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# taz.de -- Gesundheit als Klassenfrage: Armut macht krank
> Die Veddel ist einer der ärmsten Stadtteile von Hamburg. Ein
> Forschungsprojekt zeigt, wie sich das auf die Gesundheit der Menschen
> auswirkt.
Bild: Präsentation von Ergebnissen auf der Veddel: Die Bewohner*innen haben se…
Hamburg taz | Auf der [1][Veddel] ist das Leben kürzer. Im Schnitt sterben
Bewohner*innen fast elf Jahre früher als Menschen in reicheren
Hamburger Vierteln.
Nun hat ein [2][Forschungsprojekt] erstmals umfangreiche Daten zur
Gesundheit der Veddeler*innen erhoben. Am Freitag wurden erste
Ergebnisse vorgestellt.
„Die Umfrage hat gezeigt, dass die subjektive Gesundheit der Menschen hier
schlechter ist als im bundesdeutschen Durchschnitt“, sagt Philipp Dickel
von der Poliklinik Veddel. Laut der Umfrage sind die häufigsten
Erkrankungen Chronische Rückenleiden, Depressionen, Bluthochdruck, Asthma
Bronchiale und Diabetes.
Teilweise kommen diese Erkrankungen auf der Veddel deutlich häufiger vor
als im Bundesdurchschnitt. Die Depressionsbelastung steche allerdings
besonders hervor. „Das ist eine krasse Erkenntnis, vor allem weil es im
[3][Hamburger Süden] kaum psychotherapeutische Angebote gibt“, sagt Dickel.
Um mehr über die Bedarfe der Menschen zu erfahren, hat die [4][Poliklinik]
die Befragung initiiert, in Zusammenarbeit mit der Hochschule für
Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW) und der Nachbar*innenschaft. Über
zwei Jahre haben Mediziner*innen und Wissenschaftler*innen
zusammen mit Menschen aus dem Viertel wichtige Themen identifiziert und
Fragebögen in fünf verschiedenen Sprachen entwickelt.
Es ist ein besonderes Projekt, in dem Akteur*innen aus der Wissenschaft,
der Praxis und dem Stadtteil gemeinsam forschen. „Auf diese Weise Community
Based Healthcare zu organisieren ist tatsächlich bundesweit einmalig“, sagt
Silke Betscher. Als Professsorin für Gemeinwesenarbeit und Macro Social
Work an der HAW hat sie das Forschungsprojekt wissenschaftlich begleitet.
Geschulte Stadteilforscher*innen, die selbst auf der Veddel wohnen, haben
im Winter 2022 sechs Wochen lang an jeder Tür geklingelt. „Wenn niemand
aufgemacht hat, kamen sie ein zweites Mal“, sagt Dickel. Am Ende wurde ein
Viertel aller Haushalte befragt. Bei solchen Studien ist das eine hohe
Antwortrate. Sie könnte sich dadurch erklären lassen, dass an allen
Schritten der Studie Bewohner*innen des Stadtteils selbst beteiligt
waren, sagt Betscher.
Eine von ihnen ist Sati Tunç. Nach einer Schulung hat sie als
Stadtteilforscherin Haushalte besucht und mit Menschen den Fragebogen
ausgefüllt. Tunç ist auf der Veddel aufgewachsen – eine gute Voraussetzung
für’s Fragenstellen. „Hier kennen mich die Leute, ich kenne die, da ist
Vertrauen da“, sagt sie.
Als Tunç vor 45 Jahren als Kind mit ihren Eltern auf die Veddel gezogen
ist, habe es dort noch viel mehr Geschäfte und Infrastruktur gegeben als
heute. „Wir wollten einiges wieder in Bewegung bringen“, sagt sie über ihre
Motivation am Projekt mitzumachen.
Es ging bei der Studie nicht nur um die Gesundheit der Menschen im Viertel,
sondern auch um Bedingungen, die krank machen können. Daher behandelte die
Umfrage neben Zugängen zu Gesundheitsversorgung auch die Themen Wohnen und
Diskriminierung.
Zwei Drittel der Befragten haben angegeben, im Alltag Diskriminierung
aufgrund der Herkunft oder des Geschlechts zu erleben. Auch dieser Wert
liegt über dem bundesdeutschen Durchschnitt. Ihre Wohnsituation beschrieben
über 70 Prozent der Menschen als belastend.
„Die Mietbelastungsquote auf der Veddel ist hoch“, sagt Philipp Dickel.
Mieten seien dort zwar noch niedriger als anderswo in [5][Hamburg], aber
Einkommen auch. Laut der Umfrage geht bei einem Drittel der
Veddeler*innen mehr als die Hälfte ihres Nettoeinkommens für die Miete
drauf. „Miete ist ganz klar ein Armutstreiber“, sagt Dickel.
Zudem klagten viele der Befragten über Schimmel in der Wohnung. Studien der
Weltgesundheitsorganisation deuten darauf hin, dass Schimmelbefall in
Wohnräumen das Risiko für Allergien, Asthma und andere Atemwegserkrankungen
erhöht.
Der Einfluss der Wohnbedingungen auf die Gesundheit soll auch über die
Umfrage hinaus untersucht werden. „Wir sind dabei, ein Stadtteillabor
aufzubauen, in dem diese Themen dauerhaft und nachhaltig weiter untersucht
werden“, sagt Silke Betscher von der HAW. Zunächst kann die Forschung bis
Oktober über den Citizens Science Preis 2023 finanziert werden.
## Nicht alles ist schlecht auf der Veddel
Für die Arbeit der Poliklinik sind die ersten Umfrageergebnisse schon jetzt
hilfreich. „Aus meiner hausärztlichen Perspektive ist das ein Riesensprung“
sagt Philipp Dickel. Auch wenn die Auswertung der Umfrage gerade erst
begonnen hat, gebe es „nun erstmals Zahlen für das, was man vorher aus
Erfahrung geahnt hat“, sagt Dickel.
Die Umfrage hat aber auch gezeigt: es ist nicht alles schlecht auf der
Veddel. Der überwiegende Teil der Befragten hat angegeben, sich im Viertel
wohl zu fühlen. Tunç sagt, dass die Veddel so klein ist, habe Vorteile:
„Wenn es mir schlecht geht, gehe ich auf die Straße und klöne mit
Bekannten, schon geht's mir besser“.
Zudem könnten auch die Daten zu Belastungen bestärkende Wirkung haben, sagt
Tunç. Etwa, wenn es Menschen zeige: „Wir stehen nicht alleine da mit
unseren verschimmelten Wohnungen. Ein Drittel hat das gleiche Problem.“
Forschung sei immer politisch, betont Dickel von der Poliklinik. „Daten
sind eine Waffe, um besser auf Missstände aufmerksam machen zu können.“
12 Dec 2023
## LINKS
[1] /Corona-und-soziale-Ungleichheit/!5771211
[2] https://www.veddel-wie-gehts.de/
[3] /Fahrscheinkontrollen-in-Hamburg/!5904897
[4] https://www.poliklinik1.org/
[5] /Jenseits-des-Immobilienmarkts/!5973342
## AUTOREN
Amira Klute
## TAGS
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Gesundheitspolitik
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