Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Ex-Bürgermeister von Tröglitz über AfD: „Sie wissen, wen sie d…
> Der Erfolg der AfD im Osten sei nicht mit Demütigungen nach der Wende zu
> entschuldigen, sagt Markus Nierth. Viele seien nie in der Demokratie
> angekommen.
Bild: 2015 wird Tröglitz deutschlandweit bekannt. Grund ist ein Anschlag auf e…
taz: Herr Nierth, in der Gemeinde Elsteraue in Sachsen-Anhalt, zu der das
Dorf Tröglitz gehört, hat die AfD 28,6 Prozent der Stimmen erhalten.
AfD-Wähler erheben oft den Vorwurf: Die anderen Politiker hören uns nicht
mehr zu, darum wählen wir die Rechtspopulisten. Haben sie recht?
Markus Nierth: Das ist so pauschal formuliert falsch. Und der Vorwurf
dahinter ist oft auch ein anderer: ‚Die Politiker machen nicht das, was wir
wollen!‘ Das erinnert mich an ein Verhalten, wie ich es von Kindern und
Pubertierenden kenne: Ich will das haben, was ich mir in den Kopf gesetzt
habe, und wenn ich das nicht kriege, stampfe ich mit dem Fuß auf und
überschreite Grenzen. Das geht aber so nicht. Demokratie basiert auf
Mehrheitsentscheidungen.
Sie meinen, diese Wähler haben die Regeln der Demokratie noch nicht
begriffen?
Viele Menschen in meinem Umfeld sind nach 27 Jahren noch nicht als
selbstverantwortliche Bürger in der Demokratie angekommen. ‚Mutti Merkel‘
funktioniert nicht so, wie man das haben möchte. Besser wäre es doch, der
Mensch wird mündig und braucht die „Mutti Merkel“ gar nicht mehr, weil er
sein Umfeld selbst gestaltet. Die Leute, die bei uns in Tröglitz 2015 mit
der NPD marschiert sind und gegrölt haben, das waren eben nicht diejenigen,
die durch ehrenamtliches Engagement ‚für ihr liebes Vaterland‘ aufgefallen
sind.
Warum werden diese Menschen Ihrer Meinung nach nicht mündig?
Ich nehme immer stärker wahr, dass einige meiner Landsleute mit der Kultur
der Demokratie, dass man etwa Kompromisse findet, konstruktiv
mitdiskutiert, dass man sich als mündiger Bürger tatkräftig einbringt, nie
warm geworden sind. Eine lebendige Demokratie ist in vielen Herzen und
offensichtlich manchen Gebieten niemals angekommen.
Die demokratische Kultur des „Westens“ hat sie nie erreicht?
Man hat 1990 gern die D-Mark genommen und die Reisefreiheit und die
Westautos. Aber dass Demokratie bedeutet, sich auch zu engagieren, dass
dazu ein Einbringen, ein Zurückgeben gehört, dass jeder sich mit seiner
Begabung, die er hat, einbringt, dass man die neugewonnene Freiheit
selbstverantwortlich mitgestaltet – das ist leider von vielen ausgeblendet
worden.
Ausgeblendet wurden im Westen aber auch die schweren Verwerfungen, die der
Prozess der Vereinigung für Viele mit sich gebracht hat. Rächt sich das
jetzt?
Ich habe großes Verständnis für die starken Verletzungen, die Menschen
erfahren haben, als sie nach 1990 ihre Arbeit verloren und etwa ihre
Betriebe noch selbst abreißen mussten. Das hat furchtbare Ängste,
Demütigungen und Traumata verursacht. Und es gibt viele, die es dann nicht
mehr geschafft haben, krank wurden. Ich habe einige von ihnen beerdigt. Ich
kann das von ganzem Herzen verstehen.
Aber?
Man kann das nicht immer damit entschuldigen, weil die Abgehängten und
Verletzten eben nur einen Teil der AfD-Wähler ausmachen. Ich stelle bei mir
eine gewisse Begrenzung für ewiges Verständnis-Haben fest.
Warum?
Vielen AfD-Wählern geht es materiell durchaus gut. Ich habe das bei
Pegida-Demonstrationen erlebt, wie gutsituierte Leute, Rentner, Ingenieure
mich ansprachen und die ganze Zeit vom Geld lamentierten, das Frau Merkel
angeblich für die Flüchtlinge verschwende. Als ich nachfragte, ob es ihnen
finanziell so schlecht ginge, sagten viele, sie hätten gut ausgesorgt. Auf
meinen Rat hin, dann doch lieber auf ihre verbitterten Herzen zu achten,
die immer härter und hasserfüllter werden, weil dies sie letztlich viel
mehr kosten könnte – dieses und vielleicht noch das jenseitige Leben – da
war mancher sprachlos. Da steckt kein materieller Frust dahinter, sondern
ein kultureller.
Was meinen Sie damit?
Sie wollen ihre alte ‚heile‘ Welt behalten. Sie nehmen zwar das Positive an
Globalisierung und Liberalisierung mit. Aber die Öffnung zur Welt, mehr
Toleranz gegenüber fremden Kulturen, das verweigern sie und halten fest an
ihrer kleinbürgerlich-bornierten Vorstellung. Dahinter steckt auch ganz oft
ein seelischer Frust über sich selbst und eine gewisse Hartherzigkeit. Und
Hartherzige suchen immer die Schuld bei anderen.
Lässt sich das Kleinbürgerliche im Osten nicht mit dem kulturellen Erbe der
DDR erklären?
Hinter diesem Verhalten steckt sicher auch eine Prägung der DDR. Politische
Unmündigkeit wurde belohnt. Aber darin stehenzubleiben und jetzt politische
Mündigkeit in Anspruch zu nehmen, um dauermotzend die Demokratie zu
zerstören, das empfinde ich als unanständig.
Es sind keine Protestwähler?
Die Leute wissen doch, wen sie da wählen. Sie kennen die Sprüche. Und mit
ihrer Wahl stärken sie Holocaust-Leugner, Geschichtsrevisionisten und
Leute, die die ‚Ehre‘ des deutschen Soldaten wiederherstellen wollen. Man
stärkt gerade das, was man in der DDR fast gebetsmühlenartig verurteilt
hat. Viele derer, die damals 'Nie wieder Faschismus!’ gerufen haben,
unterstützen jetzt wieder Rechtsextremisten. Und wenn es mit der Wirtschaft
und dem Tourismus bergab geht, dann ist das eben die konsequente Folge.
AfD-Wähler sehen sich gern in der Tradition vom Herbst 1989. Zu recht?
Ein paar von ihnen mögen 1989 dabei gewesen sein. Es sind nach meiner
Wahrnehmung aber vor allem Leute, die sich damals erst spät, als es schon
ungefährlich war, auf die Straße getraut haben. Die alten Bürgerrechtler
schämen sich zutiefst, wenn heute ihr Ruf ‚Wir sind das Volk!‘ so furchtbar
missbraucht wird. 1989 war eine Freiheitsbewegung.
Und was ist das heute?
Heute scheint Sicherheit wichtiger als Freiheit, wofür diese nun gern
geopfert wird. Man konnte eh nicht so recht mir ihr umgehen, sie blieb –
wie die Demokratie – immer etwas unbewusst Bedrohliches. Das ist das
Erschreckende! Wahrscheinlich ist dies ein Erbe der Gehorsamsstrukturen,
die jede Diktatur hinterlässt. Viele Menschen sind es gewohnt, sich lieber
anzupassen, für ihre Sicherheit und Bequemlichkeit die bedrohlich wirkende
Freiheit einzutauschen.
Was können die anderen Parteien dagegen tun?
In Tröglitz kam von den Parteien vor Ort keinerlei Zivilcourage. Eine
Ausnahme sind die Linken, die sich klar positionierten und auch was
riskieren. Grüne und SPD sind hier praktisch nicht vorhanden. Und die CDU
duckt sich peinlich weg. Wenn es darauf ankommt, werden die
Kommunalpolitiker oft zu Chamäleons, nur wenige, wie unser Landrat zum
Beispiel, leben mutig lebendige Demokratie vor. Die meisten geben lieber
den stillen Funktionärstyp ab. Wir brauchen aber jetzt Kämpfer, aufrechte
Demokraten, glaubwürdige Leute, denen ihre Freiheit noch etwas wert ist.
Woher soll diese Haltung denn jetzt kommen?
Es liegt ja offensichtlich ein sträfliches Versagen unserer Landesregierung
in Sachsen-Anhalt und in Sachsen vor. Man hat sich wohl naiv darauf
verlassen, dass mit dem materiellen Wohlstand auch automatisch die
politische Haltung kommt.
Was wäre denn nötig?
Dass man Zeitzeugen in die Schulklassen schickt, dass man nicht in den
Erlebnispark fährt, sondern auch in das Stasi-Gefängnis nach
Berlin-Hohenschönhausen oder nach Bautzen. Wir haben Zentren für politische
Bildung, gute Programme, nur die Lehrer nehmen dies kaum in Anspruch. Hier
müssten die Schulen von der Politik zur Umsetzung verpflichtet werden.
Wird die AfD jetzt ihrerseits ihre politische Arbeit verstärken?
Mit Sicherheit. Und die „Protestwähler“ haben nun den rechten Verführern,
den Demagogen wie Kubitschek, Höcke und Poggenburg, dutzende Millionen
Steuergeld für die nächsten Jahre in die bisher klammen Kassen gespült,
dass die in Seelenruhe einen schlagkräftigen Apparat aufbauen können, der
die Untergrabung unserer Demokratie vorantreiben wird -um uns laut Gauland
„zu jagen“. Das macht wütend, das spornt mich und meine Familie richtig an,
noch genauer hinzuschauen und dem laut zu widersprechen!
1 Oct 2017
## AUTOREN
Thomas Gerlach
## TAGS
Lesestück Interview
Schwerpunkt AfD
Tröglitz
Rechtspopulismus
Schwerpunkt Ostdeutschland
Bautzen
DDR
Schwerpunkt Pegida
Lesestück Meinung und Analyse
Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt AfD
Schwerpunkt AfD
Schwerpunkt AfD
Schwerpunkt AfD
Schwerpunkt AfD
Lesestück Recherche und Reportage
## ARTIKEL ZUM THEMA
Courage gegen Rassismus und Rechte: Die gehasste Wahlsächsin
Annalena Schmidt kam aus Hessen nach Bautzen. Sie mischt sich ein. Schmidt
steht für Weltoffenheit, dort wo Rechte Morgenluft wittern.
Debatte Aufarbeitung von SED-Unrecht: Das große Schweigen
Rechtspopulisten gewinnen in DDR-Opferverbänden an Einfluss. Und die wollen
ihre Anfälligkeit für Geschichtsrevisionismus nicht wahrhaben.
Steinmeier zu Besuch in Sachsen: Auf Wellnessreise ins Pegida-Land
Erstmals reist Frank-Walter Steinmeier als Bundespräsident nach Sachsen.
Der Empfang dort ist überraschend freundlich.
Kulturpolitik der AfD: Kämpfe, die kommen werden
Die deutsche Sprache ist das „Zentrum unserer Identität“ – diesen Satz
würden wohl viele unterschreiben. Auch wenn er von der AfD stammt.
Bayern nach der Wahl: Wie die CSU den Stammtisch verlor
Früher waren die CSU und Bayern eins. Doch in Deggendorf holte die AfD das
beste Wahlergebnis in ganz Westdeutschland. Was ist passiert?
Vizepräsidenten des Bundestags: Parteien gegen AfD-Kandidat
Abgeordnete aus den Fraktionen SPD, FDP, Grüne und Linkspartei halten den
AfD-Kandidaten Albrecht Glaser für das Bundestagspräsidium für ungeeignet.
Die Wahrheit: Heil dir im Siegerkranz
In einem Ort in Sachsen bekam die AfD die höchste Stimmenzahl.
Wissenswertes über Dorfchemnitz. Ein Literaturbericht aus dem Osten der
Republik.
Essay Wahlerfolg der AfD: Die Rache der Peripherie
Im Osten gab es die meiste Zustimmung für die AfD. Doch die Attraktivität
des Rechtspopulismus ist ein europäisches, kein ostdeutsches Phänomen.
Debatte Wahlverhalten in Ost und West: Die späte Rache der Ossis
Über 20 Prozent der ostdeutschen Wähler und Wählerinnen stimmten für die
AfD. Das hat auch mit der Arroganz der Wessis zu tun.
AfDler über den Bundestagseinzug: „Einer der größten Erfolge seit 1945“
Der Dresdner Richter und AfDler Jens Maier freut sich auf den Bundestag. Er
deutet die demokratische Geschichte Deutschlands zum Misserfolg um.
Wiedervereinigung und die Wahl: Merkels vergessene Schwestern
Die sächsische SPD-Politikerin Petra Köpping hört den Verlierern der Wende
zu. Die erzählen von der Arroganz des Westens und ganz realer
Benachteiligung.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.