| # taz.de -- Brandanschlag in Solingen: Die Erinnerung fällt schwer | |
| > Der Anschlag von Solingen jährt sich zum 25. Mal. Die Stadt ringt um das | |
| > Gedenken – nicht nur wegen des Besuchs des türkischen Außenministers. | |
| Bild: Vor 25 Jahren: Beim Anschlag von Solingen starben zwei Frauen und drei M�… | |
| SOLINGEN taz | Ahmet İnce wirkt, als hätte er mit all dem nichts zu tun. | |
| Dabei steckt der 57-Jährige mittendrin in den Auseinandersetzungen um das | |
| Gedenken an den Brandanschlag in Solingen. Vor 25 Jahren überlebte er den | |
| Brandanschlag, auch seine Tochter Güldane überlebte schwerverletzt. Seine | |
| Frau Gürsün nicht. Ihr Sprung aus dem Fenster war ein Sprung in den Tod. | |
| İnce hat einen wütenden Blick und stellt rhetorische Fragen: „Kann der | |
| Schmerz jemals vergehen?“ İnce spricht viel darüber, was der Anschlag mit | |
| seiner Familie gemacht hat und wenig über das Gedenken. Wenn er erzählt, | |
| geht es um das menschliche Drama, das aus dem rassistischen Anschlag | |
| resultierte – und um nichts anderes. Vom Rest Solingens unterscheidet ihn | |
| das. | |
| Solingen ist für seine Messer bekannt. Seit 25 Jahren steht der Name der | |
| Stadt aber auch für einen rechtsextremen Brandanschlag auf eine | |
| türkeistämmige Familie. Am 29. Mai 1993 legten vier rechtsextreme junge | |
| Männer Feuer im Windfang des Hauses der Familie Genç und töteten zwei | |
| Frauen und drei Mädchen. Sylvia Löhrmann, ehemalige Stadträtin in Solingen | |
| und spätere stellvertretende Ministerpräsidentin der Grünen in | |
| Nordrhein-Westfalen bleibt bei dem, was sie schon damals sagte: „Solingen | |
| ist überall.“ Dieser Anschlag hätte auch in jeder anderen Stadt in | |
| Deutschland passieren können, sagt sie. Er passierte aber in Solingen. Drei | |
| Tage vor dem Brandanschlag hatte der Bundestag den sogenannten | |
| „Asylkompromiss“ beschlossen, eine Grundgesetzänderung, die das Asylrecht | |
| einschränkte. Stimmungsmache gegen Migranten prägte die vorangegangene | |
| Debatte. | |
| In den Tagen vor dem 25. Jahrestag des Brandanschlags diskutieren die | |
| Menschen in Solingen über den anstehenden Besuch des türkischen | |
| Außenministers Mevlüt Çavuşoğlu. Am 24. Juni wird in der Türkei gewählt … | |
| die Sorge, dass Çavuşoğlu das Gedenken für Wahlwerbung nutzen könnte, ist | |
| groß. Die Auseinandersetzung über richtige und falsche Arten des Gedenkens | |
| gehen aber über seinen Besuch hinaus. Wie politisch darf Gedenken sein? | |
| Dietmar Gaida ist so etwas wie der Pionier der linken „Gedenkfraktion“ in | |
| Solingen. Wenn er von der Nacht des Anschlags erzählt, schweift sein Blick | |
| ins Leere. Er sei in der Nacht von seiner damaligen Lebensgefährtin geweckt | |
| worden, und habe erst einmal nicht geglaubt, was sie erzählte. „Wir haben | |
| uns das nicht vorstellen können“, sagt er. Dabei sei der Anschlag alles | |
| andere als aus dem Nichts gekommen: Hoyerswerda 1991, Rostock-Lichtenhagen | |
| 1992, Mölln 1992. | |
| Nach dem Anschlag folgten Ausschreitungen zwischen rechten und linken | |
| Türken, Autonomen und Polizei. Demonstrierende besetzten den Schlagbaum, | |
| einen der meistbefahrenen Verkehrsknoten in Solingen, Schaufenster wurden | |
| eingeschlagen, wütende Menschen riefen „Die Mörder sitzen in Bonn“. Die | |
| Hubschrauber hätten eine bürgerkriegsähnliche Stimmung geschaffen, sagt | |
| Gaida, und am nächsten Tag sei überall vom „Türkenaufstand“ die Rede | |
| gewesen. | |
| Noch am Tag des Anschlags ruft der damals schon politisch aktive Gaida | |
| andere Aktive an, etwa einen Bekannten vom türkischen Volksverein. Es | |
| folgen regelmäßige Treffen im „Haus der Begegnung“, am Samstag nach dem | |
| Anschlag eine Demonstration mit 12.000 Teilnehmern und viele weitere in den | |
| Jahren darauf. Immer wieder sagt Gaida, heute sei es nicht besser als | |
| damals. Heute sitzt die AfD im Bundestag. Immer wieder wiederholt er die | |
| drei Forderungen des Solinger Appels, ein Zusammenschluss, der nach dem | |
| Anschlag entstanden ist: Schluss mit der Hetze gegen Migranten und | |
| Flüchtlinge, gleiche Rechte für alle, offensive Bekämpfung von Rassismus. | |
| Am Samstag vor dem 29. Mai, an dem sich der Anschlag zum 25. Mal jährt, | |
| demonstrierten nach Angaben der Veranstalter 900 Menschen in Solingen in | |
| Gedenken an die Opfer. Der Solinger Appell hat mitorganisiert. Ein paar | |
| Tage vorher organisierte der Appell eine Veranstaltung, bei der auch der | |
| türkische Schriftsteller Doğan Akhanlı sprach. Angehörige der Solinger | |
| Opfer waren nicht da. | |
| ## Zwei Formen von Gedenken | |
| Gaida sagt, Familie Genç habe sich gewünscht, dass der türkische | |
| Außenminister zum offiziellen Gedenken kommt. Über den türkischen Besuch | |
| sind er und andere beim Solinger Appell nicht glücklich. Denn der türkische | |
| Volksverein, in dem Aleviten, Kurden, oppositionelle Türken organisiert | |
| sind, gehört dem Bündnis auch an. Aber man respektiere die Angehörigen, die | |
| das so wollen. Von Anfang an habe es zwei Formen von Gedenken gegeben: Das | |
| stille Gedenken, das zu Toleranz aufruft und eines, das politische | |
| Forderungen stellt. „Stilles Gedenken hat auch seinen Platz, aber das | |
| reicht nicht“, sagt Gaida, denn „erst wenn Menschen gleichgestellt sind, | |
| hat man was erreicht“. | |
| Ein Ratsbeschluss von März 1994 versprach der Familie Genç einen Gedenkort. | |
| Die Initiative dafür ergriff Heinz Siering, ein 68-jähriger pensionierter | |
| Sozialarbeiter, mit weißen Haaren und hellen Augen, der 32 Jahre in der | |
| Jugendarbeit tätig war. Er sitzt in seinem Wintergarten, der ruhig im | |
| Solinger Stadtteil Aufderhöhe gelegen ist und nennt Gaida und sein Umfeld | |
| „selbsternannte Moralisten“. Siering wirft ihnen vor, das Gedenken zu | |
| vereinnahmen, Betroffenheit zu feiern. Die Stadt Solingen kritisiert er | |
| dafür, dass sie sich nach dem Brandanschlag erst dann auf das Gedenken | |
| gestürzt habe, nachdem ein solches von der Zivilgesellschaft etabliert | |
| worden war. | |
| Die ehemalige Vize-Ministerpräsidentin Löhrmann sagt, viele seien damals | |
| verunsichert gewesen: „Im ersten Jahr hatten manche eine unheimliche Angst | |
| um den Ruf der Stadt.“ Dabei hätte man das Gedenken von Anfang an offensiv | |
| angehen sollen. Es habe sich aber viel geändert, und die Stadt habe sich | |
| der Aufgabe angenommen. | |
| Siering sieht das anders. Das Engagement der Stadt erschöpfe sich darin, zu | |
| fragen, ob das Mahnmal sauber sei. Was das Gedenken in Solingen angeht, hat | |
| Siering damals einfach gemacht. Als die Stadt noch darüber nachdachte, ob | |
| es vielleicht nach hinten losgehen könnte, entwarf er zuerst ein Denkmal | |
| und setzte es dann mit den Jugendlichen aus seiner Jugendhilfewerkstatt um: | |
| zwei Figuren aus Eisen, die von zwei Seiten ein braunes Hakenkreuz | |
| auseinander reißen. | |
| ## Genervt vom Rummel | |
| Als er vom anstehenden Gedenken spricht, wird Siering wütend, schluckt und | |
| kämpft mit den Tränen. Es mache ihn traurig, was für einen Eventcharakter | |
| das Gedenken bekommen habe. Dieses Jahr wird er am 29. Mai nicht am Mahnmal | |
| sein. Weil er das nicht ertragen könne, sagt er. Am Jahrestag des | |
| Brandanschlags wird Siering die Stadt verlassen und in die Natur fahren. | |
| Auch Dilan Kaplan ist genervt von dem Rummel. Sie wird zum ersten Mal beim | |
| offiziellen Gedenken am Mahnmal teilnehmen. Die 19-jährige Abiturientin | |
| trägt ein rosa Kopftuch, Lippenstift und Wimperntusche. Ihre Familie stammt | |
| aus der Türkei, und sie erzählt, dass sie das erste Mal im Jugendstadtrat, | |
| bei dem sie sich engagiert, von dem Brandanschlag erfahren habe. In der | |
| Schule werde darüber nicht gesprochen, auch in ihrer Familie nicht. Kaplan | |
| sagt: „Ein gutes Gedenken wäre eines, bei dem die Familie unter sich ist.“ | |
| Politik streue Salz in die Wunde der Hinterbliebenen. Manchmal widerspricht | |
| sich Kaplan selbst, revidiert Aussagen, oder sie denkt einfach laut nach. | |
| „Wenn man aber weiterdenkt, ist Gedenken politisch“, ergänzt sie. Wenn man | |
| Rassismus thematisieren wolle, müsse es politisch sein. | |
| Trotzdem glaubt Kaplan, die Diskussion um den Besuch des türkischen | |
| Außenministers lenke vom Eigentlichen ab. Es sei in Ordnung, wenn sich auch | |
| die Türkei für das Gedenken verantwortlich fühle. Das Problem sei, dass die | |
| Gesellschaft daraus so ein Politikum mache. Damit meint sie nicht nur | |
| Erdoğan-Kritiker, sondern auch jene, die sich auf den Besuch freuen. Sie | |
| holt ihr Smartphone raus und zeigt einen Aufruf, der in ihrem | |
| Bekanntenkreis die Runde macht. Auf schwarzem Hintergrund steht auf dem | |
| Display in rot-weißen Buchstaben: „Unser Außenminister Herr Çavuşoğlu ko… | |
| nach Solingen! Lass uns als Nation zusammenkommen.“ Kann man den | |
| Angehörigen der Opfer vorschreiben, wie sie zu gedenken haben? Kaplan sagt | |
| Nein. Ein perfektes Gedenken fällt ihr deshalb nicht ein. | |
| Am Ende verliert auch İnce ein paar Wörter über das Gedenken: „Je mehr | |
| Menschen der Tat gedenken, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie | |
| vergessen wird.“ Die Aufregung um Çavuşoğlu versteht er nicht. Auch die | |
| Diskussionen über Erdoğan nicht. Was sei daran so schlimm daran, wenn ein | |
| Mensch sein Land und seinen Präsidenten liebe, fragt er. „Ich konnte nie | |
| warm werden mit dieser Stadt“, sagt er. Als ihr Haus in der Unteren | |
| Wernerstraße 81 brannte, war er gerade einmal sechs Jahre in Deutschland. | |
| Vielleicht war er damals noch nicht richtig angekommen. Der Anschlag machte | |
| es ihm dann endgültig unmöglich. Ob er jemals über eine Rückkehr in die | |
| Türkei nachgedacht hat? „Ja, ich wollte zurück, aber ich habe es nicht | |
| geschafft.“ | |
| 29 May 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Volkan Ağar | |
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