| # taz.de -- Bundestagswahl 2017: War was? | |
| > Schon vor dem Wahlausgang steht fest: Völkische werden im Parlament | |
| > sitzen und das rot-rot-grüne Lager ist eine Illusion. | |
| Bild: Deprimierend, aber keine Panik: Rund 90 Prozent der Wählerinnen und Wäh… | |
| Die gute Nachricht zuerst. Jetzt ist der Wahlkampf wirklich fast vorbei. | |
| Endlich. „Bedeutungslos“ ist noch die freundlichste Bezeichnung, die ihn | |
| charakterisiert. Für die vorhersehbaren Ergebnisse der Bundestagswahl gilt | |
| das jedoch nicht. | |
| Sie läuten in mehrfacher Hinsicht eine Zeitenwende ein – so paradox das zu | |
| sein scheint angesichts dessen, dass alle Spekulationen über einen | |
| möglichen Wechsel im Kanzleramt bestenfalls albern genannt werden können. | |
| Das erste folgenschwere Ergebnis der Wahlen, das den meisten sofort | |
| einfällt: Erstmals seit der Frühzeit der Bundesrepublik werden wieder | |
| Rechte im Bundestag sitzen. Wenn es ganz schlecht läuft, dann wird die | |
| völkisch-nationalistische AfD sogar stärker als Linke, Grüne und FDP. | |
| Aber so deprimierend diese Entwicklung auch ist, es besteht – noch – kein | |
| Anlass zur Panik. Rechte, Populisten und Bauernfänger gibt es in | |
| nennenswerter Zahl in fast allen parlamentarischen Demokratien. Zehn | |
| Prozent, acht Prozent, sogar zwölf Prozent der Stimmen gefährden das System | |
| nicht. Sie bedeuten nämlich zugleich, dass etwa 90 Prozent der Wählerinnen | |
| und Wähler den Rechten ihre Stimme eben nicht gegeben haben. Und sie hatten | |
| dafür, wie anzunehmen ist, gute Gründe. | |
| Wenn das doch mal jemand den Führungsspitzen demokratischer Parteien und | |
| zahlreichen Fernsehleuten so erklären könnte, dass sie es verstehen! Hätten | |
| sie nämlich nicht den Wahlkampf über Wochen hinweg vorwiegend mit | |
| AfD-Themen bestritten – erst gegen Ende zu änderte sich das allmählich –, | |
| dann hätten es die Völkischen nie so weit gebracht. | |
| Soziale Probleme, Bildung, Energiewende, Militärpolitik, die Zukunft der | |
| EU: All das und mehr wurde unter „ferner liefen“ abgehandelt. Stattdessen: | |
| Flüchtlinge, innere Sicherheit, Terrorismus, Kriminalität. Drama. Die AfD | |
| hat die politische Klasse vor sich hergetrieben. Warum hat die das mit sich | |
| machen lassen? | |
| Es steht zu befürchten: weil sie dem, was die AfD „das Volk“ nennt, nicht | |
| traut. Studien belegen, dass rechtspopulistische Ansichten bis weit in die | |
| Mitte der Gesellschaft hinein geteilt werden. Das ist wahr und betrüblich. | |
| Aber das bedeutet nicht, dass die Bevölkerung insgesamt rechts steht – wie | |
| das Wahlergebnis zeigen wird. Oder dass es angebracht wäre, jede | |
| Wahlsendung in einen Volkshochschulkurs zu verwandeln. | |
| Herablassung und Misstrauen gegenüber der sogenannten schweigenden Mehrheit | |
| beherrschten lange Zeit hindurch den Wahlkampf. Und hätten nicht Teile | |
| dieser Mehrheit irgendwann nicht mehr geschwiegen, sondern vernünftige | |
| Fragen in Fernsehsendungen gestellt, dann wäre wohl überhaupt nicht über | |
| das geredet worden, was weite Teile der Bevölkerung beschäftigt. Den | |
| Pflegenotstand, um nur ein Beispiel zu nennen. | |
| Der Verlauf des Wahlkampfs war ein Armutszeugnis für viele Spitzenpolitiker | |
| und Starjournalisten. Dieses Ergebnis steht unabhängig vom Ausgang der | |
| Wahlen fest. | |
| ## Die Unmöglichkeit von Rot-Rot-Grün | |
| Es gibt noch ein weiteres Ergebnis der Bundestagswahl, das feststeht und | |
| langfristig weitreichende Folgen haben wird. Die bei Linken, Grünen und | |
| sogar in der SPD weit verbreitete Überzeugung, „eigentlich“ stehe man doch | |
| auf derselben Seite und gehöre zum selben „Lager“, hat sich endgültig als | |
| Illusion erwiesen. | |
| Selbst wenn – und das grenzte an ein Wunder – rechnerisch erneut eine | |
| rot-rot-grüne Mehrheit möglich wäre, wird es dennoch unter keinen Umständen | |
| zur Bildung einer entsprechenden Koalition kommen. Keiner der drei Partner | |
| wünscht nämlich ein solches Bündnis. Stimmen, die im Hinblick auf | |
| entsprechende Hoffnungen abgegeben werden, wurden und werden stets gern | |
| genommen. Grundsatzdiskussionen, woran eine rot-rot-grüne Koalition | |
| scheitert, finden jedoch nicht statt. | |
| Wer trägt die Schuld daran, dass es niemals zu einem solchen Bündnis auf | |
| Bundesebene gekommen ist? Alle Beteiligten. Die Grünen mögen ihren | |
| bürgerlich-konservativen Realo-Flügel umso lieber, je länger es sie gibt, | |
| und sie wollen ihn nicht verprellen. Mit einer Ausgrenzung der Linken in | |
| ihrer Partei hatten und haben sie mehrheitlich weniger Probleme. Es ist an | |
| der Zeit, sich von der Vorstellung zu verabschieden, die Grünen hätten | |
| irgend etwas mit „linker“ Politik zu tun. | |
| Die SPD wird ihr Trauma, sie sei allzu nachgiebig gegenüber linken | |
| Positionen, wohl nie mehr loswerden. Sie orientiert sich seit Jahren dahin, | |
| wo sie die Mitte vermutet und wo ihrer festen Überzeugung nach allein | |
| Wahlen gewonnen werden können. Dass sie dennoch Wahl um Wahl verliert, ist | |
| ihr gänzlich unbegreiflich. Lernfähigkeit ist eben nicht allen gegeben. | |
| Und die Linkspartei? Ach ja, die Linke. Sie war es vor allem, die über | |
| Jahre hinweg verhindert hat, dass sich die rechnerische Mehrheit für eine | |
| linke Koalition in Deutschland in konkrete Politik hätte umsetzen lassen. | |
| Alle politischen Gruppierungen müssen die Gratwanderung bewältigen, | |
| einerseits Kompromisse einzugehen und andererseits nicht von den eigenen | |
| Leuten als Verräter gebrandmarkt zu werden. Für die Linkspartei war und ist | |
| der Stolperstein das Thema Sicherheitspolitik. | |
| ## Konsequent, aber unpolitisch | |
| Spätestens seit die Grünen 1999, gerade erstmals auf Bundesebene in | |
| Regierungsverantwortung, dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf | |
| Jugoslawien zugestimmt hatten, stand für die Linke fest: Niemals und unter | |
| keinen Umständen würde sie im Hinblick auf friedenspolitische Ziele wanken | |
| und weichen. Diese Chance, sich als redliche Alternative zu den | |
| opportunistischen Grünen zu präsentieren, wollte sie sich nicht entgehen | |
| lassen. | |
| Verständlich. Aber in dieser Form auch rational? Die Linke lehnt alle | |
| Auslandseinsätze der Bundeswehr, auch solche mit UN-Mandat, ab und fordert | |
| den vollständigen Abzug der Bundeswehr aus allen Einsatzgebieten. | |
| Das ist konsequent, ohne Frage. Und erschütternd unpolitisch. Es schafft | |
| keineswegs all jenen, die sich für das Thema interessieren und gegen die | |
| Militarisierung von Außenpolitik sind, eine neue Heimat. Im Gegenteil. | |
| Was genau spricht eigentlich gegen den Einsatz der Bundeswehr in Mali, der | |
| auf Bitte der malischen Regierung, im Rahmen der EU und auf Grundlage von | |
| UN-Resolutionen erfolgt? Wäre es nicht sinnvoll, den Unterschied zwischen | |
| dem Angriff auf Jugoslawien 1999 und der Beteiligung an dem Einsatz in Mali | |
| zu definieren? Diese Mühe spart sich die Linkspartei. Und mit dieser | |
| starren Haltung erspart sie es zugleich SPD und Grünen, ihre jeweiligen | |
| sicherheitspolitischen Zukunftsvorstellungen definieren zu müssen. Das ist | |
| bedauerlich. | |
| Die Linke ist eine erstaunliche Partei. Auf Landesebene regiert sie gern | |
| und auch oft erfolgreich, auf Bundesebene stellt sie Bedingungen, von denen | |
| sie weiß, dass sie unerfüllbar sind. Das gibt es selten: eine Partei, die | |
| gar nicht wirklich die Schalthebel der Macht bedienen will. Fürchtet sie um | |
| ihre Existenz? Glaubt sie, dass sie nur im geschützten Raum der Landesebene | |
| überleben kann? | |
| Inzwischen ist das auch schon fast egal. Denn die Chance auf Rot-Rot-Grün, | |
| jahrelang vertan, wird es künftig und auf lange Sicht nicht einmal mehr | |
| theoretisch geben. Welche Möglichkeiten bleiben? Jamaika, Große Koalition | |
| und – ja, vielleicht – Schwarz-Gelb. | |
| ## Europa? Hat die SPD schon mal gehört | |
| Über Schwarz-Gelb muss man nicht lange reden. Union und FDP dürften sich | |
| schnell auf einen Koalitionsvertrag verständigen. Pech für das Prekariat, | |
| für Familien, für arme Kinder, für arme Alte, für Leute, die auf die | |
| Bildungsinitiative der SPD gehofft hatten. | |
| Jamaika? Umweltpolitik würde dank der Grünen in einem solchen Bündnis an | |
| Bedeutung gewinnen, vielleicht gäbe es sogar Hoffnung auf Wachsamkeit im | |
| Hinblick auf die Verletzung von Bürgerrechten. Falls sich die FDP in einem | |
| lichten Moment auf ihre eigene Vergangenheit besinnt. Was – leider, leider | |
| – völlig unter den Tisch fallen würde: die soziale Frage. Wer gut und gerne | |
| hierzulande lebt, dem oder der kann’s egal sein. Und die anderen sind dann | |
| eben den Regierenden egal. | |
| Große Koalition. Warum ist die SPD so unbeliebt, warum war der Hype um den | |
| neuen Kanzlerkandidaten Martin Schulz so kurzlebig? Weil all das, was er | |
| als Qualifikation hätte einbringen können, sorgfältig versteckt worden ist, | |
| ebenso wie sein Wunschthema. Die soziale Gerechtigkeit. | |
| Kann man einen Wahlkampf noch weniger professionell führen, als die SPD das | |
| getan hat? Es gibt einige Themen, von denen Martin Schulz wirklich etwas | |
| versteht. Von Europa beispielsweise. Und was geschah? Der | |
| SPD-Kanzlerkandidat hat sich als ehemaliger Bürgermeister der | |
| nordrhein-westfälischen Stadt Würselen präsentiert. | |
| Warum wohl. Weil die SPD nicht ernsthaft glaubt, dass das Thema Europa | |
| wahlentscheidend sein könnte. Geht ja auch um nichts. Allenfalls um einen | |
| Marsch nach rechts – Ungarn, Polen –, um die Bedingungen für den | |
| Zusammenhalt – Brexit –, um eine mögliche neue Finanzkrise und die Reaktion | |
| darauf, um europäische Außenpolitik im Zeitalter von Trump und Putin. Wer | |
| einen Kenner der Materie zum Spitzenkandidaten kürt und seine Expertise | |
| dann nicht nutzt, hat jede Niederlage verdient. | |
| Eine letzte Bemerkung: Dieser Text ist ohne die Erwähnung von Angela Merkel | |
| ausgekommen. Ist das jemandem aufgefallen? Wurde sie vermisst? Falls nein: | |
| Es gibt kaum einen besseren Nachweis für die Beliebigkeit der politischen | |
| Haltung der Kanzlerin. Was auch immer geschieht – sie wird sich schon | |
| anpassen. | |
| 22 Sep 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Bettina Gaus | |
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