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# taz.de -- Soziale Ungleichheit und Corona: Impf-Geiz im Brennpunkt
> Hannover hat in zwei „Problemvierteln“ ein bisschen gegen das Coronavirus
> geimpft. Ergebnis: Es gibt deutlich mehr Impfwillige als Impfstoff. Und
> nun?
Bild: Mehr als 7000 Menschen leben in diesem Viertel – geimpft wurden 350
Hannover taz | Die Kollegin von der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung hat
sich extra in den Canarisweg begeben. Der Canarisweg – das muss man
Nicht-Hannoveranern vielleicht erklären – ist die Art von Hochhaussiedlung,
die man hier immer gern als Kulisse nimmt, wenn man Sozialpornos drehen
will – also Reportagen oder fiktive Geschichten, die irgendwas mit „Ghetto�…
und „Brennpunkt“ zu tun haben.
Vor allem aus der Luft sieht der schlangenförmige Hochhausriegel
beeindruckend aus. Er gehört zu den Architektenträumen der 60er-Jahre, die
für sehr kurze Zeit sehr begehrt waren und dann für sehr lange Zeit
überhaupt nicht mehr. Im vergangenen Jahr hat hier die stadteigene
Wohnungsbaugesellschaft Hanova für viel Geld mehrere hundert
heruntergekommene Wohnungen von der Vonovia und der Deutsche Wohnen
gekauft, um das marode Quartier endlich in den Griff zu kriegen.
Die beiden größten [1][deutschen Vermieter, die jetzt fusionieren wollen,]
haben die Sanierung schleifen lassen und tatenlos zugesehen, wie sich die
Problemfälle ballten. Immer wieder gab es Schlagzeilen, weil nachts Feuer
in Kellern und Fluren gelegt wurde oder Gegenstände von den Balkonen auf
das Freigelände des Kindergartens flogen.
In der Coronakrise gehörte der Canarisweg zu den Gebieten mit den anhaltend
höchsten Inzidenzen, wobei sich das Gesundheitsamt der Region sehr
sträubte, diese Zahlen herauszurücken. Man wolle ja niemanden zusätzlich
stigmatisieren, hieß es.
## Ist Impfskepsis unter Migranten hier wirklich das Problem?
[2][Mittlerweile gilt allerdings als unumstritten, wer besonders gefährdet
ist:] Familien, die mit zu vielen Mitgliedern auf zu wenig Quadratmetern
leben. Menschen, die ihre prekären Dienstleistungsjobs als Paketfahrer*in,
Burgerbrater*in, Pfleger*in oder Putzkraft nicht mal eben ins Homeoffice
verlegen können. Arbeiter*innen in der Produktion und der Logistik.
Menschen mit geringem Einkommen, deren Gesundheit ohnehin belastet ist.
Im Canarisweg fand [3][die Kollegin von der HAZ nun also das], was sie
suchte: Eine Bulgarin, die ihr erklärte, sie wolle sich nicht impfen
lassen, niemand wolle das. Eine junge irakische Mutter, die sagt, sie sei
sich unsicher. Ist das also das Problem? Migrantische Impfskepsis?
Erreichen die Impfungen im Brennpunkt möglicherweise gar nicht die
richtigen Leute, wie die HAZ in Titel und Zwischentiteln bei ihrem Bericht
immer wieder raunt?
Am ersten Tag der Impfaktion im Mühlenberg, zu dem der Canarisweg gehört,
bildet sich ab morgens um 8 Uhr eine Schlange, im Garbsener Stadtteil Auf
der Horst in der Woche darauf schon um 7 Uhr – wie auch die HAZ notiert.
Von 10 bis 16 Uhr soll geimpft werden, aber am ersten Tag ist um 15.30 Uhr
der Stoff alle – wer zu spät von der Arbeit kommt, hat Pech.
Mehr als 7.000 Menschen leben in jedem dieser Viertel. 200 Impfdosen pro
Stadtteil waren angekündigt. Es war von Anfang an klar, dass das nicht
reichen würde. Deshalb hatten Stadt und Region Hannover, die die Aktion
gemeinsam geplant und durchgeführt haben, auch darauf verzichtet, den Ort
der Impfung an die große Glocke zu hängen. Man setzte stattdessen darauf,
dass die Sozialarbeiter und Quartiersmanager Leute gezielt ansprachen – und
dass Mundpropaganda, Eltern-Whatsapp-Gruppen und sonstige soziale Netzwerke
den Rest erledigen würden.
## Die Kommunikationspolitik sorgte bei manchen für Unmut
Das klappte so gut, dass sich auch Impfwillige aus den Nachbarvierteln in
die Schlange stellen – und dann erst einmal wieder weggeschickt werden.
Erst am späten Nachmittag kommen vereinzelt auch andere Impfwillige zum
Zuge, um die angebrochenen Impfdosen aufzubrauchen. Am Ende ist es dem
mobilen Team aus dem Impfzentrum gelungen, immerhin 750 Menschen zu impfen.
Die Kommunikationspolitik kommt nicht bei allen gut an: „Das muss man doch
bekannt machen“, schimpft eine ältere Dame vor dem improvisierten
Impfzentrum im „Bunten Haus“ in Mühlenberg. „Wieso wusste ich davon denn
nichts?“, empört sich eine Woche später eine andere Seniorin vor dem
Freizeitheim im Stadtteil Auf der Horst.
Etliche, vor allem Jüngere, reihen sich einfach spontan ein: „Was Impfung?
Ohne Termin? Einfach so?“, fragt eine Frau mit Kopftuch, zückt das Handy
und telefoniert umgehend den Rest der Familie herbei. Andere kommen gleich
in Kleingruppen an, den gelben Impfpass fest in der Hand, schon von Weitem
sichtbar.
Und wenn sie einmal da sind, läuft die Kommunikation durchaus: Stadt und
Region haben ihre Sozialarbeiter*innen aufgeboten,
Dolmetscher*innen für die gängigsten Sprachen stehen bereit, es gibt
Infomaterialien in noch mehr Sprachen, ein gut eingespieltes Team der
Johanniter entlang der Impfstraße, der Katastrophenschutz der Feuerwehr,
Kontaktbeamte der Polizei und ein Türsteher, die für geordnete Abläufe
sorgen sollen, aber die meiste Zeit auch nur ein bisschen lotsen müssen.
## Moderna hat offenbar kein Imageproblem
Am Ende müssen sie vor allem zwei Fragen in den verschiedenen Sprachen
immer wieder beantworten: Welcher Impfstoff? Und wie funktioniert das mit
der zweiten Impfung? „Moderna“, „ah, Moderna“ ist immer wieder in den
kurdischen, arabischen, türkischen und russischen Sätzen zu hören. Dieser
Impfstoff hat offenbar international kein Imageproblem. Für die
Zweitimpfung wird das mobile Impfteam in sechs Wochen noch einmal
anrücken.
Ansonsten wollen Stadt und Region die Aktion erst noch auswerten, wie es in
einer Presseerklärung heißt. Etwas anderes bleibt ihnen auch nicht übrig,
denn die Chancen, weiteren Impfstoff für solche Impfaktionen abzuzweigen,
stehen schlecht.
Im stationären Impfzentrum am Messegelände werden schon seit zwei Wochen
fast nur noch Zweitimpfungen durchgeführt. Die Warteliste wächst weiter vor
sich hin, nicht einmal die Berechtigten aus der Prioritätsgruppe 2 sind
durchgeimpft, während ständig neue Gruppen dazukommen.
Finanzdezernent Axel von der Ohe beeilte sich aus diesem Grund, schon zu
Beginn der Impfaktion zu versichern, dass die Impfdosen für die sozialen
Brennpunkte „eingepreist“ seien und deshalb keine Termine anderswo
ausfallen müssten.
## Bei Tests genauso benachteiligt wie bei Impfungen
Oberbürgermeister Belit Onay sagte bei der Eröffnung eines Testzentrums in
Vahrenheide, einem weiteren sogenannten Brennpunkt, sobald der Engpass beim
Impfstoff überwunden sei, stünden die Impfungen auch hier ganz oben auf der
Tagesordnung.
Auch das Testzentrum dort kam allerdings nur auf Initiative des Arztes
Wjahat Ahmed Waraich zu Stande, der aus dem Viertel stammt, immer noch dort
wohnt und sich auch als SPD-Lokalpolitiker engagiert. Er hat sich von
seinem Klinikjob freistellen lassen. Seiner Beobachtung nach scheuen viele
Stadtteilbewohner*innen, den Gang in die Testzentren in der Innenstadt oder
scheitern dort an der Sprachbarriere. Impfen würde er auch gern, bekommt
aber bisher keinen Impfstoff.
Das wird angesichts der nun noch angekündigten Impfungen für
Schüler*innen wohl auch erst einmal so bleiben, räumt von der Ohe ein.
Derzeit sei nicht absehbar, ob und wann die Impfungen in beengten
Wohnquartieren fortgesetzt werden können.
31 May 2021
## LINKS
[1] /Fusion-von-Vonovia-und-Deutsche-Wohnen/!5774199
[2] /Impfung-von-sozial-Benachteiligten/!5765299
[3] https://www.haz.de/Hannover/Aus-der-Stadt/Hannover-Muehlenberg-Corona-Impfu…
## AUTOREN
Nadine Conti
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