| # taz.de -- Essay Wahlerfolg der AfD: Die Rache der Peripherie | |
| > Im Osten gab es die meiste Zustimmung für die AfD. Doch die Attraktivität | |
| > des Rechtspopulismus ist ein europäisches, kein ostdeutsches Phänomen. | |
| Bild: Nichts Gutes zu vermelden | |
| Mit schöner Regelmäßigkeit verschafft sich nach Wahlen wieder ein | |
| Ost-West-Konflikt Luft. Erst recht, als nach der Bundestagswahl vom 24. | |
| September die AfD in Ostdeutschland zur zweitstärksten Kraft wurde und in | |
| Sachsen sogar drei Direktmandate erzielte. „Ihr seid Feiglinge“, rief | |
| darauf Wolf Biermann im Spiegel seinen Landsleuten zu und stellte fest: | |
| „Das sind die stummen Untertanen von damals.“ Der Ossi als undankbares | |
| Wesen, das noch immer nicht die Spielregeln von Demokratie und die Kultur | |
| des Kompromisses gelernt hat? Nur, wer sind die Ossis in Frankreich oder in | |
| Ungarn? | |
| Neben den Ossi-Verachtern dürfen natürlich die Ossi-Versteher nicht fehlen. | |
| [1][In der taz] führte Simone Schmollack den Erfolg der AfD in | |
| Ostdeutschland auf die Wendeerfahrungen und die „Arroganz der Wessis“ | |
| zurück. Wer aber ist der Wessi, wenn Rechtspopulisten in den Niederlanden | |
| oder Polen zulegen? Sind es die liberalen Eliten in den Großstädten? Ist es | |
| Brüssel? | |
| Ja, es stimmt, in den Grafiken, die das Wahlergebnis vom Sonntag so farbig | |
| illustrieren, ist Ostdeutschland tiefblau. Wer bislang mit dem Finger nur | |
| auf Dresden und Sachsen zeigte, vermutet Dunkeldeutschland nun überall | |
| zwischen Elbe und Oder, Ostsee und Erzgebirge. Aber auch Bayern ist am 24. | |
| September blauer geworden. Selbst in Baden-Württemberg, wo man für | |
| gewöhnlich nicht lamentiert, sondern „schafft“, kommt die AfD auf 12,2 | |
| Prozent. Nicht nur deutschlandweit, sondern auch in den alten Bundesländern | |
| schaffen es die Rechtspopulisten noch vor der FDP auf Platz drei. | |
| Die Attraktivität des Rechtspopulismus ist also kein ostdeutsches Phänomen, | |
| auch wenn die AfD dort im Schnitt bei 22,5 Prozent liegt, während es im | |
| Westen mit 11,1 Prozent „nur“ die Hälfte ist. Im Bayerischen Wald etwa, | |
| dort ,wo der Freistaat an Tschechien grenzt, hat die AfD ebenso großen | |
| Erfolg wie auf der anderen Seite der ehemaligen innerdeutschen Grenze, in | |
| Sachsen oder Thüringen. | |
| Es sind Regionen, die man gerne als abgehängt bezeichnet, aber noch sind es | |
| eher periphere Regionen, nur, dass die Entfernung zu den Zentren, gefühlt | |
| zumindest, von Jahr zu Jahr größer wird. Wenn Sparkassen zumachen, | |
| Krankenhäuser schließen, das Internet nur ruckelt, dann wird auch dem | |
| Letzten klar, dass die Zukunft woanders stattfindet. Die meisten, vor allem | |
| die Jungen, die Frauen, die gut Ausgebildeten, sind ohnehin schon weg. Das | |
| Lebensgefühl der Peripherie ist das des Verlusts. Das ist in Deggendorf an | |
| der Donau nicht anders als in Frankfurt an der Oder. | |
| ## Den „Wessi“ braucht es gar nicht | |
| Natürlich stimmt es, dass die Angst vor Flüchtlingen dort oft am größten | |
| ist, wo es gar keine oder kaum Flüchtlingsunterkünfte gibt. Und natürlich | |
| hat Pegida gezeigt, dass auch wirtschaftlich erfolgreiche Regionen wie | |
| Dresden nicht nur an ihren Rändern, sondern auch in der Mitte | |
| ressentimentgeladen und rassistisch sein können. Aber vielleicht hätte es | |
| auch ohne die Flüchtlingskrise bald „Merkel muss weg“-Rufe gegeben. Weil | |
| Merkel für den Staat steht, für „das System“. Einen Staat, dessen | |
| Institutionen sich aus der Peripherie mehr und mehr zurückziehen. Dessen | |
| etablierte Parteien das nicht verhindert haben. „Wir holen uns unser Land | |
| zurück“ – das muss nicht nur rassistisch gelesen werden, es kann auch ein | |
| wütender Ruf sein, jene nicht zu vergessen, die am geografischen Rand | |
| leben. Nicht nur in Ostdeutschland. | |
| Mit dem Blick auf Ostdeutschland, mit Ossi-Verachtung oder | |
| Ossi-Verständnis, kommt man also nicht weiter. In Polen etwa hat man sich | |
| die Erfolge von AfD (und Linkspartei) lange Zeit damit erklärt, dass der | |
| ostdeutsche Weg der Transformation vom realen Sozialismus zu Demokratie und | |
| Marktwirtschaft ein Sonderfall gewesen sei. Die Ostdeutschen hätten ihn | |
| nicht aus eigener Kraft stemmen müssen, konnten also nicht, wie die Polen, | |
| stolz auf das sein, was sie erreicht haben. Eher sei es so, dass die | |
| Wiedervereinigung und das Geld aus dem Westen das Gefühl verstärkt hätten, | |
| es sei einem etwas weggenommen worden. | |
| Aber der Vergleich mit Polen und der Rechtsruck dort zeigt eben auch, dass | |
| man keine „Wessis“ braucht, um dieses Gefühl der Minderwertigkeit zu haben. | |
| „Die da oben“ taugen zum Feindbild ganz genauso gut. In Polen leben „die … | |
| oben“, die „liberalen Eliten“, in den Großstädten und im Westen des Lan… | |
| während die Unterstützer der PiS in den Kleinstädten und östlich der | |
| Weichsel in der Mehrheit sind. | |
| Nicht anders ist es in Frankreich, wo der Front National vor allem im Süden | |
| und in den ehemaligen Industrieregionen im Nordosten seine Hochburgen hat. | |
| Es ist so in Großbritannien, wo das „Remain“ vor allem im reichen London zu | |
| Hause war. Gleiches gilt für Österreich, für die Slowakei, für Tschechien. | |
| Überall ist die „Rache der Peripherie“ zu beobachten, die den Eliten in den | |
| Zentren per Stimmzettel die Meinung geigt. | |
| ## Kulturschock | |
| Aber warum tritt dieses Phänomen erst jetzt zutage? Dass die AfD in | |
| Westdeutschland nur auf halb so viele Stimmen kommt wie in den neuen | |
| Ländern, hat natürlich viele Gründe. Es ist die Dichte an Vereinen und | |
| Initiativen, das also, was wir Zivilgesellschaft nennen. Es können | |
| kulturelle Prägungen sein wie etwa ein der christlichen Soziallehre | |
| verpflichtetes Milieu oder die guten Erfahrungen, die man über viele Jahre | |
| und Jahrzehnte hinweg mit Kollegen und Nachbarn nichtdeutscher Herkunft | |
| gemacht hat. | |
| Aber auch das spielt eine Rolle: Dass es in Westdeutschland nicht in dem | |
| Maße Regionen ohne Zukunft gibt wie zwischen Elbe und Oder liegt auch an | |
| einer Strukturpolitik, die in der alten Bundesrepublik für einen Ausgleich | |
| zwischen „starken“ und „schwachen“ Regionen gesorgt – und von der auch | |
| Bayern profitiert – hat. Und dann kommt noch die Siedlungsstruktur in den | |
| alten Bundesländern hinzu. Das Sauerland hat eben noch Köln und der | |
| Bayerische Wald Nürnberg, Großstädte, mit denen es einen wirtschaftlichen | |
| und kulturellen Austausch gibt, der zu den mental maps dazugehört. In der | |
| Prignitz oder Ostvorpommern gibt es diese nahen Großstädte nicht. Und wenn | |
| man mit Leuten spricht, die dort von ihrer letzten Berlinreise erzählen, | |
| hat man nicht selten den Eindruck eines Kulturschocks. | |
| Denn neben der Peripherisierung des Raums gibt es auch eine kulturelle | |
| Peripherisierung. Ihre Protagonisten sind die, die die Modernisierung der | |
| Bundesrepublik nicht mittragen. Auch sie wollen sich „ihr Land | |
| zurückholen“, von Merkel und den Grünen, den 68ern in den Medien und im | |
| Kulturbetrieb, vom „Genderwahnsinn“. | |
| ## Tickende Zeitbombe | |
| Der Wahlerfolg der Rechtspopulisten ist also ein gesamtdeutsches und ein | |
| europäisches Phänomen, und er hat auch viel, wie es Sozialgeografen sagen | |
| würden, mit einer kapitalistischen oder globalisierten Produktion von Raum | |
| zu tun. Die Wirtschaft konzentriert sich auf wenige Regionen, die wachsen, | |
| und er lässt Regionen zurück, in denen es keine Zukunft mehr gibt. Aber | |
| auch in den vermeintlichen Gewinnerregionen tickt eine Zeitbombe. | |
| In den Großstädten steigen die Mieten, Menschen werden vom Zentrum an den | |
| Stadtrand verdrängt. Dass die Grünen in Berlin plakatiert haben: „Holen wir | |
| uns die Stadt zurück“, ist ein Protest gegen die Gentrifizierung. Und er | |
| ist dem Slogan der AfD verdammt ähnlich. Nichts Gutes also zu vermelden, | |
| weder im Westen noch im Osten. Denn die nächste Runde im Ringen zwischen | |
| Peripherien und Zentren ist schon eingeläutet. In Brandenburg etwa droht | |
| die rot-rote Landesregierung demnächst über eine Kreisreform zu stolpern. | |
| Finanzpolitisch ist sie notwendig, psychologisch eine Katastrophe. Denn je | |
| weiter die nächste Kfz-Zulassungsstelle entfernt ist, desto ferner ist auch | |
| der Staat. | |
| Aber auch im Westen lassen die Bindekräfte nach, wie die zunehmende | |
| Polarisierung in wachsende und schrumpfende Regionen zeigt, die etwa auf | |
| den Karten des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) zu | |
| sehen ist. Verhindern lässt sich diese Entwicklung nicht, aber es ist | |
| möglich, dass der Staat wieder Gesicht zeigt, dass es einen neuen Ausgleich | |
| zwischen Zentrum und Peripherie gibt. | |
| Um es vorweg zu sagen: Die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse, die | |
| herzustellen das Grundgesetz verspricht, ist in den neuen Ländern | |
| gescheitert. Bis heute ist der Rückstand nicht aufgeholt. Noch einmal | |
| „blühende Landschaften“ in Aussicht zu stellen würde noch mehr Misstrauen | |
| und Politikverdruss fördern. Aber kann es nicht eine neue Politik des | |
| Ausgleichs geben, die nicht nur in der Gründung von Bundesämtern und | |
| Forschungseinrichtungen besteht, sondern in einer neuen Kultur der | |
| Wertschätzung? Die Peripherie als Labor gegen wachsende Ungleichheit? | |
| Mit dem flächendeckenden Ausbau des Internets etwa könnte die neue | |
| Regierung zeigen, dass sie es ernst meint. Wer künftig lange Wege zur | |
| Kfz-Zulassung hat, muss das neue Auto auch via E-Government anmelden | |
| können. Die baltischen Staaten haben gezeigt, dass das Internet in den | |
| peripheren Räumen nicht nur ein Überlebensmittel ist. Es ist auch ein | |
| Zeichen dafür, dass es neben dem Verlust auch Zugewinn gibt. | |
| 1 Oct 2017 | |
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| Uwe Rada | |
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