| # taz.de -- Corona und soziale Ungleichheit: Die geteilte Stadt | |
| > Die Pandemie legt soziale Ungleichheiten offen: Arme sind stärker | |
| > betroffen. Über den Alltag in einem reichen und einem armen Stadtteil in | |
| > Hamburg. | |
| Bild: Das Treppenviertel in Blankenese | |
| Fatima Mohammed* greift sich ans Herz: „Wenn ich schlafe, träume ich | |
| Corona. Das letzte Jahr ganz schlecht“, sagt sie. „Wache auf, ich kann | |
| nicht atmen, nur Panik.“ Sie sitzt mit ihrer Tochter Yasemin* auf den | |
| Stufen zu ihrer neuen Wohnung. Vier Zimmer für vier Personen, das ist Luxus | |
| auf der Hamburger Veddel, wo es Familien gibt, die zu siebt in zwei Zimmern | |
| leben. | |
| Von der Veddel, einem Stadtteil auf einer Elbinsel in Hamburg, wo etwa | |
| 4.500 Menschen leben, ist selten die Rede. Bis auf ein Mal, vor vier | |
| Jahren, als ein Künstler eine Wand [1][mit echtem Gold bemalte] und gefragt | |
| wurde, ob das Geld gut angelegt sei. Und jetzt spricht man wieder von ihr, | |
| weil die Corona-Inzidenz dort mit Abstand die höchste der Stadt ist. | |
| Zwischen Februar 2020 und März 2021 lag sie bei 7.978 Fällen pro 100.000 | |
| Einwohner. Im reichen Blankenese waren es 1.457. | |
| Das ist nicht nur in Hamburg so: In ganz Deutschland ist Corona zu einer | |
| Krankheit geworden, die die [2][Armen häufiger und schwerer trifft]. Als | |
| hätte es eine Pandemie gebraucht, um daran zu erinnern, wie unterschiedlich | |
| es sich in den verschiedenen Stadtteilen lebt. Auf hohe Inzidenzen in | |
| Hochhäusern wird nun geschaut, auf die niedrigen in Einfamilienhäusern | |
| selten. | |
| Gerade scheint der Coronabrand eingedämmt, die Fallzahlen sinken, in | |
| Hamburg besonders schnell. Also alles wieder in Ordnung? Vielleicht ist es | |
| auch nur eine Atempause. In jedem Fall kann man auf die Veddel fahren und | |
| dann die 19 Kilometer, immer der Elbe entlang, nach Blankenese reisen, wo | |
| um die 13.500 Menschen wohnen, um zu fragen: Wie habt ihr mit Corona | |
| gelebt? Warum sind hier so viele krank und dort so wenige? | |
| Blankenese, das ist der Rückzugsort der Reichen, ein großbürgerliches | |
| Villenviertel mit Parks, einer kleinen Einkaufsstraße mit Boutiquen und dem | |
| Treppenviertel mit seinen kleinen Gassen, wo sich im Sommer die Touristen | |
| zwischen den Villen und ein paar adretten Fischerhäusern drängen. | |
| Die Veddel, das ist ein alter Arbeiterstadtteil mit dunkelroten | |
| Backsteinbauten aus den 20ern, die wirken, als habe ein Riese sehr eng | |
| Bauklötze zusammengelegt. Dort leben Menschen aus 60 Nationen, zwischen | |
| Elbe, Autobahn und Eisenbahnstrecke, direkt neben einer großen Kupferhütte. | |
| Es ist ein Dorf, heißt es immer, aber das Idyll muss man erstmal suchen. | |
| „Lange von der Stadt vergessen“, das schreibt selbst das Hamburger | |
| Stadtmarketing über die Veddel, als sei es ein vernachlässigtes Kind. | |
| Der Mann von Fatima Mohammed hat früher Brot ausgeliefert. Als Corona kam, | |
| ging er in Kurzarbeit, dann hat man ihm gekündigt. Sie arbeitet | |
| stundenweise als Betreuerin in der Schule. Aber wenn ihre eigenen Kinder, | |
| der achtjährige Sohn und die elfjährige Tochter wegen des | |
| Wechselunterrichts zu Hause sind, bleibt sie bei ihnen. Dann gibt es kein | |
| Geld. „Es ist ein bisschen schwer“, sagt Fatima, dann korrigiert sie sich, | |
| „ganz schwer“. Ihr Mann bekommt 600 bis 700 Euro, sie 300 bis 400 Euro, | |
| damit kommen sie mit dem Kindergeld auf knapp 1.600 Euro, derzeit zahlen | |
| sie 650 Euro Miete. | |
| Sie sorgt sich um den Sohn, der Diabetes hat, sorgt sich um die Tochter, | |
| deren Mathenachhilfe nicht kommt, weil sie Angst vor Ansteckung hat. Fatima | |
| Mohammed versteht das, sie hat ja selber Angst. „Aber sie muss die sechste | |
| Klasse gut schaffen, wenn weiter ins Gymnasium“, sagt die Mutter. „Ich | |
| möchte Ärztin werden oder Apothekerin oder Journalistin“, sagt die Tochter, | |
| die im benachbarten Wilhelmsburg aufs Gymnasium geht. Das sind ehrgeizige | |
| Pläne auf der Veddel. | |
| Fünf Prozent der Schüler:innen auf der Stadtteilschule schaffen die | |
| mittlere Reife oder eine gute Ausbildung, erzählt eine Lehrerin, die auf | |
| der Veddel unterrichtet. Das ist die Sahneschicht. Es sei wie eine Spirale, | |
| sagt sie, wenn die Eltern einen kleinen Schritt voran gemacht haben, dann | |
| machen die Kinder die nächsten. „Die allerwenigsten schaffen es aus eigener | |
| Kraft.“ | |
| In Blankenese waren die Mohammeds noch nie. Es ist mühselig genug, ins | |
| benachbarte Wilhelmsburg zu kommen, wo es einen Supermarkt gibt, der Masken | |
| verkauft. Es ist sehr unterschiedlich, was die Veddeler:innen über ihr | |
| Leben mit Corona erzählen, aber eins sagen wirklich alle: Was für ein | |
| Elend, dass ausgerechnet im Dezember Penny, weit und breit der einzige | |
| Supermarkt auf der Veddel, abgebrannt ist. Und seit Schlecker vor fast zehn | |
| Jahren insolvent ging, gibt es keine Drogerie mehr. Eine regionale Kette | |
| hatte abgelehnt – die Kaufkraft sei zu klein. Seit zwei Jahren gibt es | |
| wenigstens wieder eine Apotheke. | |
| Das Erste, was einem in Blankenese auffällt, ist der Vogelgesang. Der kommt | |
| aus den großen Gärten rings um die Villen. Einige SUVs stehen davor. | |
| „Herumprotzen ist in Blankenese verpönt“, wird die Stadtteilmanagerin | |
| später sagen. Ein Junge in kurzen Hosen mit Hockeyschläger radelt vorbei. | |
| Die Schmidts* wohnen in einem kleineren Backsteinhaus, am Eingang stehen | |
| Fahrräder. Im Wohnzimmer ein Podestbett, daneben eine Trommel und ein | |
| Klavier, es riecht ein wenig nach Räucherstäbchen. | |
| Ole Schmidt* und seine Frau haben zwei Kinder, er arbeitet in einem | |
| Außenhandelsunternehmen, sie ist Yogalehrerin, aber gerade in Elternzeit. | |
| Ihre Einkommensverhältnisse sind alles andere als typisch für Blankenese: | |
| mit seinem Gehalt und dem Kindergeld kommen sie auf 3.100 Euro. Sie selbst | |
| finden, dass sie gut damit auskommen. Das funktioniert, weil sie in einer | |
| foodsaver-Gruppe mitmachen, die Oma die Kinderschuhe spendiert und sie | |
| ansonsten vor allem second hand kaufen. Wie er sein Leben in Blankenese | |
| einordnet? „Wenn man sich mit dem Rest der Welt vergleicht, ist es | |
| absoluter Luxus: eine sichere Gegend, die Luft ist wunderschön“, sagt Ole | |
| Schmidt. | |
| ## Typisch blankenesisch | |
| Typisch blankenesisch ist, dass beide hier aufgewachsen und als junge | |
| Eltern zurückgekommen sind. Typisch ist, dass sie viel Platz haben, mit | |
| ihrer 100m2- Wohnung allerdings weniger als die knapp 60 Quadratmeter, die | |
| man durchschnittlich pro Person in Blankenese zur Verfügung hat. Typisch | |
| ist, dass sie einen hohen Bildungsabschluss haben. Typisch ist, dass sie | |
| einen Garten haben, in dem die Kinder während des Lockdowns mit anderen | |
| spielen konnten.. | |
| Die Schmidts sind vorsichtig. Als ein Kollege von Ole positiv auf Corona | |
| getestet wurde, blieb die Familie eine Woche zu Hause, obwohl Oles Test | |
| negativ war. Er arbeitet halb im Homeoffice, halb in der Firma. Die 14 | |
| Kilometer dorthin fährt er mit dem Rad. Über das Coronajahr hinweg war | |
| immer mal jemand in der Familie erkältet, dann haben er oder seine Frau | |
| einen Großeinkauf gemacht und alle blieben eine Woche daheim. | |
| In Blankenese ist Corona weitestgehend abstrakt; auf der Veddel dagegen ist | |
| Corona sehr konkret. „Viele Kinder sehen sehr schwere Verläufe bei Eltern | |
| und Großeltern“, sagt eine Lehrerin, die dort unterrichtet. Nachdem auf der | |
| Grund- und Stadtteilschule im letzten November 100 Schüler:innen und | |
| Lehrkräfte positiv getestet worden waren, schloss man die ganze Schule. In | |
| Blankenese gab es nur einzelne Klassen, die in Quarantäne mussten. | |
| Weil das Hin und Her mit der Kita anstrengend war, mal geschlossen, mal | |
| geöffnet, haben die Schmidts den älteren Sohn aus der Betreuung genommen. | |
| „Wir haben mit den Nachbarn eine eigene Kohorte gebildet“, sagt Ole | |
| Schmidt. Natürlich sei es sonderbar, die anderen jetzt zu fragen: „Alles | |
| gut?“ und zu meinen: „Zeigt niemand Symptome?“ Die Kinder kommen ins | |
| Wohnzimmer, der Große klettert aufs Podestbett. „Wir wollten doch noch | |
| lesen“, sagt die Mutter und sammelt ihn ein. | |
| Was Ole Schmidt zur Veddel einfällt? Er hat Freunde dort gehabt, ein | |
| bisschen alternativ, die eine Partyreihe gemacht haben, und die Clubs dort | |
| hat er in guter Erinnerung. | |
| Zu Beginn der Pandemie schien es, als mache Corona alle gleich. Doch die | |
| soziale Blindheit des Virus stellte sich rasch als Irrtum heraus. Erst | |
| schlug das Pendel in Richtung der sozial besser Gestellten aus, um sich | |
| dann auf die Seite der Ärmeren zu richten. In der ersten Welle waren vor | |
| allem Menschen aus „weniger deprivierten Regionen Deutschlands“, so nennt | |
| es das Robert Koch-Institut, betroffen: weil sie mehr reisten, etwa in den | |
| Skiurlaub, oder Berufspendler waren. In der zweiten Welle hat sich das | |
| Verhältnis umgedreht. | |
| Das hatten Studien schon prognostiziert. Das Kompetenznetz Public Health | |
| Covid-19 veröffentlichte im Mai 2020 [3][ein Papier], in dem es drei Gründe | |
| für das höhere Risiko der Armen nennt: sie sind dem Virus stärker | |
| ausgesetzt, weil sie seltener zu Hause arbeiten können, öfter beengt leben | |
| und den öffentlichen Nahverkehr nutzen. Sie sind gesundheitlich anfälliger, | |
| weil sie häufiger Vorerkrankungen haben. Und sie sind medizinisch | |
| schlechter versorgt. Die Autor:innen der Studie haben empfohlen, dies | |
| beim Umgang mit Corona zu berücksichtigen. | |
| ## Gesundheit und soziale Schicht korrelieren | |
| Passiert ist das lange nicht. Die soziale Dimension von Gesundheit „ist | |
| auch in normalen Zeiten unterbelichtet“, sagt Nico Dragano, der an der Uni | |
| Düsseldorf zu gesundheitlichen Ungleichheiten forscht. Wenn man Gesundheit | |
| als etwas sozial Bestimmtes versteht, kommt man auf grundsätzliche Fragen: | |
| Wohnverhältnisse, Arbeitsverhältnisse. Kein Wunder, dass sich niemand | |
| danach drängt, derart dicke Bretter anzubohren. | |
| Auf der Veddel gibt es seit 2018 ein Kollektiv, das das ändern will: die | |
| Poliklinik. Als sie begann, konnte sie einem wie ein Ufo erscheinen. 25 | |
| Leute verschiedenster Fachrichtungen von Medizin über Sozialarbeit bis zu | |
| Psychologie, die dorthin gegangen sind, wo der Bedarf hoch und der | |
| Verdienst mäßig ist. Dabei stünde es ihnen frei, das zu tun, was die | |
| meisten Ärzt:innen in Hamburg tun: sich dort niederzulassen, wo es viele | |
| Privatpatient:innen und weniger chronisch Kranke gibt. | |
| Hamburg gilt für die Kassenärztliche Vereinigung als ein Gebiet, es gibt | |
| keine Quote für einzelne Stadtteile. Folglich regelt der Markt, welcher | |
| Arzt sich wo niederlässt. | |
| [4][Als die Poliklinik auf die Veddel kam], gab es nur noch eine | |
| praktizierende Ärztin dort. „Wir fragen nach gesundheitlicher | |
| Chancengleichheit“, steht auf der Internetseite der Poliklinik und das ist | |
| untertrieben, denn sie fordert sie ein. Sie betreibt inzwischen drei | |
| Arztsitze; damit versorgt durchschnittlich ein Arzt auf der Veddel 1.492 | |
| Menschen. In Blankenese ist die Quote 1: 604 und da sind die 82 | |
| Fachärzt:innen, die es dort auch noch gibt, gar nicht berücksichtigt. | |
| Die Leute von der Poliklinik haben eine Veddel-Hotline organisiert, für | |
| solidarische Einkaufshilfe, aber auch für Ansprache und Kochhilfe. | |
| „Solidarisch“, das ist das Wort, das immer wieder auftaucht, es wirkt wie | |
| eine Mischung aus Beschwörung und Beschreibung. | |
| Aber Solidarität erfordert Sichtbarkeit. Um genauer herauszufinden, was die | |
| Veddeler:innen zurzeit brauchen, hat die Poliklinik 500 Fragebögen in | |
| die Briefkästen gesteckt, aber es sind nur 60 ausgefüllt zurückgekommen. | |
| Nach draußen zu können wäre hilfreich, so der Tenor der Antworten. Die | |
| Poliklinik hat deshalb zusammen mit der Kirche ein Gartenbauprojekt | |
| organisiert. | |
| Emine Ak* arbeitet ehrenamtlich im Café Nova der Immanuelkirche, zuletzt | |
| hat sie Bastelpakete für Kinder organisiert. Wir treffen uns im | |
| Gemeindesaal, Ak hat ihre Freundin Fatma Yaman* mitgebracht. Beide haben | |
| drei Kinder, beide arbeiten im Gesundheitsbereich, beide haben drei Jobs, | |
| beide waren mehrmals in Corona-Quarantäne. | |
| Die Quarantäne war kein Problem, das sagen beide. Ak hat zwei Söhne, 26 und | |
| 12 Jahre alt, der Große studiert internationales Management und schläft im | |
| Wohnzimmer. Die Tochter ist 19, macht eine Ausbildung als medizinische | |
| Fachangestellte und teilt sich ein Zimmer mit dem Jüngsten. Die Aks machen | |
| ganz offensichtlich einen Schritt nach oben. | |
| Emine Ak, die immer vorsichtig war – „ich habe die Türknöpfe desinfiziert… | |
| – verbrachte die Quarantäne „im Schlafzimmer eingesperrt“. Sie sagt es g… | |
| gelaunt. Wenn sie zur Toilette musste, rief sie mit dem Handy an, damit der | |
| Rest der Familie ihr nicht begegnete. Sie arbeitet in einer Dementen-WG, | |
| deshalb testet sie sich regelmäßig und merkte so auch, dass sie sich | |
| infiziert hatte. „Ich habe mich körperlich wohl gefühlt“, sagt sie, „un… | |
| war auch mal gut, zehn Tage im Bett zu sein, mit dem Laptop, und nichts zu | |
| tun“. | |
| „Zu Beginn war es schwierig“, sagt Fatma Yaman, „die Kinder wollten raus. | |
| Aber nach ein paar Tagen haben sie sich gewöhnt.“ Der 10-jährige Sohn | |
| vermisst das Fußballspielen. Und doch: „Bei uns ist es nicht spannend“, | |
| sagen alle beide. „Wir sind aktiv, haben drei Kinder und drei Jobs. Es ist | |
| wie im Bilderbuch.“ Es seien immer wieder sie, die gefragt würden, wenn | |
| Veddeler für die Anfragen der Presse gesucht werden. Aber eigentlich müsste | |
| man mit anderen Familien sprechen, sagen Ak und Yaman. Solchen, denen es | |
| wirklich schlecht geht. Aber: „Die werden nicht mit Ihnen sprechen.“ Warum | |
| nicht? „Weil sie nichts davon haben.“ Eine letzte Frage: Was ihnen zu | |
| Blankenese einfällt? „Da ist es schön. Da gehen wir spazieren.“ | |
| ## Arme infizieren sich häufiger | |
| Warum infizieren sich arme Menschen häufiger mit Corona? Das ist eine | |
| einfache, aber entscheidende Frage und zugleich vermintes Terrain. Als die | |
| Bild-Zeitung kolportierte, Lothar Wieler, der Präsident des Robert | |
| Koch-Instituts, habe gesagt, dass 90 Prozent der Coronapatient:innen | |
| auf den Intensivstationen einen Migrationshintergrund hätten, entgegnete | |
| die islamisch-türkische Religionsgemeinschaft Ditib, es sei „unredlich und | |
| unprofessionell“, die Verantwortung für die Pandemie bei Minderheiten zu | |
| suchen. Das RKI relativierte die Aussagen: Es sei nur um die Situation in | |
| drei Kliniken gegangen. | |
| Im inoffiziellen Diskurs der sozialen Netzwerke konnte man dagegen | |
| eindeutige Schuldzuweisungen finden, etwa nach einer aufgelösten türkischen | |
| Großhochzeit in Dortmund. Aber es gibt keine statistische Grundlage dafür. | |
| In Hamburg schlüsselt die Polizei die Verstöße gegen Coronaverordnungen | |
| nicht nach Stadtteil auf. Und doch, fragt man die Menschen, die auf der | |
| Veddel leben, nach den Gründen für die hohe Inzidenz, dann sehen sie die | |
| Gründe nicht in den Strukturen, sondern im Verhalten von Einzelnen. | |
| „Den albanischen Männern geht es am Arsch vorbei“, sagt Emine Ak. Die | |
| albanischen Männer, das sind für sie die, die an der Straße zum Bahnhof in | |
| Gruppen, ohne Masken, ohne Abstand vor den Cafés stehen. „90 Prozent hier | |
| sind solidarisch“, sagt Ak. „Zehn Prozent sind es nicht.“ | |
| „Es treffen sich Familien zu Verlobungsfeiern mit zehn bis 15 Leuten“, sagt | |
| Fatma Yaman. | |
| „Ich verstehe sie auch“, sagt Emine Ak. | |
| „Eine Freundin von mir trifft sich ständig und wenn ich etwas dazu sage, | |
| sagt sie:,Ist doch nichts'. Sie hat einfach einen Knall“, sagt Fatma Yaman. | |
| Tina Röthig von der Poliklinik wirft einen anderen Blick auf die Männer vor | |
| den Cafés: „Ich weiß, warum die Männer hier auf der Straße stehen. Die | |
| arbeiten auf dem Bau. Und ihre Arbeitgeber geben ihnen keine Coronatests.“ | |
| Sie findet diese Art von Diskussion abwegig. „Das ist eine klassistische | |
| Perspektive. Da wird die Verantwortung abgewälzt auf individuelles | |
| Verhalten. Die meisten sind informiert – aber sie können sich nicht | |
| schützen.“ | |
| Wer hat welche Verantwortung? Die Mitarbeiter:innen der Poliklinik | |
| scheinen kaum in solchen Kategorien zu denken und vielleicht funktioniert | |
| ihre Arbeit nur deshalb. „Was erreicht die Leute?“, fragen sie und stehen | |
| damit quer zu dem, wohin das Gesundheitswesen neigt: die Verantwortung den | |
| Leuten selbst zu geben. Ernährt euch gut, bewegt euch – dann bleibt ihr | |
| gesund und belastet nicht ein Gesundheitssystem, das ohnehin ächzt. Strengt | |
| euch doch an, ruft die bürgerliche Mitte denen zu, die unten krauchen, wir | |
| tun es auch. | |
| ## Abstand halten fällt überall schwer | |
| So wenig Gemeinsamkeiten man zwischen Veddel und Blankenese finden kann, | |
| eine gibt es doch: Auch in Blankenese berichtet man von Menschengruppen vor | |
| Cafés. Im sogenannten Dorf beim Marktplatz stünden bis zu 80 Leute | |
| beieinander, heißt es, und tränken in Kleingruppen ohne all zu viel Abstand | |
| ihren Kaffee. Nur weil die Inzidenz in Blankenese so gering ist, zieht das | |
| keine größeren Kreise. | |
| Kreise zieht dagegen gerade die Frage, wer sich impfen lässt – und wer | |
| nicht. Man kann immer wieder von der mutmaßlichen Impfskepsis der Armen und | |
| Bildungsfernen lesen – dabei gibt es bislang keinerlei Belege dafür. | |
| Studien zur Einstellung gegenüber anderen Impfungen legen eher das | |
| Gegenteil nahe: Die zeigen einen U-förmigen Verlauf mit hoher Zustimmung | |
| bei sozial Benachteiligten und sozial besonders Privilegierten und weniger | |
| Zustimmung in der Mitte. | |
| Auch Jonas Fiedler, Arzt an der Poliklinik auf der Veddel, hat bislang | |
| keine Impfvorbehalte feststellen können außer denen gegenüber AstraZeneca, | |
| die überall zu finden seien. „Was wir an Impfdosen haben, verimpfen wir“, | |
| sagt er. Zahlen zur Impfquote auf der Veddel gibt es nicht, weil die Leute | |
| nicht nur vor Ort geimpft werden. Eines lässt sich immerhin sagen: Der | |
| Bedarf ist so, dass Fiedler mit der Poliklinik zu einer Impfoffensive auf | |
| der Veddel und in anderen armen Stadtteilen aufgerufen hat. | |
| Eigentlich schien der Moment günstig: In Köln schickte man ein Impfmobil in | |
| den Stadtteil Chorweiler, wo die Inzidenz ebenso stark gestiegen war wie | |
| auf der Veddel. Politiker:innen übernahmen die Forderung. [5][Doch der | |
| Hamburger Senat winkte ab]; das sei mit der Impfverordnung nicht vereinbar. | |
| Aber kurz danach schuf die Gesundheitsbehörde ein Kontingent für Praxen in | |
| unterversorgten Gegenden. In der ersten Woche erhielt die Poliklinik 100 | |
| zusätzliche Dosen. Zurzeit, sagt Fiedler, sei die Versorgung mit Impfstoff | |
| nicht das Problem. Sondern die mit Geld für Räume und Personal. | |
| Gibt es Impfangst auf der Veddel? Fatima Mohammed ist zögerlich. „Viele | |
| Leute sagen, dass die Leute davon blind werden“, sagt sie. | |
| ## Überbordende Müdigkeit | |
| Unten im Haus von Tina Owuso* hängt ein Plakat der Poliklinik mit | |
| Hilfsangeboten, daneben eines mit Corona-Hygieneregeln. Der Putz in den | |
| Ecken bröckelt. Tina Owuso sitzt in ihrer Küche, in deren Mitte ein | |
| riesiger Karton mit einem neuen Kühlschrank liegt. Eine Bekannte hat ihn | |
| für sie gekauft, weil Owuso „Schufa hat“, so übersetzt es ihr 17-jähriger | |
| Sohn Kofi*. Schufa haben, das klingt wie eine Krankheit. Auf dem schmalen | |
| Küchentisch steht eine Flasche mit Desinfektionsmittel. Tina Owuso sitzt | |
| daran in einer wattierten Jacke, als fröre sie auch drinnen. | |
| Die Küche wirkt sonderbar leer, aber was vor allem fehlt, ist so etwas wie | |
| Hoffnung. Tina Owuso glaubt nicht, dass die Impfung wirklich gegen Corona | |
| hilft, und sie fürchtet die Nebenwirkungen. Sie fürchtet sich davor, etwas | |
| anzufassen. „Viel Angst“, sagt sie. Ihren Putzjob hat sie noch vor der | |
| ersten Welle verloren, weil sie wegen ihrer Rückenschmerzen zu viele | |
| Krankheitstage hatte. Eine Zeit lang war es gutgegangen, da hat sie vor | |
| allem Toiletten gesäubert und Müll rausgebracht, aber vom Putzen bekommt | |
| sie Schmerzen. „Sie würde gern verpacken“, sagt ihr Sohn, „aber es ist | |
| wegen Corona schwer, Arbeit zu finden.“ Er selbst macht gerade ein | |
| Praktikum an einer Tankstelle, weil er Einzelhandelskaufmann werden will. | |
| „Da ich sozusagen jung bin, kann mir nichts passieren“, sagt er zu Corona. | |
| Sozusagen, das sagt er häufig, als sei den Dingen nicht wirklich zu trauen. | |
| Tina Owuso macht gerade einen Deutschkurs, aber oft ist sie | |
| krankgeschrieben oder müde. „Alles so viel Denken“, sagt sie. „Sie ist | |
| sozusagen überfordert“, übersetzt ihr Sohn. „Wenn sie arbeitet, tut sie | |
| etwas. Arbeit ist gut, weil sie da Geld verdient.“ „Ich habe nicht gut | |
| lesen, nicht gut schreiben“, sagt Tina Owuso. Und Kofi übersetzt: „Weil sie | |
| älter ist, fällt es ihr schwer, sie muss so lange überlegen, was da steht. | |
| Der Lehrer ist nervig. Wenn sie fünf Minuten zu spät kommt, schreibt er | |
| einen Brief ans Arbeitsamt, als wären sie kleine Kinder.“ | |
| Wenn man bei der 52-jährigen Tina Owuso in der Küche sitzt, weht einen | |
| etwas von einer sehr grundsätzlichen Müdigkeit an. Einer Müdigkeit, die von | |
| einem Leben rührt, in dem die ganze Kraft sich darin verbraucht, einen | |
| prekären Alltag am Laufen zu halten. Kofi, der Sohn, wird unruhig. Ob man | |
| ihn noch brauche als Übersetzer? Denn er muss los, um bei der Bank etwas | |
| abzubezahlen. Auf dem Rückweg sehe ich ihn an der Bushaltestelle. Die | |
| S-Bahn verspätet sich, weil ein Zug auf der Strecke liegen geblieben ist. | |
| Zwei Leute nehmen ein Taxi. Die anderen warten im Regen. Als der bereits | |
| volle Bus kommt, quetschen sich noch ein paar hinein. Von Abstand keine | |
| Spur. | |
| Druck – vielleicht ist das der geeignete Begriff, wenn man über Corona | |
| nachdenkt und wie es sich damit lebt. Welchen Druck man erfährt und welche | |
| Ventile man dafür hat. „Die Eltern geben den Druck, den wir Lehrer ihnen | |
| machen, an die Kinder weiter“, sagt die Lehrerin von der Veddel. Corona | |
| bedeutet hier die verschärfte Fortsetzung eines Alltags mit Schreien, mit | |
| Händen, die gelegentlich ausrutschen. | |
| Sie erzählt von einem Schüler, dessen Eltern arbeitslos waren, man stand um | |
| 13 Uhr auf, Abendbrot gab es um 23 Uhr. „Die Stimmung war in der Familie | |
| nahezu depressiv, da ist es total unrealistisch, dass das Kind um acht Uhr | |
| zur Zoom-Konferenz aufsteht.“ Die Lehrerin hat versucht zu erklären, dass | |
| das Kind auf die Eltern angewiesen ist, um zurechtzukommen. Und | |
| tatsächlich: es hat funktioniert. Aber oft tut es das nicht. „Ganz viele | |
| Kinder gehen uns verloren“, sagt sie. | |
| Die Lehrerin hat im Unterricht mit den Schüler:innen viel über Helfen | |
| und Spenden gesprochen. Und eines wurde sehr klar: diese Veddeler Kinder | |
| sehen sich nicht am Ende der Leiter. Und sie haben genügend Reserven, um | |
| Anteil am Unglück anderer zu nehmen: „Die armen Kinder in Afrika“, sagen | |
| sie, „die armen Tiere.“ | |
| ## Der Druck wird weitergegeben | |
| Und der Druck in Blankenese, wo man annehmen muss, dass die Ventile | |
| zahlreich sind? Ein paar Eltern fühlten sich gestresst durch die | |
| Doppelbelastung Beruf und Homeschooling, sagt eine Lehrerin, die dort | |
| unterrichtet. Aber es klingt durch, dass sie den Stress für überschaubar | |
| hält. „Was ich gut finde“, sagt die Lehrerin, „wie wenig die Kinder | |
| versäumt haben.“ | |
| In Blankenese sind die Schulkinder nicht verlorengegangen. Der Druck nimmt | |
| dort einen anderen Verlauf; er kommt von den Eltern selbst. „Wie sich die | |
| Leute hier zerfleischen“, sagt Sabine Juchheim, die Quartiersmanagerin von | |
| Blankenese. „Die Eltern bekleiden sehr gute Positionen, und es herrscht | |
| große Angst, auf der Leiter abzusteigen.“ Bemerkenswert, dass selbst in | |
| Blankenese, wo das Durchschnittseinkommen bei 117.139 Euro liegt – auf der | |
| Veddel sind es 15.831 Euro –, die Unsicherheit mit am Tisch sitzt. | |
| Aber noch etwas ist der Quartiersmanagerin aufgefallen: wie belebt der | |
| Blankeneser Markt seit Coronazeiten wieder ist. Es kommen Leute von | |
| auswärts, es kommen Blankeneser:innen, die nicht in ihre Ferienhäuser auf | |
| Sylt ausweichen können. Corona als Chance. Das haben zu Beginn der Pandemie | |
| viele gesagt, inzwischen sind die Stimmen leiser geworden. | |
| „Wir leben jetzt viel zurückgezogener, und weil die Kinder so klein sind, | |
| ist es voll schön“, sagt Ole Schmidt. Man nimmt es der Familie ab, dass sie | |
| der Pandemiezeit etwas abgewinnen kann, weil sie sie sich mehr auf ihr | |
| Miteinander konzentriert. „Viele Eltern haben wieder einen größeren Draht | |
| zu ihren Kindern“, sagt die Blankeneser Lehrerin am Telefon. | |
| Und auf der Veddel, was bleibt dort? Für einige das Wissen, dass im Notfall | |
| die Familie hilft, dass Nachbarn einkaufen, Bekannte Kredite geben. | |
| Die Menschen auf der Veddel und die in Blankenese begegnen sich kaum. Die | |
| Inzidenz auf der Veddel ist explodiert, während die in Blankenese sank. Das | |
| trägt kaum dazu bei, sich als Teile, die füreinander Sorge tragen müssen, | |
| damit das Ganze funktioniert, zu begreifen. Es sei denn, man erkennt ganz | |
| pragmatisch, dass sich die Frage, ob die Blankeneser:innen wieder nach | |
| Sylt reisen können, auch auf der Veddel entscheidet. Erkennt, dass unsere | |
| Gesellschaft so verzahnt ist, dass es nicht ausreicht, wenn es nur einem | |
| Teil gutgeht. | |
| *Namen geändert | |
| 30 May 2021 | |
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| [4] /Poliklinik-im-Hamburger-Armenstadtteil/!5447702 | |
| [5] /Neue-Impf-Priorisierung-gefordert/!5763368 | |
| ## AUTOREN | |
| Friederike Gräff | |
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| sich in vielen Betrieben Mischformen aus Präsenzarbeit und Homeoffice. | |
| Corona-Impfkampagne: Bremen Deutscher Meister | |
| Kurze Wartezeiten und hohe Quoten: Der Stadtstaat Bremen zeigt, wie eine | |
| Gesundheitskampagne auch Menschen in ärmeren Stadtteilen erreicht. | |
| Soziologin über Homeoffice nach Corona: „Arbeitgeber können viel sparen“ | |
| Aus einem Recht auf Homeoffice könnte schnell eine Pflicht zum mobilen | |
| Arbeiten werden, warnt die Soziologin Anke Hassel. | |
| Soziale Ungleichheit und Corona: Impf-Geiz im Brennpunkt | |
| Hannover hat in zwei „Problemvierteln“ ein bisschen gegen das Coronavirus | |
| geimpft. Ergebnis: Es gibt deutlich mehr Impfwillige als Impfstoff. Und | |
| nun? | |
| Sozialarbeiter über Gesundheitszentren: „Ungleichheit macht krank“ | |
| Hannah Gruber und Jonas Löwenberg engagieren sich in sozialen | |
| Gesundheitszentren. Auch Faktoren wie Rassismus und knapper Wohnraum trügen | |
| zu Erkrankungen bei. | |
| Politologe zu Armut in Deutschland: „Der Bericht wird missbraucht“ | |
| Für den Politologen Butterwegge ist der Armuts- und Reichtumsbericht zu | |
| unspezifisch: Reichtum würde darin nur sehr ungenau erfasst – weil es nicht | |
| gewollt sei. | |
| Corona-Aufholpaket der Bundesregierung: Jetzt die Bildungsrevolution! | |
| Die Coronakrise legt die Ungerechtigkeiten im Bildungssystem offen. Um sie | |
| zu beseitigen, reicht kein Geld – die Art zu lernen muss sich ändern. |