# taz.de -- Kommentar Verhaftungen in der Türkei: Warum erst jetzt? | |
> Endlich ist Schluss mit Appeasement. Allerdings erst, seit ein | |
> Menschenrechtsaktivist in Haft kam, der bisher kaum mit der Türkei zu tun | |
> hatte. | |
Bild: Sind jetzt richtig sauer: Sigmar Gabriel und Martin Schulz | |
Er glaube, „dass die türkische Regierung rote Linien überschritten hat“, | |
sagte Martin Schulz, nachdem der deutsche Menschenrechtsaktivist Peter | |
Steudtner in Istanbul in Untersuchungshaft genommen wurde. Damit | |
überschritt der Kanzlerkandidat selbst eine rote Linie – bei all jenen, die | |
schon seit Monaten ob der Verhaftungen der deutschtürkischen Journalisten | |
Deniz Yücel und Meşale Tolu fassungslos sind. | |
Später ist es auch Schulz, der Außenminister Sigmar Gabriel – der | |
hochsymbolisch seinen Sommerurlaub an der Nordsee unterbrochen hat – zur | |
Pressekonferenz im Auswärtigen Amt begleitet. Bevor Gabriel zum Rednerpult | |
zieht, umarmen sich die beiden vor Kameras, als zögen sie in den Krieg – | |
dann legt Gabriel los, bestimmt, fordernd, hart: „Wieder und wieder haben | |
wir Geduld geübt, uns zurückgenommen und nicht mit gleicher Münze | |
heimgezahlt“, sagt er und beklagt: „Wieder und wieder sind wir enttäuscht | |
worden.“ Die Türkei habe das gemeinsame Fundament der „europäischen Werte… | |
verlassen. | |
Dann folgen die Konsequenzen: Reise- und Sicherheitshinweise sollen | |
verschärft, Exportbürgschaften und Vorbeitrittshilfen der EU überprüft | |
werden. | |
Als Gabriel spricht, wirkt es, als käme nun alles raus, was die | |
Bundesregierung bisher in sich hineingefressen hat – im Namen von Merkels | |
Appeasement-Strategie. Vermutlich breitet sich jetzt Erleichterung aus | |
unter jenen, die seit Monaten empört sind darüber, dass Yücel und Tolu im | |
Gefängnis sitzen. Vermutlich denken sie: „Endlich!“ Aber dann, im nächsten | |
Moment: „Warum erst jetzt?“ | |
## Yücel und Tolu nicht wichtig genug? | |
Laut Gabriel befinden sich derzeit neun deutsche Staatsbürger in türkischer | |
Untersuchungshaft. Darunter auch jene drei brisanten Personalien: zwei | |
Journalisten, und nun ein Menschenrechtsaktivist. Gabriel betont in seiner | |
Ansage, wie wichtig ihm auch die Deutschtürken angesichts des Konflikts | |
seien: „Sie sind für unser Land ungeheuer wichtig. Sie haben das Land | |
aufgebaut, sie haben das Land mitgestaltet, und sie sind für den | |
kulturellen Reichtum des Landes mitverantwortlich. Sie sind ein wichtiger | |
Teil der deutschen Gesellschaft“. | |
Und trotzdem: Ob es so gewollt ist oder nicht, vielleicht ist es | |
unreflektiert oder einfach eine ungünstige Fügung. Aber hat es einen | |
„deutschdeutschen“ Menschenrechtsaktivisten gebraucht, also einen, der | |
seinem Pass mit seinem Namen gerecht wird, damit deutschen Politikern | |
endlich mal der Kragen platzt? Waren Meşale Tolu und Deniz Yücel nicht | |
wichtig genug? Oder eben nur so wichtig, dass man die Verhaftung des | |
Letzteren bloß „enttäuschend“ fand? | |
## Es ist Wahlkampf | |
Was diesen Eindruck verstärkt: Gabriel betont, Steudtner sei „kein | |
Türkeiexperte“. Er sei möglicherweise zum ersten Mal in die Türkei | |
gereist. Er habe keine Kontakte in die dortige Opposition oder | |
Zivilgesellschaft, noch nie über die Türkei geschrieben, die Türkei noch | |
nie kritisiert. Schlicht und einfach nichts mit der Türkei zu tun! | |
Gabriel sagt das vermutlich, um die Absurdität der Verhaftung zu | |
illustrieren. Es wirkt aber wie eine Distanzierung von den verhafteten | |
Journalisten Yücel und Tolu. Denn sie haben Kritisches über die Türkei | |
geschrieben, sie haben Kontakte zur Zivilgesellschaft vor Ort. Sie haben | |
irgendwie auch von Geburt an mit diesem Land zu tun, weil ihre Eltern von | |
dort stammen. Haben sie sich dadurch schuldig gemacht? Sind ihre | |
Verhaftungen deshalb nachvollziehbarer? | |
Erdoğan ließ seinen Sprecher auf Gabriels Worte antworten. Die seien | |
innenpolitisch motiviert, sagte er. Und wie es die Ironie der | |
opportunistischen deutschen Türkeipolitik so will, muss man den | |
Geiselnehmern vom Bosporus ausnahmsweise recht geben: Es ist Wahlkampf. Es | |
ist kein Zufall, dass Gabriel Schulz vor seiner Heldentat in den Arm nimmt, | |
ihn beim Reden dreimal erwähnt. Und dass er jetzt auf einmal richtig wütend | |
ist, obwohl Erdoğan lange nicht mehr mit sich reden lässt. Obwohl Deniz | |
Yücel schon seit 158 Tagen nicht mehr frei ist. | |
21 Jul 2017 | |
## AUTOREN | |
Volkan Ağar | |
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