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# taz.de -- Schuldzuweisungen nach Bundestagswahl: Der ostdeutsche Patient
> Politisch unzurechnungsfähig: Nach der Wahl wurde dem Homo zoniensis der
> Aluhut aufgesetzt. Doch Ossi-Bashing bringt uns auch nicht weiter. Reden
> schon.
Bild: Haben's mit dem Aluhut vielleicht etwas übertrieben
Der Ostdeutsche ist im politischen Diskurs so etwas wie ein Primärpatient.
Im sozialen Gefüge ist etwas nicht in Ordnung, aber der Ossi als
Symptomträger muss es ausbaden. Er wird in der Öffentlichkeit als komisches
Wesen, als Homo zoniensis vorgeführt. Wer einmal Psychiatrievorlesungen
besucht hat, der kennt solche Situationen. Ein Professor, der vorgibt, in
sämtliche Abgründe menschlicher Verrücktheiten geblickt zu haben, führt den
anwesenden Studenten einen im Wortsinn armen Irren vor, der sich coram
publico blamieren darf. Es ist wohl nicht nur eine Frage der
Empfindsamkeit, ob man dieses Schauspiel als beschämend oder
erkenntnisfördernd empfindet. Geht es nun um die politische Reife des
Ossis, so wird ihm nach der Bundestagswahl gern ein Aluhut aufgesetzt.
Man kennt ja seine Pappenheimer da drüben in Görlitz und Gera, in Waren und
Weimar: diese Leute, die nicht kapiert haben, wie Demokratie westlichen
Zuschnitts funktioniert, wie Partizipation und das Zusammenleben in einer
bunten, liberalen Gesellschaft. Man weiß ja eigentlich schon lange, dass
die da drüben an einem schweren Morbus leiden – und sagt es den Verirrten
jetzt auch deutlich. Das Pathologische am Wahlverhalten der Zonis ist doch
offensichtlich – oder etwa nicht? Kann gar nicht anders sein, wenn die AfD
stärkste Partei in Sachsen wird und im Osten über zwanzig Prozent der
Stimmen bekommt. Haben die Ossis nichts begriffen? Wir schicken Milliarden
rüber, renovieren ihre Städte, bringen ihre Verwaltung auf Vordermann mit
unseren Leuten, und dann das? Wie undankbar kann ein Volk sein?
Selbst kluge Köpfe, sonst entschiedene Kämpfer gegen gruppenbezogene
Menschenfeindlichkeit und Dumpfdenkerei, werfen sich flugs in den
Weißkittel des Psychiaters und stellen ihre wenig schmeichelhaften und
leider recht unterkomplexen Diagnosen: Wäre der Ossi mal lieber in seinem
Habitat hinter der Mauer geblieben. Was soll schon herauskommen, wenn
Menschen in einem autoritären Staat aufgewachsen sind und das Erbe ihrer
Deformierung an die nächste Generation weitergeben. Im Grunde kommt
zusammen, was zusammengehört: der verkappte Nazi wählt die Nazipartei.
Haben wir doch schon immer gewusst.
Die Zirkelschlüsse der Aufmerksamkeitsökonomen sind leider oft
Kurzschlüsse. Man könnte nun versuchen, all die handgeschnitzten Vorurteile
zu entkräften. Das haben schon einige getan nach der Bundestagswahl. Sie
haben gesagt, dass die Klugen in den Westen gegangen sind und die
Dumpfbacken zurückgeblieben sind. Dass der Männerüberschuss im Osten, vor
allem auf dem Land, zu nichts Gutem führt – häufig zu Sozialneid und
Verbitterung. Dass sich Abgehängte an der Elite rächen wollten. Dass der
Ossi aus seiner Nische nicht herausgekommen ist und diese Nische in eine
Echokammer verwandelt hat. Dass die Besserwessis nach der Wende verbrannte
Mental-Landschaften hinterlassen hätten und das zu Bockigkeit und Trotz
geführt habe.
## Der Osten wählt nur ein bisschen anders
Was an diesen Erklärungen trotz einer gewissen Evidenz stört, ist, dass sie
den Ossi nicht nur pathologisieren, sondern auch noch infantilisieren. Homo
zoniensis scheint nicht nur als politisches Wesen irgendwie krank zu sein,
nein, er ist im Grunde stecken geblieben in seiner Reifung zum würdigen
Wähler. Das demokratische Coming-of-Age ist ja wohl in die Hose gegangen,
wenn man sich die Wahlergebnisse ansieht, oder?
Ach was. Der Osten wählt nur ein bisschen anders als der Westen, er schaut
mehr auf die Ränder, zu den Linken und zur AfD, aber das sind ja nun auch
Parteien, die sich zum Grundgesetz bekennen und nicht vom Verfassungsschutz
beobachtet werden. Der Osten wählt etwas extremer. Das war’s auch schon. In
der Konsensrepublik Deutschland mag man das als Zumutung empfinden. Aber
ein etwas abweichendes Wahlverhalten sollte man einer Region schon
zubilligen, in der sich in den vergangenen 27 Jahren so verdammt viel
verändert hat. Wäre alles andere nicht merkwürdig?
Um es klar zu sagen: Das Wahlverhalten der Ossis ist nicht
demokratiegefährdend – selbst wenn eine Igitt-Partei Erfolge feiert. Man
muss nicht die Landeszentralen für politische Bildung in Alarmbereitschaft
versetzen, damit sie potenzielle Falschwähler in Schnellkursen mit einer
hohen Dosis Demokratie versorgen. Die Bundespolizei muss auch nicht
einreiten, um die Metamorphose von Sachsen in einen Failed State zu
verhindern. Es ist eine Minderheit im Osten, die AfD gewählt hat. Die
Mehrheit dafür in Geiselhaft zu nehmen ist nicht klug. Im Osten hat man das
verbale Einschlagen auf die Bewohner der neuen Bundesländer sehr aufmerksam
registriert. Es dürfte wohl zu einer weiteren Radikalisierung führen.
## Die Medien ließen tatsächlich vieles weg
Auf Bevormundung und betreutes Denken reagiert man im Osten gern mal
allergisch. Man kennt das gut aus einer Zeit, als Harry Tisch und Günter
Mittag noch was zu sagen hatten. Es gab das Zentralkomitee der
Sozialistischen Einheitspartei, und am Hauptgebäude der
Landwirtschaftlichen Produktions-Genossenschaft hing ein Banner: „Der
Sozialismus siegt“. Und weil sich viele noch so gut an die DDR-Zeit
erinnern, kam ihnen auch der Umgang mit der Flüchtlingskrise irgendwie
komisch vor.
Plötzlich glaubten sie Muster aus der Vergangenheit zu erkennen. Die Medien
ließen tatsächlich vieles weg, was nicht in die aktuelle Erzählung passte.
Die Politik verkaufte Losungen, aber erst mal keine Lösungen. Das hat den
Osten skeptisch gemacht und erneut politisiert. Man bildete wieder private
Recherchekreise, suchte selbst nach Wahrheiten und stellte „die da oben“ in
Frage – das typische Nischenverhalten, wie man es vor 1989 gelernt hat.
Die politische Energie floss ungerichtet in viele Richtungen. Weil sich die
politische Mitte aber beharrlich weigerte, den Zufluss zu kanalisieren, kam
er bei der AfD an. So ist der Osten vor allem Sinnbild für ein Versäumnis
der etablierten Parteien. Sie müssen die richtige Therapie für den
Primärpatienten finden. Ossi-Bashing ist es sicherlich nicht.
9 Oct 2017
## AUTOREN
Markus Völker
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