# taz.de -- Verbot der rechtsextremen Grauen Wölfe: Eine graue Zone | |
> Der Bundestag diskutiert ein Verbot der Grauen Wölfe. Lassen sich | |
> türkischer Mainstream und Konsequenzen deutscher Migrationsgeschichte | |
> verbieten? | |
Bild: Solidarischer Wolfsgruß für Aserbaidschan: „Graue Wölfe“ bei einer… | |
Die Grauen Wölfe haben den Vater von Aylin Tekiner getötet, im Juni 1980, | |
in einem Lebensmittelladen. Sie war damals zwei Jahre alt. Zeki Tekiner, | |
ihr Vater, war Vorsitzender der kemalistisch-sozialdemokratischen Partei | |
CHP in der zentralanatolischen Provinz Nevşehir. Am Tag darauf haben die | |
„Idealisten“, die „ülkücü“, wie sich die Grauen Wölfe in der Türke… | |
die Trauerfeier angegriffen. Der Sarg von Zeki Tekiner wurde von 13 Kugeln | |
getroffen. Aylin Tekiner hat das alles erzählt bekommen. Die Künstlerin, | |
die heute in New York lebt, erzählt es jetzt der taz bei einem | |
Telefongespräch. | |
Im Juli wurde Ömer Ay, der verurteilte Auftraggeber des Mordes an ihrem | |
Vater, in Nevşehir zum Vorsitzenden der İyi Parti gewählt, einer türkischen | |
Oppositionspartei, die sich von der ultranationalistischen MHP abgespalten | |
hat. Die İyi Parti sieht sich selbst als wahre Vertreterin der | |
„idealistischen“ Ideologie und führt gemeinsam mit der CHP die Opposition | |
gegen die Erdoğan-Regierung an. | |
Aylin Tekiner hat bei der CHP vergeblich dagegen protestiert. „Ein Fehler, | |
der nicht zu entschuldigen ist, ein Verrat“, sagt sie. Nach dem Mord an | |
ihrem Vater war Ömer Ay nach Deutschland geflüchtet. Bei einer | |
Verkehrskontrolle wurde er festgenommen und 1982 an die Türkei | |
ausgeliefert. Dort wurde er zwar zum Tode verurteilt, kam aber nach ein | |
paar Jahren Haft wieder frei. | |
Dass die CHP prinzipiell kein Problem mit den Ultranationalisten hat, sieht | |
man auch daran, dass der CHP-Bürgermeister von Ankara, Mansur Yavaş, selbst | |
als Anhänger der Grauen Wölfe gilt. Die Geschichte von Tekiner steht | |
beispielhaft dafür, dass die Ideologie der [1][Grauen Wölfe in der Türkei | |
heute kein Randphänomen, sondern Mainstream] ist; aber auch dafür, dass die | |
Grauen Wölfe eine lange Geschichte mit der Bundesrepublik verbindet. | |
## „Die ganze Welt ist gegen uns“ | |
Der Weg so mancher „Idealisten“, die in der Türkei ab den 1970er Jahren | |
politische Morde begingen, führte durch Deutschland. Aber auch die Morde | |
selbst kamen nach Deutschland. Im Januar 1980 wurde [2][Celalettin Kesim], | |
ein Mitglied der Türkischen Kommunistischen Partei, in Berlin-Kreuzberg von | |
Grauen Wölfen getötet. [3][Seyfettin Kalan] wurde 1995 in Neumünster, | |
[4][Ercan Alkaya] 1997 in Kiel und [5][Erol Ispir] 1999 in Köln von Grauen | |
Wölfen getötet. | |
Seit die MHP, als deren Anhänger die Grauen Wölfe gelten, und die AKP eine | |
Regierungsallianz eingegangen sind, richtet sich die Gewalt der Grauen | |
Wölfe in Deutschland nicht nur gegen Kurd:innen, Alevit:innen und | |
Armenier:innen, sondern auch gegen Menschen, die sich gegen die | |
Regierungspolitik unter Erdoğan positionieren. | |
Nachdem Graue Wölfe Ende Oktober [6][in Lyon ein Mahnmal für die Opfer des | |
Völkermords an den Armeniern geschändet] hatten, wurden sie in Frankreich | |
verboten. Nun möchten deutsche Parteien nachziehen. Laut dem | |
Verfassungsschutzbericht 2019 gibt es in Deutschland derzeit mindestens | |
11.000 Mitglieder von Organisationen der Grauen Wölfe. Der größte dieser | |
Vereine heißt Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in | |
Deutschland (ADÜTDF), er wurde 1978 gegründet und gilt als verlängerter Arm | |
der MHP. Außerdem sind die Organisationen Union der Türkisch-Islamischen | |
Kulturvereine in Europa (ATİB) und die Föderation der Weltordnung in Europa | |
(ANF) aktiv. | |
Aber kann man eine Ideologie verbieten, die Opposition und Mainstream | |
zugleich ist? | |
Der Politikwissenschaftler Tanıl Bora schreibt, die Grauen Wölfe würden als | |
lynchende Mobs vorgehen: „Es geht um machistische Solidarität, eine | |
Erfahrung der Gemeinschaft, um Freude daran, sich zu versammeln und | |
loszuziehen, um Menschen zu verprügeln.“ Zentral seien eine patriarchale | |
Kultur des Heldentums, mit der sie versuchten, eine | |
“traditonell-provinzielle Männlichkeitskultur zu restaurieren“. Die | |
Psychologie dieser Ideologie ist geprägt von historischen Ereignissen wie | |
den Balkankriegen vor über 100 Jahren, dem Ersten Weltkrieg, dem Krieg mit | |
Griechenland 1919-1921 und einer zentralen Erzählung, die aus diesen | |
Erfahrungen entstand: “Die ganze Welt ist gegen uns.“ Diese Ideologie kann | |
bis heute nur existieren, wenn sie immer neue Feinde findet. | |
## Antiwestliche Paranoia und echte Feindseligkeit | |
In der jüngeren türkischen Geschichte waren es vor allem die Kommunisten, | |
gegen die Graue Wölfe kämpften. Nach dem Militärputsch 1980 wurden viele | |
Mitglieder inhaftiert. Aber sie glaubten daran, dass ihre | |
antikommunistischen Ideen es an die Staatsspitze geschafft hatten. | |
Als der eiserne Vorhang gefallen war, die PKK in den 1990ern den | |
bewaffneten Kampf aufnahm und in den 2000er Jahren Erdoğan Zuspruch vom | |
Westen bekam, setzte sich bei kemalistischen Teilen der Bevölkerung ein | |
antiwestliches Ressentiment durch, sie näherten sich den | |
Ultranationalisten. Als der bewaffnete Kampf im Südosten der Türkei 2015 | |
neu eskalierte und Erdoğan eine harte Haltung in der Kurdenfrage einnahm, | |
solidarisierten sich die Grauen Wölfe mit ihm. | |
Weil ab den 1950ern Konservative aus der Provinz, wo die Vorgängerpartei | |
der MHP besonders agitiert hatte, in die Metropolen des Landes migrierten, | |
popularisierte sich die „idealistische“ Bewegung. Vieler jener, die zum | |
Arbeiten nach Deutschland kamen, stammten auch aus ländlichen Regionen. Die | |
sozioökonomischen Verwerfungen, die die Landbevölkerung bis dahin | |
durchlebte, und die Erfahrungen der Entfremdung in türkischen oder | |
deutschen Städten, die auf die Migration folgten, waren wichtige Faktoren | |
für Ideologisierung und Radikalisierung. | |
Zugleich gibt es einen Unterschied zwischen den Konstitutionsbedingungen | |
der Bewegung in Deutschland und in der Türkei: Während sich die Ideologie | |
in der Türkei aus einer antiwestlichen Paranoia speiste, wurde sie in | |
Deutschland von tatsächlich erfahrener Feindseligkeit befeuert: [7][Mölln, | |
Solingen und die NSU-Morde waren nur die Spitze der rassistischen Angriffe] | |
auf türkeistämmige Migrant:innen in Deutschland. | |
## Graue Wölfe als Teil deutscher Migrationsgeschichte | |
Sie politisierten diese Menschen, verstärkten türkisch-nationalistische | |
Gefühle und die Erzählung des “alle gegen uns“. Hinzu kamen der alltägli… | |
Rassismus und die ökonomische Ausbeutung. Nach dem Urteil im NSU-Prozess | |
2018 sagte der ADÜTDF-Vorsitzende Şentürk Doğruyol: “Die Behörden sollten | |
fähig sein, sich vor der türkischen Bevölkerung zu schämen.“ | |
Dieses Gefühl der Bedrohung scheint sich bei Teilen der türkeistämmigen | |
Bevölkerung dann wiederum in ein Gefühl der Feindseligkeit gegenüber allen | |
als anders wahrgenommenen Menschen verstetigt zu haben – was sich dann | |
regelmäßig in Aggressionen gegen Kurdi:innen oder Alevit:innen entlädt. Es | |
wurde auch als Doppelmoral wahrgenommen, dass die Nachkommen der Nazitäter | |
türkeistämmige Menschen töten und das deutsche Parlament sich gleichzeitig | |
mit dem Genozid an den Armenier:innen beschäftigt. Die Geschichte der | |
Grauen Wölfe in Deutschland ist also [8][auch Teil der Migrationsgeschichte | |
Deutschlands]. | |
Das ändert nichts daran, dass sich die Grauen Wölfe ideologisch kaum von | |
Neonazis unterscheiden, die in den 1990ern Häuser türkischer Familien | |
anzündeten. Die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus veröffentlichte im | |
Jahr 2016 einen Bericht über die Grauen Wölfe, wonach Neonazis und Graue | |
Wölfe sich insbesondere im Kampf gegen Kommunist:innen als Partner | |
begriffen. | |
Alparslan Türkeş, die historische Führungsfigur der MHP, schrieb 1977 in | |
einem Brief an türkische Kameraden in Deutschland, dass man doch von den | |
“Erfahrungen und Methoden“ der NPD “profitieren“ solle. Insofern ist die | |
Geschichte der Grauen Wölfe in Deutschland eine Geschichte von Paradoxie: | |
Als eine Form der Kompensation lieferten die Grauen Wölfe eine | |
diskriminierende Ideologie für Menschen, die in Deutschland diskriminiert | |
wurden, und sahen sich als Verbündete jener, die ihre Anhänger | |
diskriminierten. | |
## Vereine kann man verbieten, Ideologien nicht | |
“Sie bedrohen das Wohl der Bundesrepublik. Deutschland wird die Grundwerte | |
der Verfassung verteidigen“, sagt der grüne [9][Bundestagsabgeordnete Cem | |
Özdemir zum angestrebten Verbot] der Grauen Wölfe gegenüber der taz. Er | |
gehört zu den wichtigsten Antreibern des Vorhabens. [10][Am Mittwoch wird | |
im Bundestag ein interfraktioneller Antrag der Union, SPD, FDP und Grünen | |
diskutiert], laut dem ein Verbot der Grauen Wölfe geprüft werden soll. Auch | |
die Linke und die AfD stellen diesbezüglich jeweils eigene Anträge. | |
Aylin Tekiner ist nicht davon überzeugt, dass ein Verbot das Problem lösen | |
wird. Sie verweist auf Vereinsverbote in der Türkei, die wirkungslos | |
geblieben sind. “Wenn die Vereine geschlossen werden, wird Erdoğan den Mob | |
aufhetzen“, sagt sie. | |
Vereine kann man verbieten. Um gegen Ideologien vorzugehen, braucht es | |
mehr. Und die radikalste Form der nationalistischen Ideologie, die Ideolgie | |
der Grauen Wölfe, war noch nie so einflussreich wie heute. | |
Aus dem Türkischen von Volkan Ağar | |
18 Nov 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://gazete.taz.de/article/?article=!5515598%2F | |
[2] /Kolumne-Besser/!5023258 | |
[3] /!1493195/ | |
[4] https://jungle.world/artikel/1997/43/viel-freund-viel-problem | |
[5] https://www.neues-deutschland.de/artikel/782311.m-ein-toter-die-taeter-und-… | |
[6] /Tuerkeistaemmige-Rechtsextreme/!5722522 | |
[7] /Brandanschlag-in-Solingen/!5505947 | |
[8] /Wahlverhalten-der-Deutschtuerken/!5449200 | |
[9] /Cem-Oezdemir-ueber-Graue-Woelfe/!5729269 | |
[10] https://www.bundestag.de/tagesordnung | |
## AUTOREN | |
Ali Çelikkan | |
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