# taz.de -- Kultur und AfD-Erfolg im Osten: Selbstfindung der Zivilgesellschaft | |
> Das Wahlergebnis als kulturelle Herausforderung: Kulturleute in Sachsen | |
> zwischen Kapitalismuskritik und Sinnstiftung. | |
Bild: Wehrhaftes Sachsen: die ansehnliche Bautzener Altstadt | |
Aufgescheucht suchen vor allem in Sachsen Politiker nach einer Antwort auf | |
den AfD-Erfolg bei der vergangenen Bundestagswahl. In Dresden versammelte | |
sich das von CDU und SPD gestellte Regierungskabinett sogar zu einer Stunde | |
der Nachdenklichkeit. Auch hier ahnt man zumindest, dass die Protestwähler | |
mit der gängigen Formel „Mehr Lehrer, mehr Polizisten, weniger Ausländer“ | |
nicht wieder einzufangen sind. | |
Das Grummeln, das „gefühlte Unbehagen“, wie ein AfD-Wähler in der Lausitz | |
sagte, geht tiefer. Man konnte die elementare Verunsicherung, ja eine | |
apokalyptische Grundstimmung schon bei Pegida vernehmen. Mit kosmetischen | |
Korrekturen an der Tagespolitik ist diesen Irrationalitäten nicht mehr | |
beizukommen. | |
Nur wenige wissen mit dem Namen Ernst-Wolfgang Böckenförde noch etwas | |
anzufangen. Der spätere Verfassungsrichter hatte 1976 das Theorem | |
formuliert, wonach der demokratische Staat auf ethischen und kulturellen | |
Grundlagen basiert, die er selbst nicht schaffen und garantieren kann. | |
Andernfalls müsste er sein freiheitliches Prinzip aufgeben und Gesinnungen | |
zentral verordnen. Diese „moralische Substanz“, von der Böckenförde | |
spricht, aber bröckelt. | |
In dieser Diagnose sind sich nicht nur angesprochene Künstler, Geistliche, | |
Soziologen oder politische Bildner in Sachsen einig. Weniger pointiert | |
formuliert, ist es auch der Duktus der Straße, der seinen Ausdruck im | |
Denkzettel-Wahlergebnis findet. Von Heimatlosigkeit sprechen viele auch | |
dann, wenn es im weiten Umkreis keinen Ausländer gibt. Die eigentliche | |
Baustelle liegt nicht bei der Abfassung einer Vereinbarung für die | |
Jamaika-Koalition in Berlin. Gefragt ist vielmehr ein Selbstfindungsprozess | |
der Zivilgesellschaft. | |
„Die Politik ist eigentlich am Ende“, konstatiert Lutz Hillmann, Intendant | |
des Deutsch-Sorbischen Volkstheaters in Bautzen. In seinem Einzugsgebiet | |
erreichte die AfD in vielen Gemeinden mehr als 40 Prozent der | |
Wählerstimmen. | |
Hillmann ist nicht der Einzige, der die besondere | |
Verunsicherungsanfälligkeit der Ostdeutschen mit den unrealistischen | |
Erwartungen an ein paradiesisches vereinigtes Deutschland und den | |
nachfolgenden Brüchen und Enttäuschungen begründet. Aber er nimmt nach dem | |
Eintritt relativer Beruhigung, nach einer gewissen Sättigung die plötzlich | |
bewusst gewordene Sinnleere der verheißenen neuen Ordnung besonders scharf | |
wahr. | |
## Eingeübte „Halbdistanz“ | |
Der Kultursoziologe Karl-Siegbert Rehberg hat sich schon bald nach Antritt | |
seiner Professur an der TU Dresden mit Künstlern befasst, die nach der | |
Wende in ihrer Arbeit plötzlich keinen Sinn mehr sahen. „Mit dem Verlust | |
der DDR ging auch ein zentraler Sinn verloren, der selbst Dissidenten noch | |
mit Sinn versorgte“, resümiert er heute. | |
Dieser Verlust an propagierten Idealen, an denen man sich reiben konnte, | |
die aber auch ein Gerüst boten, wird nicht nur von sensiblen Künstlern | |
erfühlt. Eine Identifikation mit dem neuen System werde zusätzlich durch | |
Beibehaltung der eingeübten „Halbdistanz“ erschwert, meint Rehberg. Man gab | |
in der DDR dem Kaiser, was des Kaisers ist, machte aber im Übrigen ganz | |
entpolitisiert „seins“. | |
Der ehemalige Dresdner Staatsschauspiel-Intendant und Präsident der | |
Sächsischen Akademie der Künste, Holk Freytag, vergleicht die Situation mit | |
dem Ende der Adenauer-Wirtschaftswunderzeit im Westen. Schon damals habe | |
sich gezeigt, dass Wohlstandsstreben und Geld allein keinen Lebenssinn | |
erzeugen. In dieser Zeit kam die NPD erstmals hoch. „Seit Willy Brandt hat | |
dieses Land keine Visionen mehr“, sagt der Altachtundsechziger. | |
## „Die, die Macht haben, haben keine Ethik“ | |
Die heftigste Kapitalismuskritik kommt von Hellfried Christoph, einem | |
knorrigen Oberlausitzer. Seine Galerie Flox, ein Kulturzentrum mitten in | |
der Diaspora in Kirschau südlich von Bautzen, ist sozusagen eine kulturelle | |
Bastion mitten im Gebiet der AfD-Wahlrekorde. „Die Umverteilung stinkt zum | |
Himmel“, wettert er und beklagt zugleich, dass „die, die Macht haben, keine | |
Ethik haben“. Nicht nur bei ihm, auch bei vielen, die man auf der Straße | |
trifft, hat die Finanzkrise 2007 das Vertrauen in das System nachhaltig | |
erschüttert, die Erfahrung, dass Amoralität auch noch staatlich belohnt | |
wird. | |
Bei einem sorbischen Pfarrer wie Gabriel Nawka in Wittichenau überrascht | |
die Klage wenig, dass wir „seit 1990 komplett im Materialismus aufgegangen | |
sind“. Immerhin haben sich seine im Glauben verwurzelten katholischen | |
Sorben als etwas resistenter gegenüber den Verführern der AfD erwiesen. | |
Auch Frank Richter war einmal katholischer Seelsorger, bevor er als | |
Direktor der Landeszentrale für Politische Bildung in Sachsen bundesweit | |
bekannt wurde. Seine Wortwahl überrascht also nicht, im Empfinden vieler | |
Menschen sei im Wortsinn „der Teufel los“. | |
Die Welt werde als eine in Aufruhr begriffene wahrgenommen, in der alle | |
alten Gewissheiten zusammenbrechen. Wie eine Furie sei der Neoliberalismus | |
über die Welt gezogen und habe Menschen entwurzelt. Diese Unordnung mache | |
weder vor Grenzen noch vor Seelen Halt. Alternativen seien, anders als vor | |
1990, nicht in Sicht. Da bliebe vielen nur noch die Flucht in den | |
Nationalismus. | |
## Botschaften, die Trost und Halt geben | |
Mit all diesen Fragen steht die Kultur vor einer großen Herausforderung. | |
Die Logik des Bautzener Intendanten Lutz Hillmann hat etwas Bestechendes. | |
Wenn der „besorgte Bürger“ so stark von Emotionen beherrscht sei, freilich | |
vor dem Hintergrund tatsächlich besorgniserregender Fakten, dann müsse man | |
ihn auch auf dieser Ebene erreichen. Vor allem Künstler könnten das. „Das | |
ist die Zeit der Philosophen, Künstler und aller, die nicht nur auf Geld | |
aus sind“, wird der Theatermann pathetisch. | |
Seine Kollegin Dorotty Szalma vom Schauspiel Zittau weiß nur noch nicht, | |
wie man die Reichweite über das etablierte Theaterpublikum hinaus | |
vergrößern könnte. „Vielleicht mit spektakulären Aktionen im öffentlichen | |
Raum“, überlegt sie. Hellfried Christoph in Kirschau möchte mit seiner | |
mobilen Kulturarbeit aber keinesfalls ein Missionar genannt werden. Er | |
setzt auf alles, was Gruppen und Sozialverhalten stärkt, was Menschen aus | |
ihrer isolationistischen Einsamkeit holt. Und auf gute Botschaften auch in | |
der an sich kritischen Kunst, die Trost und Halt geben. | |
Frank Richter, der für seine bedingungslose Gesprächsbereitschaft auch mit | |
Rechtsaußen schon Kritik einstecken musste, setzt weiterhin auf | |
„intelligente Gesprächsformate“. Sein pastoraler Glaube an das Gute im | |
Menschen lässt ihn auf die sinnstiftende und Multiplikationswirkung des | |
Austauschs zwischen scheinbar unversöhnlichen Gruppen setzen. „Der Dialog | |
darf jetzt erst recht nicht abreißen“, ist nicht nur von ihm immer wieder | |
zu hören. Und dass das Rechts-links-Schema gerade bei der Heterogenität der | |
AfD-Wählerschaft nicht mehr passe. | |
Der Schock des Wahlergebnisses hat bei Kulturleuten, aber auch bei | |
Bürgervereinen und nichtstaatlichen Organisationen Bewegung ausgelöst. | |
Bühnenverein und der Sächsischer Kultursenat beispielsweise bereiten | |
Sondertreffen vor. Es muss nicht gleich eine Weltrevolution sein, aber | |
andere Antworten als die Flucht in Abschottung und Nationalmythen sehen die | |
kulturellen Basisarbeiter schon. | |
18 Oct 2017 | |
## AUTOREN | |
Michael Bartsch | |
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