# taz.de -- Autorin über Schulreform: „Unser System stärkt Ungleichheit“ | |
> Melisa Erkurt über ein Bildungssystem, das Aufstieg verhindert – und | |
> warum die Schule der einzige Ort ist, an dem sich Islamismus bekämpfen | |
> lässt. | |
Bild: „Die Kinder brauchen Antworten auf Fragen, und die Schule hat keine Zei… | |
taz: Frau Erkurt, Sie sind als Autorin und Journalistin erfolgreich und | |
werden mit Ihrer Arbeit in Österreich und Deutschland von vielen | |
wahrgenommen. Warum bezeichnen Sie sich als Bildungsverliererin? | |
Melisa Erkurt: Weil ich es trotz und nicht wegen des Bildungssystems | |
geschafft habe. Es ist ein Zufall, dass ich eine Aufsteigerin bin. Mit | |
dieser Biografie, die ich habe, verliert man in Österreich und Deutschland | |
normalerweise. Bildung wird vererbt. Wenn man keine Eltern hat, die | |
Akademiker:innen sind, hat man es schwerer. | |
Dabei haben die Entwickler:innen des Corona-Impfstoffs, Uğur Şahin und | |
Özlem Türeci, gezeigt, dass auch Arbeiterkinder mit Migrationshintergrund | |
die Welt verändern können. | |
Wir müssen exzellent sein, um eine Daseinsberechtigung zu haben. Ich | |
bekomme für meine Arbeit heute auch Anerkennung. Aber unsere Eltern sind | |
doch genauso wertvoll für die Gesellschaft, die haben viel härter | |
gearbeitet als wir und bekommen keine Anerkennung. Das ist ungerecht. | |
Was arbeiten oder haben Ihre Eltern gearbeitet? | |
In Bosnien hat mein Vater eine Ausbildung als Elektriker gemacht und meine | |
Mutter als Apothekerin. In Österreich hat mein Vater dann als Reifenmonteur | |
gearbeitet, meine Mutter hat am Anfang geputzt. Seitdem ihre Ausbildung | |
dann anerkannt wurde, arbeitet sie in einer Apotheke. | |
Wenn es eine Ausnahme ist, dass Menschen mit Ihrer Biografie aufsteigen, | |
was unterscheidet dann die Ausnahmen von der Regel? | |
Ich habe dafür zwar nur anekdotische Evidenz, aber es gibt oft eine Person, | |
die an einen glaubt und einen unterstützt und damit den Unterschied macht. | |
Es ist fatal, dass der Bildungserfolg in reichen Ländern wie Deutschland | |
und Österreich von einer einzigen Person abhängt. Viele haben sie nicht. | |
Hatten Sie so eine Person? | |
Ja, eine Grundschullehrerin, die mich gefördert hat. | |
[1][Der Soziologe Aladin El-Mafaalani hat die These aufgestellt,] dass der | |
soziale Hintergrund für den Bildungsaufstieg entscheidend ist und nicht der | |
Migrationshintergrund. | |
Damit hat er recht. In Österreich arbeiten aber viele Menschen mit | |
Migrationshintergrund in schlecht bezahlten Jobs. Ich denke, dass seine | |
These auch wichtig ist, damit die Leute nicht denken, dass eine | |
Migrationsbiografie einen automatisch zum Bildungsverlierer macht; es ist | |
natürlich vielmehr eine Klassenfrage. Wobei auch Migrant:innen mit | |
Akademikereltern in der Schule diskriminiert werden, weil sie Mohammed oder | |
Fatima heißen. | |
[2][In Ihrem Buch „Generation Haram“] schreiben Sie auch über muslimische | |
Schüler, die islamistische Gesten zeigen. [3][Nach dem Mord an dem | |
französischen Lehrer Samuel Paty wird auch in Deutschland über solche | |
Schüler diskutiert.] | |
Der Mord an Paty hat mich schockiert. Vor einer Lesung nach dem Anschlag | |
hatte mir jemand auf Instagram geschrieben, Allah werde mich bestrafen für | |
das, was ich schreibe. Ich habe bei einer Lesung dann Ausschau gehalten, ob | |
ein Jugendlicher mit Bart im Publikum sitzt. Bei derselben Lesung habe ich | |
eine Stelle darüber vorgelesen, wie schwer es gerade muslimische Männer mit | |
Vorurteilen haben. Wenn ich als Pädagogin, selbst Muslima, die sich mit dem | |
Thema beschäftigt, solche Ängste habe, dann kann man sich ja vorstellen, | |
wie stark die Ressentiments in der Mehrheitsgesellschaft sind. | |
Offenbar gibt es neben jenen Ressentiments aber tatsächlich auch ein | |
Problem mit islamistischen Einstellungen unter jungen, migrantischen | |
Menschen. Das hat auch der Terroranschlag in Wien gezeigt. Zuletzt wurde | |
auch immer wieder von islamistischen Vorfällen an Berliner Schulen | |
berichtet. | |
Als Pädagogin war es für mich wichtig, zu unterscheiden zwischen | |
Jugendlichen, [4][die mit bestimmten Aussagen provozieren wollen], und | |
solchen, die wirklich daran glauben. Auf diejenigen, die das ernsthaft | |
artikulieren, kann man schneller einwirken. Als Pädagogin würde ich mich | |
auch eher um diejenigen sorgen, die nicht auffallen, die sich im Stillen | |
für sich alleine radikalisieren. Meine Erfahrung hat gezeigt, dass | |
Großmäuler oft positiv beeinflussbar sind. Die wollen meistens eine | |
Auseinandersetzung und jemanden, der ihnen erklärt, warum es nicht so ist, | |
wie sie es sagen. Es hilft dann, empathisch zu sein und auf das Gesagte | |
einzugehen. | |
Können Sie ein Beispiel geben? | |
Ich habe als Lehrerin oft das Thema Feminismus behandelt, manche | |
Jugendliche haben dann gesagt: O nein, schon wieder Feminismus! Ich habe | |
erklärt, warum ich das mache. Bei den positiv Beeinflussbaren hat man nach | |
einer Woche gemerkt, wie sie anfangen, anders mit Mitschüler:innen zu | |
reden. Leider gibt es zu wenige Möglichkeiten in der Schule, zu diskutieren | |
und zu lernen, andere Meinungen auszuhalten. Viele Kinder kennen das ja gar | |
nicht, sie sprechen nicht am Frühstückstisch mit den Eltern über Politik. | |
Sie müssen das in der Schule lernen. Es wird ihnen dort aber nicht | |
beigebracht, sie sitzen da und hören zu und müssen fragen, wenn sie auf die | |
Toilette gehen wollen. Sie werden nicht als ernst zu nehmende, mündige | |
Personen behandelt. Gleichzeitig erwarten wir von ihnen, dass sie sich wie | |
solche benehmen. | |
Also muss sich die Schule ändern? | |
Ja, wenn die Kinder etwas sagen, dann muss es einen Rahmen geben, in dem | |
man nachfragen kann: Wieso glaubst du das? Wieso glaubst du, dass Juden im | |
Geheimen die Welt regieren? Als Pädagogin muss man solche krassen Aussagen | |
aushalten, damit man auf sie eingehen und Schüler:innen Anhaltspunkte | |
dafür geben kann, warum das nicht stimmt. Wenn man zuhört, nachbohrt und | |
nicht gleich über sie drüberfährt, dann ist was möglich. | |
Aber können Pädagogen alleine gegen Ideologien vorgehen, die | |
gesellschaftlich tief verwurzelt sind? | |
In der Schule, die wir gerade haben, können sie das nicht. Aber in einer | |
Schule, in der demokratische Bildung oder mentale Gesundheit gelebt würden, | |
könnten sie das. Wichtig ist auch, dass die Kinder mitbestimmen können, | |
politische Auseinandersetzungen erleben, sich als Teil von Mehrheiten und | |
Minderheiten erfahren. Klassensprecher:innen reichen nicht. Die Kinder | |
haben Unsicherheiten, und der Unterricht nährt diese. Sie brauchen | |
Antworten auf Fragen, und die Schule hat keine Zeit, ihnen diese zu geben. | |
Dabei ist die Schule der einzige Ort, wo die Kinder viele Jahre hingehen | |
müssen. Wo soll man sie denn abholen, wenn nicht dort? | |
[5][Warum verhalten sich vor allem Jungen problematisch?] | |
Weil sie teils zu Hause vermittelt bekommen, das sie als Jungen das Sagen | |
haben. Sie sind aber auch diejenigen, die die schlechtesten Chancen haben. | |
Sie merken, dass die Mädchen an ihnen vorbeiziehen. Manche versuchen dann, | |
sich dadurch zu definieren, dass sie die Mädchen kleiner machen. Eine | |
migrantische Frau, sofern sie kein Kopftuch trägt, wird eher durchgelassen | |
nach oben, weil man keine Angst vor ihr hat, und das merken die Jungen. | |
Sind islamistische Sprüche im Klassenzimmer also Protest? | |
Die Erfahrungen beeinflussen das Verhalten natürlich. Aber es ist kein | |
Protest, mit dem Verhalten bestätigen sie ja die Stereotype. Sie machen | |
das, was die Gesellschaft von ihnen erwartet. Am Ende leiden aber sie | |
darunter, weil sie die schlecht bezahlten Jobs bekommen. Für die | |
Gesellschaft ist das kein Problem. Es braucht Menschen, die auf dem Bau | |
arbeiten. Unser System stärkt deshalb bewusst bestehende soziale | |
Ungleichheit. | |
Kann man sagen, dass sich die rassistische Klassengesellschaft so im | |
Stillschweigen reproduziert? Menschen, deren Eltern Arbeiter:innen sind, | |
werden Arbeiter:innen? Aufmerksamkeit bekommen die Ausnahmen, die auf | |
negative oder positive Weise aus dem Kreislauf ausbrechen, gewalttätig | |
werden oder sozial aufsteigen? | |
Ja, diejenigen, die ausbrechen, liefern dann die guten Geschichten, während | |
die anderen weiter das machen, was die Gesellschaft ihnen zutraut. Das ist | |
die Mehrheit. | |
Und wie gehen Sie als Journalistin mit der Gleichzeitigkeit von Rassismus | |
und islamistischen Einstellungen um? | |
Als migrantische Person mit entsprechendem sozialem Hintergrund, die | |
darüber schreibt, wird man viel strenger bewertet. Für die einen bin ich | |
eine Nestbeschmutzerin, für die anderen kann ich allein aufgrund meiner | |
Migrationsbiografie und meines muslimischen Backgrounds nicht objektiv | |
sein. Viele Kolleg:innen mit Migrationshintergrund tun sich das erst gar | |
nicht an und schreiben deshalb nicht mehr über Themen rund um Migration und | |
Integration. | |
Warum schreiben Sie weiter über diese Themen? | |
Ich weiß, dass ich einfach meinen Job mache, und habe mittlerweile ein | |
bestimmtes Selbstbewusstsein, das die Migrant:innengenerationen vor uns | |
nicht hatten. Wir sehen uns als Teil dieser Gesellschaft und haben das | |
Recht, sie zu kritisieren. | |
4 Jan 2021 | |
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## AUTOREN | |
Volkan Ağar | |
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