# taz.de -- Corona-Aufholpaket der Bundesregierung: Jetzt die Bildungsrevolutio… | |
> Die Coronakrise legt die Ungerechtigkeiten im Bildungssystem offen. Um | |
> sie zu beseitigen, reicht kein Geld – die Art zu lernen muss sich ändern. | |
Bild: Corona legt es offen: Erfolg in der Schule hängt in Deutschland noch imm… | |
Das Schuljahr, das nie richtig begonnen hat, ist in einigen Bundesländern | |
schon fast wieder zu Ende. In wenigen Wochen gibt es Zeugnisse. Alles wie | |
gewohnt also. Obwohl alles anders ist. Fast 90 Prozent der Schulen arbeiten | |
derzeit im sogenannten Wechselmodell, das heißt, die Schüler kommen für | |
einige Stunden oder Tage in die Schule und bearbeiten ansonsten Aufgaben zu | |
Hause. | |
Als Deutschland vor über einem Jahr in den Lockdown ging, war viel von der | |
Krise als Chance die Rede. So, als wenn plötzlich der geliebte Diesel | |
kaputtgeht und man zum ersten Mal ernsthaft darüber nachdenkt, ob man ein | |
eigenes Auto braucht. Und als die Schulen schlossen und der Schulalltag | |
stockte, fragten sich viele, ob wie und was dort gelernt wird, wirklich | |
noch ins 21. Jahrhundert passt. | |
Die Krise hält an, die Chance blieb bislang ungenutzt. Die Schulen stiegen, | |
so gesehen, einfach auf ein Hybridauto um. Viele Schüler:innen und | |
Lehrer:innen erhielten zwar im Hauruckverfahren Tablets, sie tummelten | |
sich plötzlich auf Lernplattformen und [1][trafen sich in | |
Videokonferenzen]. Der digitalen Revolution in den Schulen folgte bislang | |
jedoch keine Bildungsrevolution. | |
Die Zeit des Ausschlafens ist für die meisten Kinder wieder vorbei, der | |
Leistungsdruck zurück. Die Kultusminister:innen halten krampfhaft an | |
veralteten Bildungsstandards fest, in denen der Begriff „soziale Medien“ | |
noch nicht mal auftaucht. Sie betonen den Wert von Prüfungen und Zensuren; | |
auch das Sitzenbleiben, das im vergangenen Schuljahr ausgesetzt war, ist | |
wieder üblich. | |
## Warum Zensuren? | |
Die Zahl der Schüler:innen, die während der Schulschließung den Anschluss | |
verloren haben, wird wohl wachsen, die Bundesbildungsministerin rechnet | |
damit, dass bis zu 20 Prozent der Schüler:innen deutliche | |
[2][Lernlücken] haben. Die Bundesregierung [3][hat deshalb in dieser Woche | |
ein sogenanntes Aufholpaket beschlossen] – 1 Milliarde Euro soll allein in | |
Nachhilfe und Zusatzunterricht fließen, um Lernlücken in den Kernfächern zu | |
schließen. | |
Falsch ist es nicht, Kinder, die langsam lernen oder bei denen zu Hause | |
keine Bücherwände stehen, gezielt und zusätzlich zu fördern. Falsch ist | |
jedoch der Gedanke, dass dafür ein Jahr und eine Milliarde Euro genügen. | |
Denn die Coronakrise hat bestehende Verwerfungen im Bildungssystem nur | |
schärfer zutage treten lassen. Dass die häusliche Umgebung viel Einfluss | |
darauf hat, wie ein Kind in der Schule reüssiert, gilt nicht erst in Zeiten | |
des Zuhauselernens. | |
Der sechste Armuts- und Reichtumsbericht, mit dem sich die Bundesregierung | |
in der kommenden Woche befassen wird, zeigt die [4][soziale Ungleichheit im | |
Bildungssystem]. Drei von vier Kindern aus gut situierten und gebildeten | |
Elternhäusern besuchen ein Gymnasium und machen Abitur – in Familien, die | |
arm und wenig gebildet sind, wechselt nur jedes dritte Kind an diese | |
Schulform. | |
Auch wenn eine Schulstrukturreform politisch derzeit nicht zur Debatte | |
steht – es ist noch nicht zu spät, diese Krise auch als Chance für die | |
Bildung zu begreifen. Auf dem taz.lab regte der Schulleiter eines | |
Gymnasiums genau das an: Warum den Präsenzunterricht nicht für Austausch | |
und Begegnung nutzen, anstatt dort Wissen abzufragen? Warum nicht | |
Klassenarbeiten mit allen Hilfsmitteln schreiben? Und Zensuren als die | |
dominante Form der Leistungsbewertung überdenken? | |
Das geht nicht? Das ist die Realität! Die Biontech-Gründer:innen Özlem | |
Türeci und Uğur Şahin haben nicht jahrelang Formeln gepaukt und dann aus | |
dem Gedächtnis in vier Stunden einen Impfstoff entwickelt. Und eigentlich | |
wissen es auch die Bildungsminister:innen besser. 2017 | |
verabschiedeten sie eine Strategie zur Bildung in der digitalen Welt, in | |
der es heißt, dass sich das Lernen verändern werde – weniger reproduktiv | |
und mehr prozessorientiert. Da ist die Rede von inklusiver Bildung, Lernen | |
im Team und veränderten Prüfungsformaten. | |
Die Ideen für eine Bildungsrevolution sind also da. Um sie umzusetzen, | |
braucht es nicht nur mehr Geld. Es braucht zunächst den Mut, die richtigen | |
Schlussfolgerungen aus der Krise zu ziehen. | |
7 May 2021 | |
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## AUTOREN | |
Anna Lehmann | |
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