# taz.de -- Politische Stimmung zur Wahl: Nicht in der eigenen Blase abwarten | |
> Klar, den meisten Deutschen geht es ziemlich gut. Worüber aber | |
> geschwiegen wird, hinterlässt eine Lücke, in die Rechtspopulisten stoßen. | |
Bild: Ein Land, in dem wir gut und gerne leben? | |
Am Donnerstag, also ganz knapp vor dem Wahltermin, hat sich auch noch | |
Sophia Thomalla zu Wort gemeldet. Das (laut Selbstauskunft) „tough Cookie“ | |
war von Angela Merkel zum werbeträchtigen Ladies Lunch und | |
Dabeifotografiertwerden eingeladen worden. Und weil das alles so aufregend | |
war, hat Frau Thomalla das Erlebte anschließend für das | |
Wartezimmer-Fachblatt Gala aufgeschrieben. Der Text – Seite 40, | |
anzeigenfrei, zwei Fotos – mag jenen als Beweis dienen, die meinen, nie | |
einen öderen Bundestagswahlkampf als diesen erlebt zu haben. | |
Tatsächlich zeigt er, wie störungsfrei die CDU/CSU und ihre ewige | |
Regierungschefin dieses Land nach wie vor warten. Und auch, warum es | |
spätestens jetzt, nach dieser Wahl, Zeit wird für eine neue politische | |
Kultur. Ein Land, in dem sich die Leute tagtäglich über Politik die Köpfe | |
heiß reden, braucht etwas andere als schöne, die Macht zierende „tough | |
Cookies“. Ein zur Schau gestelltes Polit-Groupie verzwergt die fällige | |
gesellschaftliche Riesendebatte nur noch mehr auf ein die Demokratie | |
gefährdendes „alternativlos“ à la Merkel. | |
Dass es überhaupt zu dem Treffen mit der ewigen Kanzlerin gekommen ist, lag | |
an einem Interview, das Thomalla zuvor dem Stern gegeben hatte. „Ich finde | |
Dr. Angela Merkel super und werde sie wählen“, hatte die 27-Jährige da über | |
die 63-Jährige gesagt. „Danach“, schreibt Thomalla nun den Gala-LeserInnen, | |
„überschlugen sich die Ereignisse: Kanzleramtsanfrage, Terminvorschläge, | |
Sondierungen von Themen, zu denen ich auch wirklich etwas sagen kann und | |
will“. | |
Nach Lektüre der Gala ist es im großen und ganzen genau ein Thema, zu dem | |
Frau Thomalla etwas sagen kann: sie selbst. Gut und schön, vom Smalltalk im | |
#fedidwgugl-Haus, dem gigantischen Berliner Indoor-Spielplatz des | |
CDU-Wahlkampfteams, sind ihr noch die Weisheit, der Witz und die Ruhe der | |
Parteivorsitzenden erinnerlich. „Eine Frau als Kanzlerin ist möglich“, | |
diese Erkenntnis scheint mittlerweile gereift. Ansonsten nutzt Thomalla den | |
zur Verfügung stehenden Weißraum, um ihre eigene Vertrautheit mit der Macht | |
darzustellen und so ein bisschen Fame für sich abzuzweigen. | |
## Brot und Spiele | |
Sie sei „crazy, ein bisschen wilder – und ja: anders“, sagte Sophia | |
Thomalla also beim Ladies Lunch über sich selbst. „Und während ich rede, | |
schaut mich die Bundeskanzlerin an. Ruhig, mal nickend, mal nicht, aber | |
immer interessiert, ohne Druck zu machen. Und dann sagt sie, dass sie es | |
toll fände, eine Frau wie mich zu sehen.“ Die Regierungschefin als gütige, | |
ein winziges bisschen in crazy Sophia verknallte Herrscherin. Ganz ehrlich, | |
Thomallas Bekenntnisse unterscheiden sich damit nur noch formal von der | |
Jubelberichterstattung jenes Landes, in dem Angela Merkel sozialisiert | |
worden ist, nämlich der DDR. | |
Dort unternahm man den – wie man rückblickend konstatieren darf – nutzlosen | |
Versuch, die Leute mit Brot und Spielen bei Laune zu halten. Zensur? | |
Überwachung? Tiefe Unzufriedenheit, verbunden mit Sprachlosigkeit? Ach was | |
soll's, solange die Mieten, das Brot, der Kindergarten subventioniert | |
wurden, konnte gar nicht oft genug betont werden, wie gut und wie gerne in | |
der DDR gelebt wurde. Hier ein Bruce-Springsteen-Konzert, dort eine | |
überraschend genehmigte Bulgarienreise oder eine Ladung Ikea-Sofas im | |
örtlichen Warenhaus – der Staat als Wellness-Beauftragter und sich | |
persönlich kümmernde Beschwerdestelle. Was wollten die Leute denn mehr? | |
Ging es ihnen nicht gut? | |
Ja, ging es. Jedenfalls denen, deren Anspruch es war, das Glück im Privaten | |
zu finden. In der stillen Ecke. | |
Heute ist das nicht mehr so einfach. Springsteen gibt’s umsonst bei | |
Youtube, Bulgarien ist jetzt Bali, und Sofas bastelt man sich nachhaltig | |
aus Europaletten. Was wirklich bewegt und zutiefst beunruhigt, sind Leute | |
wie die siegesgewiss das Kinn reckende Alice Weidel und ihre Kumpane. Deren | |
Wählerinnen und Wähler, die in Charterbussen zu Wahlkundgebungen gefahren | |
wurden, um dort ihren Hass und ihre Abständigkeit zur parlamentarischen | |
Demokratie in laufende Kameras zu brüllen. | |
## Rechtspopulisten stoßen in die Lücke des Verstörenden | |
Und es beunruhigt die Frage, was in einem Land falsch läuft, dessen | |
Regierung mal großmütig Flüchtlinge aufnimmt, um wenig später Grenzen zu | |
schließen und Fluchthelfer zu sanktionieren. Und die derweil immer weiter | |
Kriegsgerät exportiert. Als hinge das eine mit dem anderen nicht zusammen. | |
Beunruhigend ist ein Staat, in dem ein Würstchen von einem Attentäter zig | |
Identitäten annehmen kann, um schließlich zwölf unschuldige Menschen mit | |
sich in den Tod zu reißen. In dem brave Bürgerlein für Politiker | |
reservierte Galgen durch tiptop sanierte Innenstädte tragen und die | |
Staatsanwaltschaft darin keinen Straftatbestand erkennen mag. Ein Land, in | |
dem wieder Minderheiten- und Frauenrechte als Firlefanz abgetan werden und | |
der Holocaust geleugnet wird. | |
In diese Lücke des Verstörenden, Unbeschützten und Brutalisierten stoßen | |
nun die Rechtspopulisten. Leute wie der gekränkte Ex-CDUler Alexander | |
Gauland, der die Demokratieferne vor allem der Ostdeutschen für seine | |
menschenfeindliche Agenda nutzt. Leute, die ihre Angst vor dem Fremden | |
sorgfältig nähren wie einen Kefirpilz. Es sind Leute, die gesellschaftliche | |
Bewegungen, politische Entscheidungen noch nie als Versprechen, sondern – | |
im Gegenteil – stets als Bedrohung empfunden und erlebt haben. | |
Zu ihnen gehören mitunter auch jene, die in unterbezahlten Jobs schuften | |
und wissen, dass ihre Rente miserabel ausfallen wird. Leute, die Angst vor | |
einer Zukunft haben, die von E-Auto fahrenden Wohlstandsbürgern bestimmt | |
wird, während sie ihren 250.000-Kilometer-Golf durch den TÜV kriegen | |
müssen. Das kann man belächeln, aber es würde nichts ändern. Die Lage ist | |
zu ernst, um in der eigenen Blase abzuwarten. | |
## Später war es zu spät | |
In den sozialen Netzen wurde in den letzten Tagen vor der Bundestagswahl | |
ein Kästner-Zitat verbreitet. Es stammt aus einer Rede, die der | |
Schriftsteller 1958 gehalten hat. Fünfundzwanzig Jahre zuvor, im Mai 1933, | |
hatte Erich Kästner zusehen müssen, wie Nazis mitten in Berlin auch seine | |
Bücher verbrannten. Jeder kennt die Bilder, die Tonaufnahmen, das Brüllen | |
in der Nacht. Eben weil dieses Ereignis noch immer so gegenwärtig ist, weil | |
die ganze spätere Barbarei rechten Wollens und Handelns eigentlich schon an | |
diesem Maientag des Jahres 1933 ablesbar war, geht nun Kästners PEN-Rede | |
viral: | |
„Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden | |
müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der | |
Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus | |
dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball | |
zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf …“ | |
Es sind Sätze, denen man die Parallelen zu heute unschwer anhören kann. Sie | |
wecken schlimme Befürchtungen. Die Sozialdemokraten haben sich auf den | |
letzten Wahlkampfmetern noch einmal der Thematik gestellt. Bei der | |
Abschlusskundgebung von Martin Schulz auf dem Berliner Gendarmenmarkt war | |
auch Inge Deutschkron dabei. Am Freitagabend sprach die deutsch-israelische | |
Autorin zu den SPD-Anhängern. „Es wäre ein fürchterliches Unglück, wenn | |
dieses Land diesen populistischen Typen folgen würde“, sagte die 93 Jahre | |
alte Deutschkron, die als junge Frau die Nazizeit in der Illegalität knapp | |
überlebt hat. „Also kämpft – vergesst das nicht!“ Ein Gänsehautmoment. | |
Die künftige Bundesregierung, die sich nach dieser Wahl bilden wird, muss | |
sich dieser historischen, der deutschen Verantwortung wieder stärker, | |
selbstbewusster stellen. Und zwar nicht, weil rechte Pöbler im Parlament | |
sie dazu zwingen. Sondern weil sie diese Verantwortung spürt und betont. | |
Ja, den meisten geht es gut in diesem Land. Aber nein, das reicht nicht. | |
Die parlamentarische Demokratie muss zeigen, was sie vermag. Erst recht | |
jetzt, da ihre erklärten Gegner ihre Plätze im einstigen Reichstags-Gebäude | |
einnehmen werden. | |
24 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Anja Maier | |
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