| # taz.de -- Sachsen-Anhalt: Herr Gewiese und das Volk | |
| > Uwe Gewiese wollte als Direktkandidat der AfD Anwalt des Volks werden. | |
| > Den Bundestag verpasst er knapp – und feiert trotzdem. | |
| Bild: „Wahltag ist Zahltag“, postete Uwe Gewiese auf Facebook | |
| Grana taz | Aus der Zuckerfabrik steigen dünne Dampfsäulen in den grauen | |
| Sonntagshimmel. Gegenüber, auf dem Weg zum Sportlerheim von Grana, kommt | |
| Uwe Gewiese gelaufen. Aus der Ferne sieht er mit seinem schwarzen Anzug so | |
| aus, als gehe er mit ernster Miene zu einer Beerdigung. Das Gegenteil ist | |
| der Fall. Der 47-Jährige will einer Auferstehung beiwohnen. Das deutsche | |
| Volk erhebt sich und fordert mit fester Stimme Gerechtigkeit – für die | |
| Hartz-IV-Empfänger, die Aufstocker, die Alten mit mickriger Rente, die | |
| Zeitarbeiter, die Scheinselbständigen, die Taxifahrer, für die | |
| Alleinerziehenden, die Kinder und die Durchwurstler – kurzum: für das Volk, | |
| zumindest wie es sich in Sachsen-Anhalt anfühlt. Einer seiner Anwälte will | |
| Uwe Gewiese werden. | |
| „Aus dem Volk, für das Volk“ steht auf Gewieses Plakaten. Sie zeigen einen | |
| Mann mit kantigem Profil, raspelkurzen Haaren und staatstragendem Blick. Im | |
| Wahlkreis 73 ist Uwe Gewiese Direktkandidat der AfD und seine Chancen | |
| stehen gut: Der Süden Sachsen-Anhalts ist nach dem Ende der Bernd-Lucke-Ära | |
| eine der Keimzellen der völkisch eingenordeten AfD. Bei der Landtagswahl im | |
| März 2016 kam die AfD hier auf 30 Prozent. | |
| Jetzt, wo Gewiese vor einem steht, ist die Spannung zu spüren, die ihn | |
| erfasst hat. Die Arme verschränkt vor dem Bauch, so steht er mit schwarz | |
| glänzenden Schuhen, erklärt seine Politik in groben Zügen, breitet dabei | |
| gelegentlich die Hände aus und grüßt höflich die Nachbarn, die zur | |
| Stimmabgabe ziehen. Gewiese selbst hat schon gewählt. Seine Rhetorik kreist | |
| um ein Wort: Wir müssten in der Bundespolitik hinbekommen, dass Politik | |
| fürs Volk gemacht wird; Das Volk soll am Ende entscheiden und über Gesetze | |
| abstimmen; das letzte Wort soll das Volk haben. | |
| Nach Gewieses Verständnis soll der Bundestag eine Art Referentengremium | |
| werden, das dem Volk die Gesetze vorzulegen hat. Welche Inhalte könnten das | |
| sein? Kostenlose Schulspeisung, keine Kitagebühren, Erhöhung des | |
| Kindergeldes und natürlich die Beendigung der „unkontrollierten | |
| Masseneinwanderung“. | |
| ## Max Weber und Verantwortungsethik | |
| Es hat manchmal etwas hölzernes, wie Gewiese nach möglichst glatten | |
| Formulierungen sucht. Dann wieder klingt es wie auswendig gelernt. Immer | |
| wieder krächzen Krähen, eine Birke steht reglos und die angeräucherten | |
| Finger der Linken würden zwischendurch wohl gern zu einer Zigarette | |
| greifen. „Da sind wir wieder bei Max Weber und der Verantwortungsethik“, | |
| fährt er fort. „Mahlzeit!“ ruft ein Wähler in den Kurzvortrag hinein. | |
| „Hallo!“, grüßt Gewiese. Dass die Bande zwischen dem Volkskandidaten | |
| Gewiese und dem Volk, zumindest dem des Industriedorfes Grana mit seinen | |
| 183 Wahlberechtigten, gar nicht so übermäßig eng sind, weiß er da noch | |
| nicht. | |
| Die Anspannung löst sich ein wenig, als Gewiese sein Leben ausbreitet. Kurz | |
| vor der Wende absolviert er eine Lehre zum Stahlbauschlosser, Eintritt in | |
| die SED. Was nach 1990 kommt, ist, für seine Herkunft, eine | |
| Allerweltskarriere: Kellner in einer Disko, Taxifahrer, Bundeswehr, | |
| Trucker. Dann, nach 21 Jahren, Umschulung zum Speditionskaufmann. Jetzt | |
| arbeitet Gewiese bei einer Daimlertochter in der Nähe von Leipzig. Man | |
| könnte meinen, der fünffache Familienvater ist angekommen. | |
| ## Ungültig gewählt 2013 | |
| Im Gegenteil. „2013 habe ich meinen Wahlzettel ungültig gemacht“, erzählt | |
| Gewiese. Keine AfD? Nein, viel zu wirtschaftsliberal. Zuvor stimmte er für | |
| die Kohl-CDU wegen der Wiedervereinigung, dann für die SPD, einmal FDP und | |
| einmal „ganz links und ganz rechts“ gleichzeitig. Dieser Spagat ist nun | |
| nicht mehr nötig. Uwe Gewieses Programm klingt nach DDR-Sozialismus, | |
| gepaart mit völkischem Pathos, das wie ein Samenkorn Jahrzehnte im Dunkeln | |
| überwintert hat. | |
| „Ich hoffe, dass es uns gelingen wird, deutliche Akzente zu setzen“, | |
| verabschiedet sich Gewiese und geht gemessenen Schritts nach Hause. Den | |
| Abend wird er in Magdeburg verbringen. Der Gang im neuen Dress mit dem | |
| blauen Parteiabzeichen am Revers mag unsicher sein. Dennoch – da hat einer | |
| seine Heimat wiedergefunden. | |
| Staatlicher Zierrat fehlt im Wahllokal von Grana völlig. Es gibt kein | |
| Schwarz-Rot-Gold, dafür umso mehr goldglänzende Pokale, dazu | |
| Mannschaftsbilder von Blau-Weiß Grana. Merkwürdig, das hat Uwe Gewiese gar | |
| nicht moniert. Bei seiner Stimmabgabe ließ er sich mit gestraffter Brust | |
| und in einer Pose von seiner Frau ablichten, wie man sie aus der Tagesschau | |
| kennt. Danach stellte er das Bild auf Facebook und kommentierte „Wahltag | |
| ist Zahltag“. | |
| ## Verheerendes Ergebnis für die CDU | |
| Von Neonröhren ausgeleuchtet beugen sich fünf Damen über 136 Wahlzettel, | |
| ordnen sie zu dünnen Stapeln, rufen sich über die Tischreihen Zahlen zu. Um | |
| 18.40 Uhr vollzieht Frau Hoffman die „Schnellmeldung“ an das Landratsamt. | |
| Uwe Gewiese hat 35 Erststimmen erhalten, der CDU-Kandidat allerdings 51. | |
| Auch die Zweitstimmen deuten darauf hin, dass Gewiese zumindest in seinem | |
| Wohnort nicht der Kandidat der Herzen war: 26 Prozent für die AfD, 37 | |
| Prozent für die CDU. Da feiert Uwe Gewiese schon in Magdeburg mit dem | |
| Landesvorstand. | |
| Dieter Stier sitzt in der Ecke und fällt nicht weiter auf im Alten Brauhaus | |
| in Weißenfels, wo die CDU des Burgenlandkreises den Wahlabend verbringt. | |
| Von Feiern kann keine Rede sein. „Das Ergebnis ist ja insgesamt | |
| verheerend“, sagt der 53-jährige Stier jetzt ins Telefon. Die AfD hat im | |
| Wahlkreis 73 mit 24,6 Prozent landesweit ihr bestes Ergebnis geholt. Doch | |
| der CDU-Kandidat Stier, seit 2009 mit Direktmandat im Bundestag, hat seinen | |
| Wahlkreis vor dem Zugriff des Emporkömmlings Gewiese gerettet – und damit | |
| auch seine Karriere. | |
| Anders als in Sachsen. Für die sächsische CDU hört man hier regelrechte | |
| Beileidsbekundungen. Götz Ulrich, CDU-Kreisvorsitzender und Landrat beugt | |
| sich über einen Laptop und vergleicht die Wahlergebnisse von Sachsen-Anhalt | |
| mit denen aus den anderen ostdeutschen Ländern. Das ganz große Fiasko | |
| bleibt Sachsen-Anhalt diesmal erspart. | |
| ## Der schmächtige Höcke ruft | |
| Doch der Landrat ist besorgt. Die AfD wird mit den nun üppiger fließenden | |
| Geldern ihre Infrastruktur und ihren ideologischen Unterbau festigen, vor | |
| allem in der Provinz. Unweit von Weißenfels, im Dörfchen Schnellroda, | |
| betreibt der Neurechte und AfD-Einflüsterer Götz Kubitschek sein Institut | |
| für Staatspolitik. Solche Leute werden das Sagen haben, nicht Uwe Gewiese. | |
| Und in Magdeburg tritt Björn Höcke vor das Mikrofon: „Unser Volk ist ein | |
| gutes und duldsames Volk“, hebt er an. Der Thüringer AfD-Chef ist extra | |
| nach Sachsen-Anhalt geeilt. Seine Rede ist die erste und längste des | |
| Abends. Höcke verkündet die Geburt „einer neuen seriösen patriotischen | |
| Volkspartei“. Und irgendwo da unten steht zwischen Parteifreunden ein | |
| beseelter Uwe Gewiese. | |
| Der schmächtige Höcke ruft mit dunkler, weicher Stimme: „Frau Doktor Angela | |
| Merkel, treten Sie zurück!“ Die Anhänger toben. Es ist wie eine | |
| Pegida-Demonstration im geschlossenen Raum, wie ein Fackelzug ohne Fackeln. | |
| Höcke, der selbst gar nicht zur Wahl stand, gibt eine Kostprobe der neuen | |
| Macht – und der neuen Hierarchie. André Poggenburg, Sachsen-Anhalts | |
| AfD-Statthalter, echot später nur kurz: „Wir sind Zeuge gewesen: dem | |
| Entstehen einer neuen wahrhaften Volkspartei!“ Beim Wort „Volkspartei“ | |
| klirren die Boxen. | |
| ## Höckes Gliederpuppen | |
| Dass keiner der neuen Bundestagsabgeordneten der neuen Volkspartei mit oben | |
| stand, fällt nicht weiter auf. Die Bühne ist Björn Höckes Bühne. Der atmet | |
| die neue Größe mit jedem Zug ein. Parteisoldaten wie Uwe Gewiese und wohl | |
| auch Lehrlinge wie Poggenburg steckt so einer – wenn es sein muss – wie | |
| Gliederpuppen in die Tasche zurück. | |
| Dass es für ihn persönlich nicht gereicht hat, weiß Uwe Gewiese am nächsten | |
| Morgen. Unzufrieden klingt er am Telefon nicht. Müde schon. Ein | |
| beachtliches Ergebnis habe er als Newcomer eingefahren, fasst er zusammen. | |
| Sensationell sei das Gesamtergebnis der Partei. Und immerhin bestehe für | |
| ihn ja noch die Möglichkeit, über ein Ausgleichsmandat in den Bundestag zu | |
| kommen, deutet er an. Gewiese steht auf der AfD-Landesliste auf Platz | |
| Nummer fünf. | |
| Vorerst wartet er zu Hause in Grana auf seine weitere Verwendung. Sehr bald | |
| jedenfalls wird er wieder Mercedes-Transporter verkaufen. „Ich gehe davon | |
| aus, dass ich morgen wieder ins Büro fahre.“ Ihm bleibt auch nichts weiter | |
| übrig. Sein Jahresurlaub ging für den Wahlkampf drauf. | |
| [1][Lesen Sie mehr zur Bundestagswahl 2017 in unserem Schwerpunkt] | |
| 25 Sep 2017 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Schwerpunkt-Bundestagswahl-2025/!t5007549 | |
| ## AUTOREN | |
| Thomas Gerlach | |
| ## TAGS | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Direktkandidat | |
| Schwerpunkt AfD | |
| Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
| Sachsen-Anhalt | |
| Sachsen-Anhalt | |
| Schwerpunkt AfD | |
| Schwerpunkt AfD | |
| Schwerpunkt AfD | |
| Anti-AfD-Proteste | |
| Bundestagswahl2017 | |
| Berlin Alexanderplatz | |
| Schwerpunkt AfD | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Parteienverdruss in Sachsen-Anhalt: Geliebt und gehasst | |
| Viele glauben sich nicht mehr von den etablierten Parteien vertreten. Das | |
| zeigt sich sogar an einem Streit um ein Bürgermeisteramt einer Kleinstadt. | |
| AfD im Bundestag: Soll man sie eine Nazipartei nennen? | |
| Schadet es der AfD, wenn man sie Nazis nennt? Nutzt es ihr? Ist es | |
| überhaupt sachlich richtig? Ein Pro und Kontra. | |
| Pegidist*innen nach der Bundestagswahl: Ins Parlament spaziert | |
| Zum 127. Mal kommen „Wir sind das Pack“-Demonstrant*innen in Dresden | |
| zusammen. Sie feiern den Einzug der AfD in den Bundestag. | |
| Drei Direktmandate für die AfD: Die glücklichen Rechten | |
| Die AfD zieht mit 94 Abgeordneten in den Bundestag ein. Darunter sind drei | |
| Direktmandatsieger. Eine von ihnen, Frauke Petry, verlässt nun die Partei. | |
| Kommentar AfD und Minderheiten: Unsere Party ist geiler! | |
| Gauland bläst zur Jagd – besonders Minderheiten sehen sich nun gefährdet. | |
| Man darf sich aber nicht zu Gejagten machen lassen. | |
| Kommentar Petry und die AfD-Fraktion: Kein kluger Schachzug | |
| Petrys Entscheidung als Fraktionslose in den Bundestag zu gehen, zeigt die | |
| Gräben in der AfD. Doch so einfach wird sich das Problem AfD nicht lösen. | |
| Anti-AfD-Demo am Alexanderplatz: Zwischenfall mit AfD-Auto | |
| Ein Taxifahrer mit Besuchern der AfD-Wahlparty soll drei Demonstranten | |
| angefahren haben. Die Polizei ermittelt – auch gegen die Opfer. | |
| Analyse AfD-Fraktion im Bundestag: Das Tabu zerbröselt | |
| Die AfD will den Bundestag aufmischen – und das wird ihr auch gelingen. | |
| Zuerst kämpft sie aber intern: Petry will nicht der Fraktion angehören. |