten wie bei der Bundeswehr | |
| unterrepräsentiert. | |
| 60 Prozent der Ostdeutschen, die am Sonntag die AfD gewählt haben, waren | |
| ProtestwählerInnen. Sie haben den etablierten Parteien ihre Stimme | |
| verweigert, weil sie erlebt haben, dass sie von ihnen weitgehend vergessen | |
| werden – trotz einer Kanzlerin aus dem Osten. | |
| Die Ostdeutschen fühlen sich an der Nase herumgeführt. Die große Freiheit, | |
| von der sie nach dem Ende der SED-Diktatur geträumt hatten, von der | |
| Hoffnung, gehört zu werden, gibt es für viele nicht. | |
| Um nicht falsch verstanden zu werden: AfD-WählerInnen sind nicht zu | |
| bedauern, ihre Wahlentscheidung – Trotz hin, Trotz her – ist skandalös. | |
| Aber sie wird nachvollziehbarer, betrachtet man sie stärker auf der | |
| Schablone des Nichtbeachtetwerdens. | |
| Möglicherweise hätte die AfD im Osten nicht so gut abgeschnitten, wären die | |
| Ostdeutschen ernster genommen worden, hätte man ihnen mehr Respekt | |
| entgegengebracht. Ihr Kreuz bei der AfD ist die späte Rache der | |
| Ostdeutschen für die Entwürdigung der vergangenen Jahrzehnte. | |
| [1][Lesen Sie mehr zur Bundestagswahl 2017 in unserem Schwerpunkt] | |
| 25 Sep 2017 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Schwerpunkt-Bundestagswahl-2025/!t5007549 | |
| ## AUTOREN | |
| Simone Schmollack | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt AfD | |
| Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
| Wessis | |
| Schwerpunkt Ostdeutschland | |
| Rechtsextremismus | |
| Privatisierung | |
| Schwerpunkt AfD | |
| Lesestück Meinung und Analyse | |
| Lesestück Interview | |
| Schwerpunkt AfD | |
| Sachsen-Anhalt | |
| Lesestück Meinung und Analyse | |
| Schwerpunkt taz Leipzig | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Schwerpunkt AfD | |
| Bundestag | |
| Anti-AfD-Proteste | |
| Schwerpunkt AfD | |
| Ergebnisse | |
| taz.gazete | |
| Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Ostdeutscher Blick auf Mauer-Zirkeltag: Ich bin ein „Wossi“ | |
| Unsere Autorin wurde vor dem Mauerfall im Osten geboren. Ihre Generation | |
| steckt immer noch im Dazwischen fest. Warum nur? | |
| Neue Studie zur Treuhandanstalt: Traumatisierungsanstalt Treuhand | |
| Der radikale Privatisierungskurs kurz nach der Wende hat ein Trauma im | |
| Osten hinterlassen. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue Studie. | |
| Debatte Kolonialisierung durch Westen: Eine neue Ostpolitik | |
| Wenn die nächste Bundesregierung ein überwölbendes Projekt sucht – wie wä… | |
| es, 28 Jahre nach dem Mauerfall für echte Ost-West-Verständigung zu sorgen? | |
| Debatte Rassismus in Deutschland: Ist der Ruf erst ruiniert | |
| Ost wie West sind mittlerweile vereint im Rassismus – nur ist das Etikett | |
| Nazi den Menschen im Osten der Republik zunehmend egal. | |
| Ex-Bürgermeister von Tröglitz über AfD: „Sie wissen, wen sie da wählen“ | |
| Der Erfolg der AfD im Osten sei nicht mit Demütigungen nach der Wende zu | |
| entschuldigen, sagt Markus Nierth. Viele seien nie in der Demokratie | |
| angekommen. | |
| Essay Wahlerfolg der AfD: Die Rache der Peripherie | |
| Im Osten gab es die meiste Zustimmung für die AfD. Doch die Attraktivität | |
| des Rechtspopulismus ist ein europäisches, kein ostdeutsches Phänomen. | |
| Parteienverdruss in Sachsen-Anhalt: Geliebt und gehasst | |
| Viele glauben sich nicht mehr von den etablierten Parteien vertreten. Das | |
| zeigt sich sogar an einem Streit um ein Bürgermeisteramt einer Kleinstadt. | |
| Serie: Wie weiter, Germans? (8): Raus jetzt aus Bullerbü | |
| Alles schlimm wegen der AfD – und dann auch noch eine Jamaika-Koalition? Im | |
| Gegenteil: Jetzt ist die Chance da, ein paar Dinge neu zu sehen. | |
| Jugendwahl U18 in Leipzig: Wider die Schwellenangst | |
| Jugendwahlen sind ein Mittel der politischen Bildung. Doch oft geht das | |
| Angebot an Kindern aus bildungsfernen Haushalten vorbei. | |
| AfD als stärkste Partei in Sachsen: Verliebt in die Angst | |
| Wirklich regieren soll die AfD nicht, sagen viele in der Lausitz. Die | |
| Partei müsse aber mitreden und anderen „auf die Finger kloppen“. | |
| AfD im Bundestag: Soll man sie eine Nazipartei nennen? | |
| Schadet es der AfD, wenn man sie Nazis nennt? Nutzt es ihr? Ist es | |
| überhaupt sachlich richtig? Ein Pro und Kontra. | |
| Quote im Bundestag: Frauenmangel im Plenarsaal | |
| Nur 218 Frauen, aber 491 Männer wurden in den neuen Bundestag gewählt, der | |
| Frauenanteil ist so niedrig wie seit 1994 nicht mehr. Das liegt an Union, | |
| FDP und AfD. | |
| Kommentar AfD und Minderheiten: Unsere Party ist geiler! | |
| Gauland bläst zur Jagd – besonders Minderheiten sehen sich nun gefährdet. | |
| Man darf sich aber nicht zu Gejagten machen lassen. | |
| Kommentar Petry und die AfD-Fraktion: Kein kluger Schachzug | |
| Petrys Entscheidung als Fraktionslose in den Bundestag zu gehen, zeigt die | |
| Gräben in der AfD. Doch so einfach wird sich das Problem AfD nicht lösen. | |
| Wahlanalyse für Berlin: Politische Kleinstaaterei | |
| Die CDU wurde in Berlin stärkste Kraft, aber hat Stimmen an FDP und AfD | |
| verloren. Auch Linken-Wähler wechselten zur AfD. | |
| Analyse AfD-Fraktion im Bundestag: Das Tabu zerbröselt | |
| Die AfD will den Bundestag aufmischen – und das wird ihr auch gelingen. | |
| Zuerst kämpft sie aber intern: Petry will nicht der Fraktion angehören. | |
| Hochrechnung Bundestagswahl 2017: Merkel regiert weiter, AfD ist stark | |
| Die CDU siegt, dahinter schwach die SPD, die in die Opposition gehen will. | |
| Die AfD wird drittstärkste Kraft, dahinter die FDP, dann Grüne und Linke | |
| fast gleichauf. |