| # taz.de -- Wissenschaftler über Radikalisierung: „Lehrer sind überfordert�… | |
| > Der Osnabrücker Islamwissenschaftler Michael Kiefer untersucht Prozesse | |
| > der islamistischen Radikalisierung an Schulen. Er fordert mehr | |
| > Sozialarbeit. | |
| Bild: Ein Salafist verteilt in Hannover Koran-Ausgaben | |
| taz: Herr Kiefer, warum halten Sie islamistische Radikalisierung bei | |
| muslimischen Schülern für ein „gravierendes Problem“? | |
| Michael Kiefer: Wir beobachten das schon seit einigen Jahren. Natürlich ist | |
| es nicht an allen Schulen Alltag. Und die Fallzahlen sind überschaubar. | |
| Aber es kommt vor. | |
| Von was für Vorfällen reden wir da? | |
| Nehmen wir den Fastenmonat Ramadan. Da können nichtfastende muslimische | |
| Schüler durchaus unter Druck geraten. | |
| In welcher Form? | |
| Indem sie bezichtigt werden, sie seien keine richtigen Muslime. In anderen | |
| Fällen kommt es zu massiven Unterrichtsstörungen, weil Schüler ständig | |
| diskutieren wollen, dass die Muslime von den westlichen Staaten | |
| diskriminiert werden, dass ihnen Ähnliches widerfahren könnte wie den Juden | |
| im Dritten Reich. Das hatten wir in unserem Düsseldorfer Projekt „Clear“ | |
| mehrfach. Zuweilen kam es auch zu Tätlichkeiten, Sachschäden. | |
| Was war das Ziel des Projekts? | |
| Die Erprobung eines strukturierten Hilfeverfahrens bei Schülern mit | |
| Radikalisierungstendenzen. Die Lehrer sind mit solchen Fällen oft | |
| überfordert. In einer Integrationsklasse hatten wir einen | |
| afghanischstämmigen Schüler, der den Koran verteilt hat, für die höchst | |
| problematische Salafisten-Aktion „Lies!“. Es stellte sich heraus, dass er, | |
| des Deutschen kaum mächtig, gar nicht wusste, mit welchen Leuten er sich da | |
| eingelassen hatte, dass das einen islamistischen Hintergrund hat. Als er es | |
| erfuhr, hat er sich sofort von ihnen zurückgezogen. | |
| Oft denkt man ja, wir sind gesamtgesellschaftlich so in Extremen verhärtet, | |
| dass keine Kommunikation mehr möglich ist. Was Sie sagen, klingt dagegen | |
| optimistisch. | |
| Die meisten schulischen Problemlagen lassen sich gut bearbeiten. Mit | |
| pädagogischen Mitteln, sodass die Interessen des jeweiligen Schülers | |
| gewahrt bleiben. Er will nicht von der Schule fliegen, also kooperiert er. | |
| Bei dem „Clear“-Projekt ist das in fast allen Fällen gelungen. Das heißt | |
| nicht, dass die Leute sich vollkommen verändert haben, aber zumindest gab | |
| es keine weiteren Vorkommnisse. Mit einem Schulverweis ist meist nichts | |
| gewonnen. Am neuen Ort geht das Ganze von vorne los, das Problem selbst ist | |
| ja nicht gelöst. | |
| Schule ist ein wichtiger Ort für Radikalisierung, aber auch für | |
| Radikalisierungsprävention? | |
| Schule kann beides sein. Wenn wir Schüler haben, die agitieren, die | |
| Menschen anderer Religionen oder Weltanschauungen herabwürdigen, | |
| verächtlich machen, kann Schule ein Ort der Radikalisierung sein. Aber | |
| zugleich ist sie ein Raum, wo wir alle erreichen. Es ist wichtig zu sehen, | |
| was da läuft, wie da geredet wird. | |
| Sie fordern eine Stärkung der Schulsozialarbeit? | |
| Viele Schulsozialarbeiter sind für bis zu 1.000 Schüler zuständig. Das ist | |
| viel zu viel. Da bleibt höchstens Zeit, akute Probleme abzuarbeiten, zu | |
| reagieren. Was wir aber brauchen, sind Ansprechpartner, die mit den | |
| Schülern in kontinuierlicher Beziehung stehen, auf dem Pausenhof, auf den | |
| Fluren, die sie aktiv ansprechen, nicht nur im Sinne ihrer Pflichtaufgaben. | |
| Da ist noch viel Luft nach oben. | |
| Was muss ein solcher Sozialarbeiter können? | |
| Er muss mit Konfliktsituationen umgehen können, mit den Phänomenbereichen | |
| des Extremismus vertraut sein. Er muss die Motivlagen kennen. Und er muss | |
| über moderne Methoden verfügen. Heutige Sozialarbeiter gehen ja nicht hin | |
| und sagen: Hey, du, das darfst du nicht! Sie sagen: Hey, du weißt ja, dein | |
| Verhalten führt zu Problemen, was denkst du, was du tun kannst, damit das | |
| anders wird? Sie machen den Schüler zum Experten seiner eigenen | |
| Problematik. | |
| Haben Sie sich im Rahmen des Projekts „Clear“ nur mit islamistischem | |
| Extremismus befasst? | |
| Nein, mit jeglicher Form von Extremismus. Wir hatten zum Beispiel einen | |
| rechtsextremen Schüler, der einen Muslim bezichtigt hat, einen Anschlag an | |
| der Schule zu planen. Das Ganze stellte sich dann als Erfindung des Rechten | |
| heraus. | |
| Es gibt ja Bundesprogramme zur Extremismusprävention wie zum Beispiel | |
| „Demokratie leben!“. Was bringen solche Programme? | |
| So etwas ist nur sinnvoll, wenn eine enge Verzahnung mit dem Schulalltag | |
| stattfindet. Sagen wir mal: Ich will bei mir den Phänomenbereich | |
| Salafismus-Prediger aufklären. Dann kann ich mir natürlich ein | |
| entsprechendes Expertenprojekt in die Schule holen. Aber wenn es niemanden | |
| gibt, der das schulintern verstetigt, ist das nicht nachhaltig. | |
| Wie steht es um die Demokratie an den Schulen? | |
| Mein Eindruck ist: Wir erleben an einigen Schulen eine Erosion | |
| demokratischer Werte. Der Respekt für sie schwindet. | |
| 27 Feb 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Harff-Peter Schönherr | |
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