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# taz.de -- Die Wahl und die Weimarer Republik: Identität in der Krise
> Seit 1945 gab es nie so viele Parteien wie bei der Wahl 2017. Viele
> Menschen gründen einfach ihre eigene oder wählen rechts – wie vor dem
> Krieg.
Bild: Wenn alles den Bach runtergeht, gibt's ja immer noch Deutschland
Die deutsche Identität ist ein Hirngespinst, ein Konstrukt, wie alle
Identitäten. Sie existieren, weil Menschen sich zugehörig fühlen wollen: zu
ihrem Land, ihrem Geschlecht, ihrem Namen, aber auch zu ihrer politischen
Einstellung. Früher war das leicht. Heimat, Milieu und Partei kamen oft als
Paket. Katholiken aus dem Süden wählten die Zentrumspartei, Arbeiter die
SPD, Linksliberale die DDP.
So einfach. Und heute? Weiß niemand mehr so genau, ab wann wer eigentlich
„deutsch“ ist, welche Partei für was steht und womit man sich also
identifizieren kann. Auch Hirngespinste können ein Handlungsmotiv sein, und
fehlende Identifikationsmöglichkeiten ein Antrieb, die etablierten Parteien
in Frage zu stellen.
Wenn sich ein signifikanter Anteil der Wahlberechtigten in den bestehenden
Parteien nicht wiederfindet, ist nicht Politikverdrossenheit die Folge, im
Gegenteil. Zu dieser Bundestagswahl wird sogar mit einer etwas höheren
Wahlbeteiligung als 2013 gerechnet. Aber Neuwähler*innen entscheiden sich
häufig auch für neue Parteien. Oder gründen gleich ihre eigene,
konstruieren ihre politische Identität einfach selbst, anstatt in eine
Partei einzutreten, die es schon gibt, und sich dort für die eigenen Themen
oder Reformen stark zu machen.
Bei dieser Bundestagswahl treten acht Parteien mehr an als noch vor vier
Jahren. Zwischen 42 Wahlmöglichkeiten müssen sich die Stimmberechtigten am
24. September entscheiden. Neu sind zum Beispiel die „Veganer Partei“ oder
das „Bündnis Grundeinkommen“, aber auch neue Rechte wie die „Deutsche
Mitte“, der „Dritte Weg“ und, jetzt auch mit guten Aussichten auf einen
Einzug ins Parlament, natürlich die AfD.
Viele Parteineugründungen von Identitätssuchenden – das gab es doch schon
mal? „Das erinnert vordergründig an die Weimarer Republik“, sagt Historiker
Andreas Wirsching vom Münchner Institut für Zeitgeschichte. „Wir haben
gegenwärtig natürlich ein ganz anderes Parteiensystem. Aber es herrschte
damals wie heute ein diffuses Gefühl, vom politischen Establishment
ausgegrenzt zu sein.“
In den dreißiger Jahren standen hinter den Parteien milieuspezifische
Strömungen, sagt Wolfram Pyta, Spezialist für die Weimarer Republik an der
Universität Stuttgart. Heute seien es eher individuelle Interessensgebiete,
die zur Gründung einer Kleinstpartei führen, wie Ökologie,
Gesundheitsforschung, Grundeinkommen, aber auch rechte Ideologien.
Vergleiche zwischen dem Nationalsozialismus und den Rechtspopulisten von
heute sind trotzdem gefährlich. Nicht alle, die die AfD wählen, sind
Rassisten. „Aber auch nicht alle der Millionen NSDAP-Wähler waren Rassisten
oder Antisemiten. Das war eine Proteststimmen-Sammelpartei und erinnert
schon ein bisschen an die Wählerschaft der AfD heute“, sagt Andreas
Wirsching.
Der Historiker nennt es einen Extremismus der Mitte, von Menschen, denen es
ökonomisch gar nicht so schlecht gehe, die sich im Weltgeschehen jedoch
nicht ausreichend berücksichtigt sehen. Vor achtzig Jahren hatten die
Deutschen die Niederlage eines Weltkriegs zu schlucken. Heute hadern viele
mit der Grenzöffnung von 2015. „Das hängt mit der Sicherheit von Identität
zusammen“, sagt Wirsching. „Alte Identitäten fühlen sich bedroht, durch
Globalisierung und Migration. Bislang wurden noch keine tragfähigen neuen
Identitäten geschaffen.“ Die könnten auch europäisch oder binational sein …
oder etwas ganz anderes.
Nicht nur Nazis und Rassisten fällt die Identitätssuche zunehmend schwer.
Auch viele Liberale und Linke sind ratlos und finden ihre politische Heimat
eher außerhalb des Parlaments. Und manch andere offenbar am
rechtspopulistischen Stammtisch, in dem sich eine Tradition gehalten hat,
die das Zugehörigkeitsgefühl leicht macht: die deutsche Identität.
## Bekenntnis zum Nationalsozialismus
Mit dem offensiven Bezug auf eine ungebrochen positive Nationalidentität
will die AfD nun „einen der größten Erfolge seit '45“ feiern, wie deren
[1][zukünftiger Bundestagsabgeordnete Jens Maier kürzlich sagte]: „Wir,
eine patriotische Partei, eine wirklich patriotische Partei, ziehen in den
Bundestag ein.“ Damit wird das gefühlte Deutschtum vom Stammtisch-Gespenst
zum ernstzunehmenden politischen Problem. Seine Vertreter berufen sich nun
stolz und selbstverständlich auch auf den Nationalsozialismus – und haben
mit genau solchen Sprüchen schon zahlreiche ehemalige Nichtwähler*innen
mobilisiert.
Eine weitere Parallele zur Weimarer Zeit: „Die Republik hat in den 30er
Jahren eine extreme Politisierung erlebt, mit einer Wahlbeteiligung von
weit über 80 Prozent“, sagt Wolfram Pyta. „Die historische Wahlforschung
hat gezeigt, dass die NSDAP überproportional davon profitiert hat. Vieles
spricht dafür, dass das bei dieser Bundestagswahl ähnlich sein wird und die
AfD eine der Hauptprofiteure wird.“ 80 Prozent Wahlbeteiligung werden es in
diesem Jahr wahrscheinlich noch nicht. Aber es wird reichen, um die AfD in
den Bundestag zu bringen – dann ist sie definitiv keine kleine Partei mehr.
Das hat in den letzten Jahren keine linke, emanzipatorische oder
ökologische Alternative geschafft. Die ÖDP liegt seit über 30 Jahren bei
zwei Prozent der Stimmen, die Partei „Die Partei“ hat zwar Martin Sonneborn
ins Europa-Parlament geschickt, wird es in absehbarer Zeit jedoch nicht in
den Bundestag schaffen. Das Bündnis Grundeinkommen hatte bei den letzten
Wahlen gerade mal 0,1 Prozent, die Piraten schienen mal auf einem guten Weg
– ihnen hätte man es ja wirklich gegönnt –, haben aber auch keine Chance
mehr.
Die letzte erfolgreiche Parteigründung von linksorientierten, damals noch
Progressiven, war die der „Grünen“ im Jahr 1980. Während die linken
„Gutmenschen“ sich nun in unbedeutende Gruppen zersplittern, scheint die
AfD die einzige neue Partei zu sein, der es gelingen wird, die fünf
Prozent-Hürde erfolgreich zu überspringen.
## Nazis profitieren von Kleinstparteien
Auch das ist kein neues Phänomen: Vor 85 Jahren sind die
Nationalsozialisten ebenfalls auf Kosten der Kleinstparteien gewachsen.
„Der Aufstieg der NSDAP war letztlich das Ende der Parteienzersplitterung
in Deutschland“, sagt Pyta. Damals gab es die Fünf-Prozent-Hürde noch
nicht, sodass nicht fünf bis sechs, sondern 14 bis 15 Parteien im Parlament
miteinander streiten mussten.
Sowohl Wirsching als auch Pyta halten die Fünf-Prozent-Klausel deswegen für
einen elementaren Stabilisator des Wahlsystems. Dass sie auch
Demokratiedefizite birgt, hält Wirsching für nachrangig, „da die Parteien
gezwungen sind, sich nachhaltig in das Parteiensystem zu integrieren.“ Die
Grünen seien dafür bestes Beispiel.
„Die Fünf-Prozent-Hürde ist aufgrund der historischen Erfahrung entstanden.
Solange es sie gibt, werden Kleinstparteien, die sich nicht darum bemühen,
ein Angebot an die breitere Bevölkerung zu machen, keinerlei Chance haben“,
sagt Wolfram Pyta. Blöd nur, wenn das heute ausgerechnet eine Partei von
Rassisten und Volksverhetzern ist.
Die Frage liegt in der Luft: Hat Deutschland denn nichts aus seiner
Geschichte gelernt? Linke wie Konservative kämpfen gegen das Hirngespinst
Nationalismus, doch wenn sie den Kampf nicht verlieren wollen, müssen sie
ein Identifikationsangebot liefern, dass die Überhöhung des Nationalen
aussticht. Die großen Parteien müssen unschlüssige Protest- oder
Wechselwähler*innen wieder von sich überzeugen, indem sie wirkliche soziale
Gerechtigkeit schaffen. Oder sich für ein solidarisches Europa einsetzen,
dessen Mitgliedstaaten sich nicht schäublemäßig kaputtsparen müssen.
Grüne und Linke hingegen sollten wieder grün und links sein, damit ihre
Wähler*innenschaft sich nicht in kleine Ein-Themen-Parteien verzettelt,
sondern ihre Themen im Bundestag vertreten sieht. Bürgerversicherung und
Grundeinkommen sind nur zwei Stichworte. Die neue Identität? Das Land, in
dem wir gut und gerne leben – egal wie es heißt.
23 Sep 2017
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[1] /AfDler-ueber-den-Bundestagseinzug/!5449273
## AUTOREN
Louisa Theresa Braun
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