# taz.de -- Soziologe über Schule und Corona: „Es geht auch um Lebenschancen… | |
> Die Pandemie verschärft die Probleme von Kindern aus sozial | |
> benachteiligten Familien, sagt Aladin El-Mafaalani. Dabei gäbe es | |
> praktische Lösungen. | |
Bild: In der schulfreien Zeit werden die Kinder auf ihre Herkunft zurückgeworf… | |
taz: Herr El-Mafaalani, wie würden Sie die Zeit während Corona erleben, | |
wenn Sie Schüler wären? | |
Aladin El-Mafaalani: Dass der Unterricht ausfällt, wäre für mich kein | |
Problem. Der Shutdown aber schon, weil ich als Schüler nur zum Schlafen und | |
Essen nach Hause gekommen bin und sonst immer unterwegs war. | |
Wie finden Sie [1][die Debatte über Bildung in Zeiten von Corona]? | |
Es wird besser. Es wird mehr über die Kinder und Jugendlichen selbst | |
gesprochen. Mittlerweile kommen benachteiligende Faktoren ins Spiel, hier | |
und da hört man auch, dass es um Kinder in Armut geht. Noch vor ein paar | |
Wochen wurde nur zwischen Wirtschaft und Gesundheit abgewägt. Zwischen der | |
Situation von Älteren, Familien und Kindern abzuwägen, fand kaum statt. Das | |
fand ich schon irre. Gerade diejenigen, die am wenigsten durch das Virus | |
bedroht sind, wurden am stärksten durch die Einschränkungen belastet. Es | |
geht um die Gesundheit der Kinder, aber auch um ihre Lebenschancen. | |
Die [2][Schulen öffnen nach und nach]. Wie funktioniert die Rückkehr? | |
Man muss sich schon fragen, warum so extrem auf die Abschlüsse und auf | |
Abschlussklassen geschaut wurde. Ich finde es sehr schade, dass | |
Grundschulkinder noch über einen langen Zeitraum wohl nur einmal in der | |
Woche zur Schule gehen werden. Das ist zwar besser als gar nichts. An dem | |
einen Tag in der Woche kann man ein paar Sachen organisieren, damit man | |
dann ein bisschen strukturierter von zu Hause aus arbeiten kann. Aber man | |
hätte es auch so organisieren können, dass alle jeden Tag kommen, dann aber | |
eben nur zwei Stunden. Dass viele Lehrkräfte sehr kurzfristig | |
Fernunterricht gestalten sollten, ohne über die Lebensverhältnisse der | |
Kinder und die Voraussetzungen in den Familien Bescheid zu wissen, war ein | |
entscheidendes Problem. | |
Es wird viel [3][über digitale Möglichkeiten des Lernens während Corona | |
diskutiert]. Sie schreiben in Ihrem Buch über die besondere Bedeutung der | |
Schule als Ort für Kinder aus sozial benachteiligten Verhältnissen. | |
Dass die Schule nicht stattfindet, verschärft die Ungleichheit. Ferien sind | |
ungünstig im Hinblick auf Kompetenzunterschiede je nach | |
Schichtzugehörigkeit. Die Ferien sind aber nur sechs Wochen lang. Wenn wir | |
sie jetzt über ein paar Monate haben, könnte es deutlich schlimmer werden. | |
In der schulfreien Zeit werden die Kinder auf ihre Herkunft zurückgeworfen. | |
Sie erleben nichts anderes mehr. Es gibt Kinder, die leben in einem total | |
anregungsreichen Umfeld, andere nicht. Das macht den Unterschied. | |
Dieses Umfeld bestimmt den Habitus, ein Konzept des französischen | |
Soziologen Pierre Bourdieu, das Sie verwenden. Wie definieren Sie es? | |
Wie lange habe ich Zeit, es zu definieren? | |
So kurz wie möglich. | |
Habitus ist gelernte soziale Mentalität. Die Art und Weise, wie man die | |
Welt erlebt, ein Muster, das das Denken und Handeln prägt. | |
„Eignung, Neigung und Wille des Kindes zur geistigen Arbeit insgesamt“ sind | |
laut Kultusministerkonferenz ein Kriterium, wenn Lehrer:innen in der | |
Grundschule Empfehlungen für die weiterführende Schule aussprechen. Sie | |
zitieren das. Bourdieu sagt über Habitus: „Wer den Habitus einer Person | |
kennt, der spürt oder weiß intuitiv, welches Verhalten dieser Person | |
verwehrt ist.“ Diese Sätze klingen ähnlich. | |
Mit Bourdieu gesprochen könnte „Eignung, Neigung und Wille zur geistigen | |
Arbeit“ bedeuten: Bewertet den Habitus oder bewertet die soziale Herkunft | |
mit. Für die meisten Lehrer:innen ist das aber nicht so relevant, wenn die | |
Kinder nur Einsen haben. Aber in Grenzfällen … | |
… die es gibt, bekommen manche Kinder dann eine Empfehlung für die | |
Realschule statt für das Gymnasium. | |
Es gibt drei soziale Faktoren, die über den Bildungsweg mitentscheiden. | |
Zunächst Familie und Umfeld des Kindes, das soziale Milieu. Als Zweites das | |
Bildungssystem und die Verzerrungen in der Bewertung und der Empfehlung. | |
Aber der dritte Punkt fällt stärker ins Gewicht als das Urteil von | |
Lehrer:innen: die Entscheidung der Menschen selbst. In den meisten | |
Bundesländern entscheiden die Eltern relativ frei. Und sie entscheiden | |
sich, wenn sie privilegiert sind, regelmäßig für das Gymnasium, unabhängig | |
davon, was die Empfehlung ist; Eltern aus benachteiligten Milieus, gerade | |
wenn sie in sehr prekären Verhältnissen leben, entscheiden sich | |
überproportional häufig gegen ein Gymnasium trotz Gymnasialempfehlung. | |
Dieses sozial verzerrte Entscheidungsverhalten überträgt sich später auf | |
die Kinder. Diejenigen, die Abitur machen und aus benachteiligten Familien | |
stammen, trauen sich häufiger nicht zu studieren. Wenn sie studieren, | |
brechen sie häufiger ab. Wenn sie das Studium schaffen, streben sie | |
seltener eine Promotion oder eine berufliche Karriere an, etwa weil sie | |
sich das nicht zutrauen oder weil sie sich in diesem Milieu nicht | |
wohlfühlen. Das heißt, es gibt soziale Filter, und die haben ganz viel | |
damit zu tun, dass die Menschen ihre Herkunft in sich tragen. Den Habitus. | |
Dieser Habitus ist also etwas Hartnäckiges, das sich nicht verändern lässt? | |
Man müsste sich Mühe geben, damit sich so ein Habitus gar nicht verfestigt. | |
Kinder in armen Verhältnissen verhalten sich wie Insolvenzverwalter. Sie | |
verhalten sich klug, sie machen alles richtig. Ein Insolvenzverwalter muss | |
kurzfristig und funktional denken, Knappheitsprobleme lösen. So müssen auch | |
die Kinder auf Nummer sicher gehen, sie können kein Risiko eingehen. Am | |
Ende tun sie immer das Gleiche. Sie sind nur dann motiviert, wenn sie genau | |
wissen, wofür das gut ist, was sie lernen. Bildung ist etwas, bei dem man | |
nicht weiß, was am Ende rauskommt. | |
Das Kind, das so aufwächst, wird so ein Denkmuster kaum los. Irgendwann | |
gehört das zu seinem Charakter, seiner Mentalität. Man kann aber etwas | |
dagegen tun, wenn in den Schulen alles erlebbar wird, was die Welt zu | |
bieten hat, Kunst und Kultur, Handwerk, Ernährung. Die Schule ist die | |
einzige Chance für arme Kinder, ihre Perspektive zu erweitern. Aber nur | |
dann, wenn es in der Schule nicht nur um Betreuung geht, sondern um Bildung | |
im weitesten Sinne, bis in den späten Nachmittag. | |
Also eine verallgemeinerte Ganztagsschule? | |
Es geht auch nicht nur um ein bisschen Ganztag. Wir müssen aufhören, Schule | |
nur als einen Ort zu begreifen, wo Lehrer:innen arbeiten. Sie sind nur eine | |
Säule. Es braucht gleichberechtigte, weitere Säulen, Menschen, die nicht | |
Lehrer:innen sind und sich um die Kinder kümmern, multiprofessionelle Teams | |
mit verschiedensten Expertisen, Vereinsstrukturen. | |
Und was passiert dann mit jenen, die durch eine solche Schule den Aufstieg | |
schaffen? | |
Bildung hat einen sehr ambivalenten Charakter für Aufsteiger. Sie | |
distanzieren sich sozial von ihrem Herkunftsmilieu, auch innerlich. Sie | |
können sich entsprechend auch von den eigenen Eltern entfremden. Dinge | |
verlieren an Bedeutung und werden entwertet, die in der Kindheit und Jugend | |
wertvoll waren. Und die Menschen, die einen lieb haben, die einen zu dem | |
haben werden lassen, was man ist, verlieren ebenso an Bedeutung. Man hat | |
sich weniger zu sagen. Man versteht sich nicht mehr blind, obwohl Familie | |
ja eigentlich ein solidarisches Band ist, wo man sich blind versteht. | |
Aufsteiger erleben ihren Aufstieg zumindest zwischenzeitlich als sehr | |
ambivalent. Sie verlieren die Nähe zum Herkunftsmilieu, finden aber nicht | |
gleichzeitig eine neue soziale Heimat. Diese Zwischenposition kann sehr | |
anstrengend sein. | |
Also bleiben Kinder aus Arbeiter:innenfamilien selbst dann Verlierer:innen, | |
wenn sie es schaffen, aufzusteigen? Denn dieser Schmerz über den Verlust | |
des Alten bleibt ja für immer. Und wahrscheinlich auch das Gefühl, trotz | |
aller Bildungserfolge im Neuen nicht so richtig anzukommen. | |
Den Schmerz kann man nicht ganz auffangen. Aber eine Schule, wie ich sie | |
vorschlage, könnte den Kindern helfen, bessere Bezugspunkte zu bekommen. | |
Sie würde systematisch auf den Aufstieg vorbereiten. Vieles würden die | |
Kinder nicht zum ersten Mal mit 20 erleben. Gerade wenn man in der Kita und | |
in der Grundschule in die Offensive geht, dann gibt es die Möglichkeit, | |
dass Kinder bestimmte Dinge nicht internalisieren und sich bei ihren | |
Entscheidungen später nicht genauso verhalten wie ihre Eltern. Indem man | |
die Erfahrungshorizonte von Kindern und Jugendlichen etwas stärker vereint, | |
könnte das vielleicht auch langfristig den gesellschaftlichen Zusammenhalt | |
stärken. | |
23 May 2020 | |
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## AUTOREN | |
Volkan Ağar | |
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