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# taz.de -- Pädagoge über muslimische Jungs: „Ja, der Titel ist reißerisch…
> Jungs und Eltern leiden unter patriarchalen Strukturen. Ahmet Toprak über
> Erziehung, überlieferte Rollenbilder und Aufstiegschancen.
Bild: Ahmet Toprak, Autor von „Muslimisch, männlich, desintegriert“
taz: Herr Toprak, in Ihrem neuen Buch attestieren Sie muslimischen Jungen,
dass sie häufiger die Schule abbrechen, kriminell werden, sich radikalen
Strömungen wie dem Salafismus anschließen. Das führen sie auf die Erziehung
zurück – wie kommen Sie zu dieser These?
Ahmet Toprak: Ich sage nicht, dass das bei allen Muslimen so ist, sondern
nur in einem bestimmten Milieu, bei den Bildungsbenachteiligten. Und da hat
es etwas mit patriarchalen Strukturen zu tun. Der Begriff „muslimisch“ kam
dabei nicht von mir. Die deutsche Pisa-Studie sagt, der neue
Bildungsverlierer sei muslimisch, aus der Großstadt und männlich. Ich habe
mich gefragt, woran liegt das? Die Benachteiligungen, die aus der
Gesellschaft kommen, gelten für muslimische Mädchen genauso. Deswegen fand
ich, dass diese Diskriminierungseffekte als Erklärung nicht ausreichen. Ich
will damit nicht sagen, dass sie nicht da sind.
Was ist also los mit den Jungs?
Meine These ist, dass die Eltern ihre Söhne so erziehen, dass sie auf die
Gesellschaft nicht vorbereitet sind, vor allem nicht darauf, was in der
Schule verlangt wird. Ordentlich, termingerecht, leise, das sind Dinge, die
die Eltern den Mädchen beibringen, aber mit einer anderen Intention: Sie
sollen eine gute Mutter und Hausfrau werden. Wenn sie Fehler machen, werden
sie reglementiert. Der Junge dagegen darf Fehler machen. Er soll sich die
Gefahren draußen ansehen. Er darf aufmüpfig sein, der Mutter widersprechen,
aber dem Vater nicht. Das sind Dinge, die in der Schule nicht erwünscht
sind. Weil das Mädchen im Vergleich zu Jungen stärker reglementiert wird,
[1][möchte das Mädchen sich durch den Bildungsaufstieg mehr Freiheiten
erkämpfen.] Diesen Druck hat der Junge nicht. Gleichzeitig sind die
Ansprüche an den Jungen sehr hoch. Er soll später die Familie ernähren,
Ausbildung, Studium, am besten Arzt werden. Das hat mit dem Erziehungsstil
zu tun. Wenn die Eltern es besser wüssten, würden sie es anders machen.
Was passiert in Deutschland mit den überlieferten Rollenbildern?
In traditionellen Kontexten sollen die Kinder anhand von Rollenbeobachtung
lernen. Sie schauen, was der Vater macht, was die Mutter. Dementsprechend
verhalten sie sich. In der Türkei auf dem Land wird der Junge vom Vater
mitgenommen, schon mit sieben oder acht. Er beobachtet den Vater, wie er
sich verhält, wenn er Handel treibt oder das Feld bearbeitet. So soll er
sich in die Geschlechterrolle einfinden. In Deutschland ist der Vater oft
nicht da, weil er arbeitet, arbeitslos ist, vielleicht depressiv, trinkt.
Zudem sind viele Väter ihren Söhnen unterlegen. Der Junge kann besser
Deutsch, er weiß, wie das Leben in Deutschland funktioniert. Der Vater kann
nicht als Vorbild funktionieren, während gleichzeitig die traditionelle
Vorstellung vom Vater da ist, an dem der Sohn sich orientieren soll.
Wenn man den Titel Ihres Buches liest, hat man ein ganz anderes Buch vor
Augen. Wie kommt das?
[2][Ja, der Titel ist reißerisch.] Der Begriff „muslimisch“ ist
kritikwürdig, darunter fallen ja Syrer, Ägypter etc., es ist ein
Sammelbegriff. Und bezieht sich auf die Herkunftsregion, nicht Religion.
Den Schwerpunkt habe ich bewusst auf die Eltern gelegt. Weil wir immer
andere Erklärungen hören, wollte ich den Elternaspekt mal genauer in den
Vordergrund bringen. Vor allem entlaste ich damit die Jungen. Eigentlich
sind sie das Opfer des Patriarchats.
In Ihrem Buch beschreiben Sie auch, wie die Erziehung die jungen Männer
anfällig macht für radikale Strömungen. Warum ist das so?
Männlichkeitsbilder sind differenzierter geworden: Ein Mann kann
kritikfähig sein, Gefühle zeigen und ist trotzdem ein Mann. Jetzt aber
kommt eine Gegenbewegung. Die traditionelle, hegemoniale Männlichkeit setzt
sich noch einmal durch. Das sieht man an Trump, an Erdoğan, an Putin. Bei
denen sind die Rollen deutlich: Ich habe das Sagen, wenn du auf meiner
Seite bist, bist du gut, wenn du auf der anderen Seite bist, bist du
schlecht. Junge Männer, die in der Gesellschaft keine Anerkennung finden,
mit ihrer Männlichkeitsrolle nicht zurecht kommen, sind anfällig für
Schwarz-Weiß-Denken. Im Salafismus ist alles schwarz-weiß. Bei Erdogan
auch. Da finden die Jungen traditionelle Männlichkeit, an der sie sich
orientieren können. Ich war jahrelang tätig in der Gewaltprävention. Die
funktioniert nicht, wenn ich versuche, jemanden als Individuum zu retten.
Ich muss den sozialen Rahmen mitberücksichtigen, damit es nachhaltig ist.
Ihre Eltern sind Aleviten aus der Türkei. Sie haben dort noch die
Grundschule besucht. Weshalb ist der Bildungsaufstieg bei Ihnen und Ihren
Geschwistern gelungen?
Meine Eltern waren in der Lage, sich zu ändern. Meine Mutter hat in der
Türkei noch Kopftuch getragen. Wenn man in ein anderes Land geht, muss man
sich öffnen. Man kann nicht verlangen, dass man die strukturelle
Integration bekommt, also Beruf, Ausbildung etc., sich sozial aber
abkapselt. Niemand verlangt von einem, seine Religion oder Kultur
abzulegen. Meine Eltern haben sich schwer getan, sie haben Jahre gebraucht,
aber da wo es nötig war, haben sie sich angepasst. Das Wichtigste, haben
sie gesagt, ist Bildung. Aber sie konnten nicht sagen: Bildung ja – aber
die Tochter darf nicht zur Klassenfahrt. Meine Eltern haben uns
gleichbehandelt. Was verboten war, war unabhängig vom Geschlecht verboten.
Keine Sonderwünsche für uns Söhne. Das hat uns gutgetan.
Was muss konkret getan werden?
Wir müssen Migranten positiv sehen: Sie sind keine Belastung, sondern eine
Bereicherung. Jahrelang haben wir Migranten sich selbst überlassen, weil
wir davon ausgingen, dass sie sowieso wieder gehen. Die Politik war darauf
ausgerichtet, sie loszuwerden. 30, 40 Jahre später ist uns aufgefallen, die
sind gar nicht integriert. Deutschkurspflicht gibt es erst seit 2005. Dafür
dass wir gar nichts gemacht haben, läuft es ganz gut. Die dritte Generation
der Migranten sagt jetzt: „Ich bin Teil der Gesellschaft, ich möchte
teilhaben.“ Wir dürfen diese Generation nicht an Salafisten oder
Nationalisten verlieren. Wenn die jungen Männer Bildungsverlierer bleiben,
kann es zu sozialen Unruhen kommen. Denn Bildungsverlierer heißt auch
sozialer Abstieg.
Wie erreicht man die Jungs?
Zu sagen, diese Jungs sind halt so, ist falsch. Warum sind sie so? Man muss
den Jungen mit Offenheit begegnen und sie mitnehmen, damit sie die
freiheitlichen, demokratischen Werte nicht als Bedrohung, sondern als
Chance wahrnehmen. Die Welt ist komplex. Sie müssen lernen, mit dieser
Komplexität umzugehen. Die Aufgabe von Pädagogen ist es, diese Komplexität
zu vermitteln, damit sie besser mit ihr zurechtkommen. Wir müssen den
Jungen sagen, auch ich bin manchmal überfordert, das ist keine Schwäche.
Und das heißt nicht, dass ich zum Extremisten werde.
Und wie erreicht man die Eltern? Die lesen ja nicht Ihr Buch.
In der sozialen Arbeit gibt es den Begriff „aufsuchende Arbeit“. Ich muss
Eltern dort aufsuchen, wo sie sind. Ich muss zu ihnen nach Hause, in ihre
Stadtteile und Moscheen gehen. Warum erreichen die Türkisch sprechenden
Sozialarbeiter die Migranten besser? Weil sie das wissen. Wir haben in
Deutschland in der sozialen Arbeit gelernt: Ich schreibe einen Brief und
hoffe, dass sie kommen. Die deutschen Bildungsbürger kommen auch. Aber
nicht alle sind deutsche Bildungsbürger. Das Problem ist auch, dass die
Eltern die Schule falsch einschätzen. Sie denken: Wenn ich mein Kind in der
Schule abgebe, muss der Lehrer dafür sorgen, dass es ein guter Anwalt wird.
Viele Eltern kommen nicht in die Elternsprechstunde, weil sie sagen, das
ist Schulangelegenheit, was habe ich da verloren. Ich kann nicht so gut
deutsch, ich blamiere mich. Manche Lehrer interpretieren das wiederum als
Desinteresse. Die Lösung ist, die Eltern aufzusuchen. Das ist Aufwand.
Dafür müssen wir mehr Sozialarbeiter in die Schulen schicken oder die
Lehrer besser ausbilden.
Können Sie ein Beispiel nennen, wo das funktioniert?
Ich kenne eine Lehrerin an einer Gesamtschule, an der vor allem muslimische
und migrantische Kinder sind. Die Lehrerin hat es geschafft, dass alle
Mädchen mit ins Schullandheim fahren: Sie hat die Eltern besucht und
erzählt, was ist das, ein Schullandheim. Viele der Eltern verstehen nicht,
was soll mein Kind da? Eine Woche wegfahren. Lernt man da besser Englisch,
Mathe, Deutsch? Nein. Die Eltern denken, Schule ist: Faktenwissen. Soziale
Kompetenzen hingegen, Gruppenzugehörigkeit wird als nicht so wichtig
angesehen. Die Lehrerin hat erklärt, was bei einem Schullandheimaufenthalt
passiert. Dann hat sie gefragt, was ist Ihre Angst: Sex und Alkohol? Ich
sorge dafür, dass das nicht passiert. Die Kinder sind unter 16, die dürfen
keinen Alkohol trinken, ich werde das kontrollieren. Haben Sie Angst, dass
ihre Töchter sexuelle Kontakte haben? Das wird nicht passieren, wir haben
getrennte Schlaftrakte. Die Eltern haben dann dieser Lehrerin ihre Kinder
anvertraut: Weil sie eine Beziehung zu ihr aufgebaut haben.
14 Dec 2019
## LINKS
[1] /Rapperin-Ebow-ueber-Identitaet/!5621512&s=aleviten/
[2] https://www.ullstein-buchverlage.de/nc/buch/details/muslimisch-maennlich-de…
## AUTOREN
Ronya Othmann
## TAGS
Bildung
Integration
Patriarchat
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
Islamismus
Zweisprachigkeit
Lesestück Interview
Schwerpunkt Rassismus
Islam
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