| # taz.de -- Wahlverhalten der Deutschtürken: Geschichte einer Enttäuschung | |
| > Traditionell wählen türkischstämmige Deutsche die SPD. Jetzt ruft Erdoğan | |
| > zum Boykott auf. Und die CDU gewinnt die Sympathie der Migranten. | |
| Bild: In der Keupstraße in Köln wirbt Erdoğan für die „Türkei-Freunde“ | |
| Frankfurt/Köln/Duisburg taz | In einem postindustriellen Hinterhofhaus im | |
| Frankfurter Stadtteil Bockenheim feiert das türkische Volkshaus e. V einen | |
| seiner Fischabende. Von der Straße ist der Verein nicht erkennbar: kein | |
| Schild, keine Tafel. Nur türkische Gesprächsfetzen verraten die Richtung | |
| zum Veranstaltungsort. Drinnen: Menschen bei Raki, Fisch und Sazmusik. Wer | |
| verstehen will, wie die türkischstämmige Community auf die Bundestagswahl | |
| blickt, kann an diesem Ort fündig werden. | |
| „Hier wird keine Deutschlandpolitik gemacht“, sagt der Maschineningenieur | |
| Bülent Yavuz. Das Volkshaus habe sich in eine politische Isolation begeben. | |
| Der 41-Jährige erinnert sich an das Qualifikationsspiel zwischen | |
| Deutschland und der Türkei zur EM 2012, das der Verein übertragen wollte. | |
| Nur: Der türkische Sender, der das Spiel zeigte, fiel wegen technischer | |
| Probleme aus und das Volkshaus hatte keinen deutschen Fernsehanschluss. Für | |
| Yavuz erzählt diese Geschichte alles über das Verhältnis der | |
| Vereinsmitglieder zu dem Land, in dem sie seit Jahrzehnten leben. „Nicht | |
| nur die Satellitenschüssel, auch unsere Gesichter sind gen Türkei | |
| gerichtet“, sagt er. Und: „Schaut doch auch mal hierher, ihr lebt hier!“ | |
| Die Türkischstämmigen seien eher der SPD zugeneigt, hieß es in den | |
| vergangenen Jahren – aufgrund der proletarischen Biografie der meisten, die | |
| einst als Gastarbeiter gekommen waren. Laut der jüngsten Umfrage der | |
| Europäisch-Türkischen Stiftung für Bildung und wissenschaftliche Forschung | |
| (Tavak) sank die Popularität der SPD unter Türkischstämmigen in den | |
| vergangenen Jahren: Lagen die Zugstimmungswerte für die SPD 2013 noch bei | |
| 54 Prozent, so sind sie jetzt bei 45 Prozent. Gleichzeitig wurde die CDU | |
| beliebter: Ihre Werte stiegen von 9 Prozent auf 12 Prozent. | |
| Auch Eyup Yılmaz, an diesem Freitag unter den Besuchern im Bockenheimer | |
| Volkshaus, spricht von „politischer Isolation“. Allerdings auf Seiten der | |
| Erdoğan-Anhänger. Yılmaz ist Stadtverordneter der Linken, kam 1991 als | |
| 25-jähriger nach Deutschland und ist seit 20 Jahren in der Linkspartei. | |
| Seit 2004 ist er deutscher Staatsbürger. Er sagt: „Das hat mir | |
| Selbstbewusstsein gegeben.“ Recep Tayyip Erdoğans Aufruf, die Grünen, die | |
| CDU und die SPD nicht zu wählen, weil sie „Feinde der Türkei“ seien, macht | |
| Yılmaz keine Sorgen. | |
| ## Wahlplakate mit Erdoğan | |
| Mit seiner Wahlempfehlung werde Erdoğan ohnehin nur das Milieu erreichen, | |
| das auch schon vor dem Aufruf dem türkischen Präsidenten bedingungslos | |
| loyal war: das wertkonservative, wenig bis ungebildete Milieu. Ganz und gar | |
| unversöhnlich stünde ihnen das „bewusste Milieu“ gegenüber, zu dem er au… | |
| die BesucherInnen des Volkshauses in Bockenheim zählt: Aleviten, Kurden, | |
| linke Türken. | |
| Die politische Spaltung der Türkei überträgt sich auf die türkischstämmige | |
| Community in Deutschland. Dass diese Spaltung so eindeutig ist, dafür sei | |
| aber auch die deutsche Politik verantwortlich, sagt Yılmaz. In den 70ern | |
| und 80ern habe man die „Gastarbeiter“ zurückschicken wollen, in den 90ern | |
| Ausländerbeiräte geschaffen, statt die Einwanderer in Parteien und | |
| zentralen politischen Prozessen der Bundesrepublik zu integrieren. Und | |
| jetzt, beendet Yılmaz die Chronologie, hätten sich diese Leute eben von | |
| Deutschland abgewandt: „Da kommt ein Erdoğan her, sagt irgendetwas und auf | |
| einmal ist die jahrelange Arbeit von Leuten wie mir zerstört.“ | |
| In der Keupstraße in Köln hört man das Ergebnis dieser Zerstörung. „Die | |
| deutschen Wahlen interessieren uns nicht im Geringsten“, sagt ein Mann in | |
| einem Friseursalon „Die sind nicht ehrlich. Die Deutschen hegen einen | |
| Türkenhass.“ Ein paar Meter weiter hängen Wahlplakate, auf denen der | |
| türkische Präsident freundlich dreinblickt: Die Partei ADD, Allianz | |
| Deutscher Demokraten, die nur in Nordrhein-Westfalen antritt, wirbt darauf: | |
| „Seid mit den Freunden der Türkei. Gebt ihnen eure Stimme. Lasst uns sie | |
| groß machen.“ | |
| Erdoğans Einmischung in den deutschen Wahlkampf gleicht derjenigen des | |
| türkischen Ministerpräsidenten Mesut Yılmaz bei den Bundestagswahlen 1998. | |
| Yılmaz erregte sich damals über die mangelnde Unterstützung der Deutschen | |
| für den angestrebten EU-Beitritt der Türkei. Er verglich Helmut Kohls | |
| EU-Politik mit der „Lebensraumstrategie“ der Nazis, also der Aneignung von | |
| Gebieten außerhalb deutscher Grenzen. Der damalige Außenamtssprecher Martin | |
| Erdmann reagierte ähnlich wie deutsche Politiker heute: „Beispiellos“ und | |
| „unentschuldbar“ nannte er die Aussagen. | |
| ## Kohl wurde abgewählt. Schröder gewann. | |
| Vor der Wahl adressierte Yılmaz die türkischstämmigen Wähler in | |
| Deutschland. Wegen harscher Reaktionen machte er zwar einen Rückzieher: | |
| „Die deutschen Wahlen sind eine innere Angelegenheit Deutschlands.“ | |
| Dennoch: Kohl wurde abgewählt. Schröder gewann. 1998 gab es in Deutschland | |
| über 150.000 türkischstämmige Wahlberechtigte. Am 24. September 2017 werden | |
| es laut Bundeswahlleiter schätzungsweise über 720.000 sein. | |
| Während sich die Krise zwischen der Türkei und der Bundesrepublik zuspitzt, | |
| rühren ein paar Männer in einem schlecht besuchten Café in der abgelegenen, | |
| migrantischen Duisburger Dieselstraße in ihrem Tee. Unter ihnen: Bekir | |
| Sipahi, Mitglied des Duisburger Integrationsrats, der im vergangenen Monat | |
| von sich reden machte, nachdem er eine Geldstrafe kassierte, weil er den | |
| Grünen-Politiker Cem Özdemir beleidigt hatte. Die Männer begrüßen sich mit | |
| „Bismillahirahmanirahim“, dem Ausspruch, der am Beginn jedes muslimischen | |
| Gebets steht: „Im Namen des Gottes, des Allerbarmers, des Barmherzigen.“ | |
| Sipahi war 30 Jahre Mitglied der SPD, er sagt: „Die deutschen Parteien | |
| versuchen jene Stimmen zurückzugewinnen, die sie an die Rechten verloren | |
| haben.“ Er bezieht sich auf Ansagen, die in den letzten Wochen von | |
| SPD-Politikern wie Außenminister Sigmar Gabriel oder Kanzlerkandidat Martin | |
| Schulz in Erdoğans Richtung gesendet wurden. Sipahi ist überzeugt: Die | |
| sozialdemokratische Partei habe der Türkei mehr geschadet, als die CDU es | |
| jemals vermochte. Die Ablehnung von Sozialdemokraten scheint ihn härter zu | |
| treffen als jene durch die CDU, für die die Türkei seit eh und je nicht zu | |
| Europa gehört. | |
| Er sagt das aber auch, weil er sich nicht gewürdigt fühlt von der Partei, | |
| die er 30 Jahre unterstützte. Bei den Wahlen würden sie „sicher nicht“ f�… | |
| die SPD stimmen, verspricht Sipahi, sondern eher die CDU: Die „ist | |
| wenigstens ehrlich, wenn sie sagt, dass sie uns nicht will. Die anderen | |
| machen das hintenrum. Wir könnten die CDU wählen, ohne es eigentlich | |
| wirklich zu wollen.“ Über die ADD, die Allianz Deutscher Demokraten, die | |
| mit Erdoğans Gesicht und Parolen Wahlkampf macht, lachen Bekir Sipahi und | |
| seine Gesprächspartner. Sie verneinen, dass Erdoğan diese Partei | |
| unterstütze. Am selben Tag äußert sich Erdoğan selbst gegenteilig. „Wenn | |
| wir sie mit unseren Gesichtern unterstützen können, dann soll das ihnen | |
| Segen bringen.“ | |
| ## SPD wählen, um das Schlimmste zu verhindern | |
| Serap Güler, Integrationsbeauftragte von Nordrhein-Westfalen, ist eine von | |
| jenen türkischstämmigen Personen, die mittlerweile bei der CDU Politik | |
| machen. „Die CDU hat sich immer fair verhalten. Sie hat in dem Wissen, dass | |
| die Türkei nicht beitreten kann, nicht so getan, als könnte sie das.“ SPD | |
| und Grüne hätten ihre Integrationsversprechen nicht halten können, deswegen | |
| würden die Türkischstämmigen sich nun zunehmend der CDU zuwenden. | |
| Meral Şahin schüttelt den Kopf, als sie hinter der Theke ihres | |
| Hochzeitswarenladens am Ende der Kölner Keupstraße von den Plakaten der ADD | |
| hört. Sie schüttelt ihn nochmals, als sie gefragt wird, ob eine derartige | |
| „Migrantenpartei“ sinnvoll sein könnte. Sie trägt ein Kopftuch und sagt: | |
| „Oft werde ich als Konservative abgestempelt.“ Für sie ist klar: Nur die | |
| deutschen Parteien sind die Ansprechpartner der Türkischstämmigen in | |
| Deutschland. „Wir werden ausgenutzt. Ich fühle mich wie ein Spielball“, | |
| sagt Şahin. | |
| Sowohl Deutschland als auch die Türkei machten Politik „auf unseren | |
| Rücken“. So wie Erdoğan Deutschland provoziere, um von den Problemen in | |
| seinem Land abzulenken, würden sich deutsche Parteien nun, mitten im | |
| Wahlkampf, auf die Türkei fixieren, um von relevanten Fragen abzulenken: | |
| Bildung, Arbeit, verfallende Infrastruktur. Sie wird laut bei dieser | |
| Feststellung. Şahin wird die SPD wählen. Nicht weil sie eine überzeugte | |
| Sozialdemokratin sei, sondern weil die Partei „weniger rassistisch“ sei. | |
| Und „um das Schlimmste zu verhindern“: den rechtsradikalen Machtzuwachs. | |
| 20 Sep 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Volkan Ağar | |
| Ali Celikkan | |
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