Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Parteienverdruss in Sachsen-Anhalt: Geliebt und gehasst
> Viele glauben sich nicht mehr von den etablierten Parteien vertreten. Das
> zeigt sich sogar an einem Streit um ein Bürgermeisteramt einer
> Kleinstadt.
Bild: Ist das eine Hassfigur? Regine Blenkle (hinten links) auf dem Altstadtfes…
Haldensleben taz | Scheinwerfer tauchen die Bühne am Marktplatz von
Haldensleben in helles Licht. Ein Freitag Ende August, 8 Uhr abends, Beginn
des 26. Altstadtfests. Eine Frau im grünen Sakko tritt ans Mikrofon, ein
paar Hundert Zuschauer vor sich. „Die Bratwürste brutzeln schon“, sagt die
Rednerin. Sie heißt Sabine Wendler und ist stellvertretende
Bürgermeisterin. Im Hintergrund tönt von einem Karrussel ein Popsong:
„She’s so lucky, she’s a star.“ Britney Spears. Nach fünf Minuten hat
Wendler alles gesagt, kein Applaus, schnell laufen die Zuschauer
auseinander. „Wir wollten mal sehen, wie die Neue so ist“, sagt ein
Passant.
Gut 50 Meter weiter flaniert die suspendierte Bürgermeisterin Regine
Blenkle an den Bratwurstständen vorbei. Diese Rede hätte sie halten sollen,
sagt Blenkle. Schließlich ist sie von den Stadtbewohnern direkt zur
Bürgermeisterin gewählt worden. Blenkle schüttelt Hände, umarmt Passanten.
Man könne sehen, wer noch zu einem steht, sagt Blenkle einer Gruppe. Einige
Haldenslebener aber schauen demonstrativ weg, als sie den Weg der
Bürgermeisterin kreuzen.
Haldensleben ist gespalten, und dabei geht es um Regine Blenkle. 25 Jahre
saß sie im Stadtrat, war einst Mitglied der PDS und vertrat diese Partei im
Landtag. Im Sommer 2015 wurde sie zur Bürgermeisterin von Haldensleben
gewählt – nun als Parteilose. Keine zwei Jahre später, im Januar 2017,
suspendierten die Stadtratsfraktionen Blenkle vom Bürgermeisteramt.
Haldensleben erlebt politisches Chaos, es gibt tote Ratten an Türklinken,
Todeswünsche im Internet, Streit um Akten. Die seien entwendet und
geschreddert worden, lautet ein Vorwurf. Niemand weiß, ob und welche
brisanten Informationen sie enthalten haben könnten.
Hinter den unappetitlichen Details dieses Streits wird ein Phänomen
erkennbar, unter dem Sachsen-Anhalt besonders leidet: Ein Teil der
Bevölkerung fühlt sich nicht mehr vertreten von Politik. In Sachsen-Anhalt
nehmen so wenige Menschen an Wahlen teil wie in keinem anderen Land. Bei
der Bundestagswahl war die AfD mit knapp 20 Prozent der Zweitstimmen
zweitstärkste Kraft. Wer kämpft aber nun gegen wen in Halbensleben?
## „Auf Sumpf gebaut“
Stunden vor der Eröffnung des Altstadtfests trifft sich die
Bürgerinitiative „FÜR Haldensleben“. „Freiheitliches Denken,
Überparteilichkeit, Rechtsstaat“, dafür steht „FÜR“, so erklären es z…
Anhänger. Jan Hoffman und Iris Wolff fühlen sich vom Rat ihrer Stadt nicht
mehr vertreten. Ihre Initiative wird dem Blenkle-Lager zugerechnet. Heute
holen sie die Flyer ab, die sie verteilen wollen.
„Zuerst weigerten die Druckereien sich, unser Flugblatt zu drucken“, sagt
Hoffman. Auf sechs Seiten führt die Initiative auf, wie viel Steuergeld die
Suspendierung der Bürgermeisterin schon gekostet habe. Mit Gerichtskosten,
dem Gehalt Blenkles und dem Einsatz von Stellvertretern kommen sie auf
300.000 Euro. „Haldensleben ist auf Sumpf gebaut“, sagt Iris Wolf. Blenkle
habe aufräumen wollen – und scheiterte.
Haldensleben, 20.000 Einwohner, eine halbe Autostunde von Magdeburg, ist
eine schöne Stadt. Die Arbeitslosigkeit ist gering, 1992 kam Helmut Kohl
mehrfach persönlich her und bemühte sich um Unternehmensansiedlungen. Der
Otto-Versand, Ifa Rotorion oder Euroglas verzeichneten hier
Wirtschaftserfolge, wie sie kaum ein anderer Ort in der Region kennt. Die
Fachwerkhäuschen der Innenstadt sind rausgeputzt, einst waren sie Ruinen.
Eine Gewinnerstadt in Sachsen-Anhalt, könnte man meinen. Warum es im
Rathaus nun so einen Krach gibt, darüber lassen sich verschiedene
Erzählungen finden.
## 25 Jahre CDU-Herrschaft
Die Vorgeschichte geht so: 25 Jahre regierte Norbert Eichler, CDU, die
Stadt. Als ein langjähriger CDU-Ratsherr, Reinhard Schreiber, sein
Nachfolger werden wollte, setzte sich Eichler kurz vor seinem Ruhestand für
einen parteilosen Fachmann ein: Henning Konrad Otto, zuvor Zweiter
Bürgermeister, sollte Kandidat der CDU werden. Im CDU-Verband brach Streit
aus, schließlich stellte die Partei Otto auf, Schreiber aber ging trotzdem
und allein an den Start. Ebenfalls zur Wahl trat Ratsherrin Blenkle an,
seit 25 Jahren Widersacherin der CDU. Sie schaffte es in die Stichwahl
gegen Otto, Schreiber schied aus.
Am Abend der ersten Wahlrunde feierte die CDU siegessicher. „So eine wie
diese Blenkle wird die Stadt nie regieren“, soll Eichler seinem Kandidaten
Otto versichert haben. Doch es kam anders. Mit Anti-Establishments-Slogans,
der Darstellung Ottos als arrogantem „Wessi“ und Stimmen aus dem
enttäuschten CDU-Schreiber-Lager schaffte Blenkle es. Sie schlug den
Bürokraten Otto in der Stichwahl um 337 Stimmen und wurde im Sommer 2015
Bürgermeisterin.
Für die Parteiverbände im Ort war das eine Blamage. Ins Bürgermeisterbüro
zog nun also eine Einzelkämpferin ein – und ausgerechnet jene dienstälteste
Stadträtin, die ihnen schon im Rat das Leben schwer gemacht hatte.
Spätestens ab diesem Zeitpunkt unterscheiden sich die Erzählungen stark
voneinander.
## Blenkle wollte „aufräumen“
Die einen, etwa die Initiative und Blenkle selbst, sagen, die neue
Bürgermeisterin habe von Anfang an die Konfrontation mit dem Stadtrat
gesucht. Sie ließ Zuschauer in den Sitzungen zu, öffnete die Türen des
Rathauses. Blenkle wollte „aufräumen“, Transparenz schaffen, ließ sämtli…
Post über ihren Schreibtisch gehen. Gab es Anfragen von Bürgern, besuchte
sie einige persönlich. Schluss sollte sein mit dem Netz der Gefälligkeiten,
das sich die lokalen Politeliten – dieser Darstellung zufolge – in der
Vergangenheit aufgebaut hatten.
Die andere Erzählung, vertreten vor allem von der Stadtratsmehrheit, geht
so: Bürgermeisterin Blenkle sei von Anfang an mit der Leitung einer Behörde
überfordert gewesen. Blenkle war zwar PDS-Landtagsabgeordnete gewesen, saß
25 Jahren im Stadtrat, kennt alle politischen Baustellen – aber wie eine
Behörde mit Bürgerservice und Aktenbergen geführt wird, wusste sie nicht.
Am Morgen vor dem Altstadtfest feiert die Stadt mit ihren Partnerstädten.
Die stellvertretende Bürgermeisterin Sabine Wendler ist dabei, Menschen aus
Verwaltung und Stadtrat. Gäste aus Polen sind angereist. Eine Bootstour auf
dem Mittellandkanal. Das Anti-Blenkle-Lager stöhnt, sobald die Rede auf die
Bürgermeisterin kommt. „Wir müssen dafür sorgen, dass die Verwaltung
funktioniert“, sagt Wendler. Alles andere sei nachrangig und werde von
Gerichten entschieden. Blenkle habe alles durcheinandergebracht, sagen sie
hier.
## Verschwundene Akten
Blenkle selbst sagt, am Anfang habe sie sich erst einmal Übersicht
verschaffen wollen. Aus der Verwaltung allerdings heißt es, die neue
Bürgermeisterin habe schnell Teile der Belegschaft gegen sich aufgebracht,
Konflikte geschürt. Sie legte sich mit Teilen der Feuerwehr an, mit der
Leitung der Jugendherberge, traf Personalentscheidungen, die selbst in
ihrem Lager auf Unverständnis stießen. Innerhalb von 18 Monaten sprach sie
mehr Abmahnungen für Mitarbeiter aus, als es ihr Vorgänger in 25 Jahren
getan hatte.
Unternehmer schrieben offene Briefe: Blenkle verhindere wichtige
Infrastrukturprojekte. Auf Facebook gab es eine Seite: üble Fotomontagen
der Bürgermeisterin. Eines Morgens entdeckte Blenkle eine tote Ratte an
einem Strick hängend an ihrer Haustür.
Wochen nach Blenkles Amtsantritt eskalierte der Streit: Die neue
Bürgermeisterin warf ihren Stellvertreter Henning Konrad Otto raus, der
auch ihr Gegenkandidat gewesen war. Der Vorwurf: Veruntreuung. Als Blenkle
sehen wollte, was Otto aus dem Rathaus mitnahm, rief der die Polizei.
Gerichte entschieden später, dass Blenkle unverhältnismäßig gehandelt habe
und der Vorwurf gegen Otto nicht zutraf. Im Stadtrat formierte sich eine
große Koalition aus CDU, Linke und SPD gegen Blenkle. Sie versteht sich als
Koalition der Vernünftigen, kennt Blenkle schon lange, will – nach eigenem
Verständnis – die Stadt vor Blenkles Fehlentscheidungen retten.
## Unterlagen sind unauffindbar
Im Januar stimmte der Stadtrat schließlich dafür, die Bürgermeisterin zu
suspendieren – nach anderthalb Jahren im Amt. Blenkle musste das Rathaus
verlassen, aber beendet war der Streit nicht. Noch kurz vor ihrer
Entmachtung hatte Blenkle eine Sekretärin per Mail angewiesen, Akten aus
dem Büro ihrer Stellvertreterin zu holen. Tatsächlich sind seitdem
Unterlagen im Rathaus unauffindbar.
Blenkles E-Mail liegt dem Gericht vor, allerdings gibt es in der Stadt
zehn Personen mit Generalschlüssel für das Rathaus. Ganz Haldensleben
rätselt nun, wer die Akten entwendet haben könnte und: was überhaupt in
ihnen steht. Es soll um die Stadtfinanzen gehen. Beide Lager werfen sich
gegenseitig vor, etwas verschleiern zu wollen.
Erst kürzlich lehnte die CDU einen Abwahlantrag gegen Blenkle ab. Man wolle
die Gerichte entscheiden lassen, um den Bürgern zu zeigen, dass der
Stadtrat mit seinem Urteil über Blenkle im Recht sei.
## „Kennen Sie die Straße?“
Was aber denken die Haldenslebener, die die Bürgermeisterin 2015 ins Amt
wählten? Als Blenkles Stellvertreterin die Bühne des Altstadtfests betritt,
geht eine Frau auf sie zu: „Sie sind doch jetzt die Bürgermeisterin, oder?“
Wendler sagt: „Die Stellvertreterin bin ich, ja“. Die Bürgerin hat ein
Problem mit einem Gehweg, da müsse man mal was machen. Wendler nickt.
„Kennen Sie die Straße, die ich meine?“, fragt die Frau. „Nein, die kenne
ich nicht“, sagt Wendler.
Regine Blenkle hätte die Straße gekannt, sagt die Bürgerin später.
Vermutlich wäre sie gleich vorbeigekommen und hätte sich gekümmert.
30 Sep 2017
## AUTOREN
Timo Lehmann
## TAGS
Sachsen-Anhalt
Kommunalpolitik
Parteien
Politikverdrossenheit
Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt AfD
Lesestück Recherche und Reportage
Lesestück Recherche und Reportage
## ARTIKEL ZUM THEMA
Debatte Wahlverhalten in Ost und West: Die späte Rache der Ossis
Über 20 Prozent der ostdeutschen Wähler und Wählerinnen stimmten für die
AfD. Das hat auch mit der Arroganz der Wessis zu tun.
Sachsen-Anhalt: Herr Gewiese und das Volk
Uwe Gewiese wollte als Direktkandidat der AfD Anwalt des Volks werden. Den
Bundestag verpasst er knapp – und feiert trotzdem.
Die Wahl und die Weimarer Republik: Identität in der Krise
Seit 1945 gab es nie so viele Parteien wie bei der Wahl 2017. Viele
Menschen gründen einfach ihre eigene oder wählen rechts – wie vor dem
Krieg.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.